Revolution und Gegenrevolution

17. Mai 2017

100 Jahre Russische Revolution. Stalinistische und bolschewistische Ideologen wie bürgerliche Kommentatoren sind sich im Rückblick einig: Revolution und Bolschewismus – das ist eins. Dagegen macht dieser Text von Detlef Hartmann deutlich, dass der Prozess der sozialen Revolution von der jakobinisch-sozialdemokratischen Modernisierungselite unabhängig war, sich vielmehr die Revolution unter der Diktatur der bolschewistischen Partei in eine Gegenrevolution verkehrte. Auch heute noch ist es wichtig den Blick zu schärfen für etwaige revolutionäre Basisprozesse auf der einen und neue Machteliten auf der anderen Seite, die sich lediglich eines Umwälzungsprozesses bemächtigen, um ihn schließlich in neue Formen der Unterwerfung und Ausbeutung zu überführen.

Ein Freund der klassenlosen Gesellschaft

 

Revolution und Gegenrevolution

Wenn ich hier den revolutionären Prozess des Jahres 1917 und die vom „Roten Oktober“ ausgehende Gegenrevolution nachzeichne, dann ist zunächst eine Vorbemerkung zu den Veränderungen ihrer Rezeption und Geschichtsschreibung am Platz. Bis zur Öffnung der Archive unter „Glasnost“ wurde die geschichtliche Wirklichkeit unter einem dichten Mythenteppich verborgen gehalten. Er war aus den geschichtspolitischen Werkstätten der Sowjetunion, vor allem unter dem Diktat der Ende der 30er Jahre von Stalin verordneten offiziellen Darstellungen gewebt und über ML-orientierte Geschichtspflege und Propaganda in alle Länder getragen worden. Mit der Öffnung der Archive wurde eine Fülle von Material erschlossen, das den Mythenteppich allmählich auflösen half. Das gilt besonders für die von 1918 bis 1922 gegen die revolutionären Bäuer*innen und Arbeiter*innen entfesselte Gewalt.

Revolution

Die Revolution des Jahres 1917 vollzog sich wesentlich in drei Strängen. In der Revolution der Bäuer*innen im Frühjahr und Herbst, in der damit korrespondierend verlaufenden Machtübernahme in der Produktion durch die Fabrikkomitees (auch „Räte“ genannt) und schließlich durch die Soldatenräte in der Armee. An allen waren auch bolschewistische Arbeiter*innen beteiligt, sie wurden aber nicht von ihnen bestimmt. Die revolutionäre Explosion des Jahres 1917 wurde von den Textilarbeiterinnen des Petersburger Wyborg-Bezirks gezündet, die die Kämpfe der vergangenen Jahre gegen die zaristische Ernährungs- und Inflationierungspolitik in einen revolutionären Impuls übersetzten. Sie zogen männliche Arbeiter, manchmal mit Mühe, in die binnen Wochen erstarkende Streikbewegung hinein und setzten die Februarrevolution in Gang, an deren Ende die Abdankung des Zaren am 3. März stand. Die Bolschewiki waren davon überrascht worden und zogen, von Lenin aus der Schweiz angestachelt, nach. Von hier aus radikalisierte sich der revolutionäre Prozess schubweise auf dem Land, in den Fabriken und in der Armee. Auf dem Land überführten die Bäuer*innen die Gutshöfe (einige brannten sie ab) in die kollektive Verfügung der Dorfgemeinschaften und übernahmen die Verwaltungszentren. An der Bauernrevolution war bemerkenswert nicht nur die Übernahme der Gutshöfe, sondern die Selbstorganisation in der Herstellung einer eigenen lokalen Verwaltung. Der lokale Staatsapparat brach zusammen, in demokratischen Verfahren wurden Bauernkomitees gewählt, die eigenes Dorfrecht schufen. Sie verwandelten einen großen Teil der Gutshöfe in Schulen, in denen sie von ihnen bezahlte Lehrer*innen einstellten, weil sie Bildung sehr wichtig nahmen. Und sie begannen sogar, übergreifende Strukturen zunächst auf Regionalebene herzustellen. Sie wurden bei alldem bestimmt von den Vorstellungen der sogenannten „moralischen Ökonomie“, entwickelt über Jahrhunderte in den Kämpfen gegen die meist adeligen Grundeigentümer. Tragend war eine egalitäre, eigentumsfeindliche Einstellung, die auch die Versorgung der armen und notleidenden Mitbewohner*innen einschloss. Die unter Stolypin vor dem Krieg  gebildeten und aus der Dorfgemeinschaft ausgescherten Kulakenwirtschaften wurden aufgelöst und ins Dorfkollektiv zurückgenommen. Bauernselige  Romantiker aus der Ecke der Narodniki und von sozialrassistischer Verachtung gegen die „dunklen, rückständigen Massen“ bestimmte Marxisten (wie etwa Plechanow: „Lasttiere“) verfehlten in ihren Beurteilungen die Herkunft der bäuerlichen Einstellungen aus den Kämpfen der vergangenen Jahrhunderte in schöner komplementärer Übereinkunft. Im Oktober war die gesellschaftliche Basis des russischen Staats verschwunden und Lenin trieb aus seinem Versteck in Finnland die Genossen an, die Revolution auf dem Land endlich zur Kenntnis zu nehmen. Nicht ohne Grund, denn es war der bei weitem wichtigste Strang der Revolution. Schließlich lebten 80% der Bevölkerung auf dem Land. Die Verhältnisse, die diese Revolution schuf, waren nunmehr herrschende Verhältnisse, legitimiert in neuen revolutionären Rechtsformen. Die Revolution korrespondierte sogar direkt mit der von Zapata angeführten mexikanischen Revolution, in deren Tradition noch heute die von Chiapas ausgehenden Bewegungen stehen.

An der Bauernrevolution war bemerkenswert nicht nur die Übernahme der Gutshöfe, sondern die Selbstorganisation in der Herstellung einer eigenen lokalen Verwaltung.

Die Fabrikkomitees hatten eine lange Tradition, die bis zur Revolution 1905 und darüber hinaus zurückreichte. Gewählt von der gesamten Arbeiter*innenschaft übernahmen sie die Kontrolle selbst oder organisierten ein unüberwindliches Gegengewicht gegen die Eigentümer bzw. das Management. Sie betrieben vor allem die Abschaffung des verhassten Stücklohns, mit Marx Signum der kapitalistischen Produktion und Vorreiter und Begleitstrategie des weltweiten tayloristisch/fordistischen Angriffs auf die Klassenautonomie. Die Auseinandersetzungen zwischen bolschewistischen, menschewistischen, sozialrevolutionären und anarchistischen Theorie- und Strategiepositionen spielten hier keine Rolle. Geprägt wurden sie in ihren egalitären Einstellungen vor allem von den Bauernarbeiter*innen, den neu aus dem Dorf eingezogenen Arbeitskräften, als dem radikalsten Element des revolutionären Prozesses in den Fabriken. 

In der Armee beseitigten parallel dazu gewählte Komitees als „Organe der Selbstorganisation der Soldaten“ die verhassten Strukturen der zaristischen Autokratie. Die Diskussion an der Basis favorisierte vor allem Guerilla- und Milizvorstellungen und verlief analog zu der Bildung von Milizen und roten Garden in der Fabrik. Auch hier waren die Bolschewiki keine bestimmende Kraft. Alle drei Stränge waren Ausdruck revolutionärer Selbstorganisation von unten. Allerdings gelang es den Bolschewiki, sich in den Auseinandersetzungen mit der provisorischen Regierung durch radikale Forderungen und Parolen in den Vordergrund zu spielen und Mitglieder zu gewinnen. 

Der Erfolg der bolschewistischen Machtformierung beruhte darauf, dass sie die Gewaltressourcen und Zwänge des Bürgerkriegs mobilisieren konnte.

Die sogenannte „Oktoberrevolution“ war dem gegenüber ein verhältnismäßig unauffälliger Vorgang der Besetzung von Institutionen staatlicher Macht, ganz im Gegensatz zu der Jubel- und Heldenberichterstattung aus dem Mythenteppich. Er fand weitgehend unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle statt. Das Nachtleben, auch das der besseren Kreise, verlief bis in die frühen Morgenstunden des nächsten Tages weitgehend unbehelligt, selbst in unmittelbarer Umgebung der Stätten und Newabrücken, die die bolschewistischen Geschichtslegenden zu Orten eines dramatischen Kampfgeschehens machen. Relativ geräuschlos besetzten bolschewistische Arbeiter und Soldaten Bahnhöfe, Post, Telegrafenamt und weitere Knotenpunkte der Verwaltung. Auch die Übernahme des Winterpalais war wenig spektakulär. Der Leiter der provisorischen Regierung Kerenski fuhr weg, seine Soldaten verdrückten sich und seine Minister verharrten in unfroher Unsicherheit. „Kalifen für eine Stunde“ spottete die Presse. Aber der Spott sollte ihr in der Kehle stecken bleiben. Das Oktobermanöver war nur der Auftakt zu einer Offensive bolschewistischer Machtformierung. Ihr Erfolg beruhte darauf, dass sie die Gewaltressourcen und Zwänge des Bürgerkriegs mobilisieren konnte. Denn der Bürgerkrieg war das Medium, in dem die Bolschewiki ein unerschöpfliches Reservoir von -Gewaltmitteln zur Gestaltung neuer Machtverhältnisse entfesselten, unter Überschreitung von moralischen Barrieren und in mörderische/ Dimensionen hinein, die auch unter dem Zaren nicht durchbrochen bzw. erschlossen waren. In allen sozialen Bereichen der Revolution von unten fingen die Bolschewiki (nur über kurze Zeit im Verein mit den linken Sozialrevolutionären) zunächst die revolutionären Impulse durch rechtliche Zugeständnisse hinhaltend ab, um dann im Verlauf der Frühjahrsmonate des Jahres 1918 zu terroristischen Formen der Gegenrevolution von oben überzugehen.

Gegenrevolution

Lenin, der sich durch seine strategische Begabung und Redekunst immer mehr zum informellen Führer der Machtebene profiliert hatte und seit dem Attentat auf ihn im Sommer 1918 zur regelrechten Ikone hochstilisiert wurde, wurde mit anderen Kadern des Parteiapparats von Vorstellungen einer kriegsökonomischen Transformationspolitik geleitet. Sie griffen die Impulse aus der deutschen Kriegsökonomie auf - das waren zugleich die Impulse aus der russischen Kriegsökonomie, die ja ihrerseits seit 1914/15 deren Strategien aufgenommen hatte - und übersetzten sie in einen gewaltigen Prozess der Erneuerung Russlands mit Aspirationen globaler Ausstrahlung. Spätere Führungspersonen des Apparats, wie der als ZK-Mitglied hochrangige Altbolschewik Krassin (vor dem Krieg leitender Ingenieur bei Siemens, im Krieg auf höchster Bank.Ebene Mitglied der zaristischen Kriegsökonomie,  jetzt bolschewistischer Außenminister), Groman (zaristische Ernährungsdiktatur, blieb in der bolschewistischen Requisitionspolitik), Kriszanowski hatten herausragende Positionen in der zaristischen Kriegsökonomie gehabt. „Lerne beim Deutschen“ war Lenins ständige propagandistische Mahnung. Was beim Deutschen lernen? Dies hier: die in der deutschen Kriegsökonomie exemplarisch verfolgte Verbindung einer Offensive tayloristisch/fordistischer –also kapitalistischer- Rationalisierung mit der Effektivierung und Vergesellschaftung des militärisch/ökonomisch/politischen Kommandos. Taylorismus hieß in Taylors eigenen Worten „Krieg“ („war“) gegen den proletarischen Eigenwillen im Produktionsprozess und den Lebensformen. Lenins Ziel: „alle beteiligten Werktätigen zu einem einzigen wirtschaftlichen Organ zusammen zu fassen, das mit der Genauigkeit eines Uhrwerks arbeitet“, unter dem Kommando des „einheitlichen Willens der Leiter des Arbeitsprozesses“ und bei der Übernahme der deutschen Methoden „keine diktatorischen Mühen zu scheuen“. Wie sehr dies mit terroristischen Methoden des sozialen Zugriffs verbunden werden sollte und wie sehr das zunächst zurückhaltende Eingehen auf den revolutionären Prozess nur taktischer Natur war, ergibt sich schon daraus, dass bereits im Dezember 1917 die „Tscheka“ gegründet und als Terrorinstrument in die Durchsetzung des Transformationsprojekts eingebunden wurde. 

Erschießungen, Liquidierungen ganzer Dörfer, Geiselnahmen, Deportation in neuerrichteten Konzentrationslagern waren die Methoden.

Das gilt auch für den Rückstau der Revolution der Bäuer*innen. In der Gesetzgebung der ersten Monate des Jahres 1918 wurden viele Ergebnisse der Revolution durch Rechtsform anerkannt, legalisiert, verrechtlicht. Auch das war schon der Versuch der staatlichen Usurpation und Enteignung des revolutionären Prozesses. Aber die Bäuer*innen, über 80 % des revolutionären „Potentials“, wurden nicht etwa -ihrem sozialen Gewicht entsprechend- vorrangig oder auch nur gleichberechtigt in die Umwandlung Russlands eingeladen. Ganz im Gegenteil. Schon in den ersten Januarwochen wurde ohne Not der Raubkrieg gegen die Dörfer mit der Bildung von bewaffneten „Requisitionseinheiten“ zur Aufbringung des Getreides eingeleitet. Der nächste Schritt war die Bildung einer „Nahrungsmitteldiktatur“ im „Narkomprod“ im Mai 1918, die eigentliche offizielle „Kriegserklärung“ gegen die Bäuer*innen. Obwohl diese in der Revolution selbst schon die Kulakenwirtschaften beseitigt hatten, wurde diese Politik von Lenin zur Legitimation des Raubs durchtränkt mit eliminatorischer Propaganda gegen diese „Spinnen, Blutegel, Blutsauger.“ „…Lasst uns diese blutsaugenden Kulaken ersticken und erwürgen“. Nun gab es jedoch keine mehr. Also zielte das auf die Bäuer*innen selbst. Darin lag eine Dehumanisierung, die Stalins Politik des Jahres 1931 vorwegnehmen sollte, die von der neuen Genozidforschung als „Völkermord“ eingeschätzt wird. Aber das nutzte nichts. Auch nicht der Versuch, die „armen Bauern“ in einem „Kreuzzug“ gegen das revolutionäre Dorf in Stellung zu bringen – die in Jahrhunderten gewachsene Solidarität war nicht so leicht zu zertrümmern. Versucht wurde es dann im „Bürgerkrieg“. Der Widerstand gegen die auf Zigtausende angewachsene Requisitionsarmee wurde mit „rotem Terror“ bekämpft: Erschießungen, Liquidierungen ganzer Dörfer, Geiselnahmen, Deportation in neuerrichteten Konzentrationslagern waren die Methoden. Und auch Folterpraktiken der Tscheka, die nichts ausließen: Handschuhmethode (Hände in kochendes Wasser und dann die Haut abziehen), Übergießen mit Wasser und Vereisung in der Winterkälte, oder das Zwängen in ein Fass mit Ratten unten drin, die sich auf dem Feuer durch den Körper durchfraßen. Das alles mit Billigung Lenins und des ZK, die wöchentlich von Tschekaführer Latsis informiert wurden. Die Bäuer*innen hatten im Bürgerkrieg eine schwierige Position. Sie standen gegen die „weißen“ Armeen auf der Seite der Bolschewiki und rückten sogar in die Rote Armee ein, wenn die „Weißen“ auf der Siegerstraße waren. Bei bolschewistischem Übergewicht stellten sie das ein und wehrten sich gegen den Getreideraub. Als die „Weißen“ 1921 besiegt waren, zeigten die Bolschewiki, worum es ihnen ging. Statt den Krieg einzustellen, ging es gegen die Bäuer*innen erst richtig los. Eine Phase gnadenloser Offensiven im Krieg nach innen gegen die Dörfer begann mit hunderttausenden Toten und Tschekaopfern. Die Konzentrationslager schwollen an und der Hunger in den Dörfern aufgrund der Requisitionsüberfälle forderte Todesopfer in steigendem Ausmaß. Die Kriegsführung gegen die dagegen gerichtete Aufstandsbewegung eskalierte im Sommer 1921, als der gewendete zaristische Offizier Tuchatschewski mit dem nunmehr freigesetzten Potential an Maschinengewehren, schweren Waffen und Flugzeugen eine Gewalt eskalierte, der die Bauernverbände letztlich wenig entgegenzusetzen hatten. Tuchatschewski ging schließlich sogar zum Einsatz von Giftgas über, um die Bauern aus den Wäldern ins Offene zu treiben, praktisch ins Maschinengewehrfeuer hinein. Dennoch kämpften diese verzweifelt und die Auseinandersetzungen endeten nach einer Hungersnot mit entsetzlichen Erscheinungen, die diejenigen des Hungermords im Jahre 1932 vorwegnahmen, kurz vor einer Niederlage der Roten Armee im Patt, das dann von der „neuen ökonomischen Politik“ (NEP) abgefangen wurde.

Schon Anfang 1918 setzte das Regime den revolutionären Arbeiter*innen die Rückkehr zu strikten Hierarchien entgegen.

Auch der Krieg mit der Arbeiterklasse eskalierte bald. Schon Anfang 1918 setzte das Regime den revolutionären Arbeiter*innen die Rückkehr zu strikten Hierarchien unter dem Management des einzelnen Betriebsleiters entgegen. Die Rückkehr zum kapitalistischen Stücklohn wurde angeordnet und im Kampf gegen egalitäre Neigungen der Arbeiter*innen um eine Lohnhierarchie auf 17 Lohnstufen und eine entsprechende hungerpolitische Differenzierung der Nahrungsmittelrationen ergänzt. Die Streikbewegungen wurden mit einem  breiten Spektrum kapitalistischer Maßnahmen bekämpft: Betriebsschließungen, Ausschluss von der Nahrungsmittelversorgung, Kündigungen bis hin zum Gewalteinsatz der Tscheka. Eine Protestdemonstration in Nishnij-Nowgorod wurde sogar mit dem Einsatz von Maschinengewehren bekämpft. Besonderen Widerwillen der Arbeiter*innen erregte der Habitus der neuen Eliten mit ihren sorglos zur Schau getragenen Konsum- und Statusprivilegien. Die Wut darüber fand regelmäßig Eingang in die Parolen der Streikenden und in die direkten Auseinandersetzungen mit den im Auto nebst Chauffeur angereisten Kader. „Pelzmantel runter!“ riefen die frierenden und hungernden Malocher angesichts derartiger Zumutungen. Die Kommissare fanden nichts dabei. Sie hatten sich die schärfsten Villen in und um Moskau gesichert - Lenin machte da keine Ausnahme - und wurden in den besten Restaurants bedient. Trotz Übergang zur Militarisierung der Produktion nahmen die Arbeiter*innenkämpfe schon in den letzten Monaten des Jahres 1920 und dann massiv im Frühjahr 1921 zu, vor allem in Moskau und St. Petersburg. Der Aufstand der Seeleute, Soldaten und Arbeiter*innen in Kronstadt war nur ein abschließender Höhepunkt, allerdings einer mit großer Symbolkraft. Er wurde durch das Massaker unter Trotzki liquidiert –wegen der Sympathisanten der Aufständischen in der Roten Armee mit regierungstreuen Spezialkräften. Das Ergebnis für das Verhältnis zwischen der Klasse und ihren selbsternannten Diktatoren: der Graben zwischen dem gros der Arbeiter*innen und ihren neuen Herren war unüberwindlich geworden. Die Partei war nur noch dem Namen nach „proletarisch“, urteilt Sheila Fitzpatrick, eine neutrale und distanzierte Forscherin von großem internationalem Renommee. Eine Partei ohne soziale Unterstützung, die „Avantgarde einer nicht existierenden Klasse“.

Das „roll-back“ gegen die revolutionären Soldaten war nicht weniger markant und sei hier kurz umrissen: die demokratischen Errungenschaften und die Orientierung an Guerillavorstellungen wurden schon im März zurückgenommen, synchronisiert mit den anderen oben skizzierten bolschewistischen Offensiven. Sofort wurde eingeleitet, was Trotzki in einem Prawda-Interview die „Neugründung“ der alten Streitkräfte nannte. In der Tat: die Aufnahme der zaristischen Offiziere in die rote Armee wurde gegen den erbitterten Widerstand der revolutionären Soldaten unter der Deckvokabel „Militärspezialisten“ durchgesetzt. Ihre Zahl schwoll stetig aber dramatisch während des Bürgerkriegs auf etwa 75 000 an. Und das hieß: 82% aller Kommandeure, 83% des Generalstabs, 90% der Divisionskommaneure waren schließlich alte Zaristen. Ihre Militärhandbücher wurden übernommen, vor allem zu Fragen der Disziplinierung. Die russische Renationalisierung brachte sich so im Vorgriff auf Stalins 1932 eingeleitete offene Renationalisierung zum Tragen. Klammheimlich erst mal, aber sehr zur Befriedigung der höchsten zaristischen Generalität. Wenn Tuchatschewski zum Gaseinsatz griff, dann war dies der Hintergrund. Auch den Gaskrieg hatten sie von den Deutschen gelernt. Die beabsichtigte Parallelität in der Reorganisation von Betrieb und Armee war nur der Ausdruck der Herstellung eines militärisch-industriellen Komplexes, wie er auch in anderen kapitalistischen Ländern zu beobachten war und seinem Höhepunkt in der Synchronisierung von Produktion und Militär unter dem zweiten Fünf-Jahresplan zustrebte. 

Was denn anderes waren die sowjetischen Strategien als kapitalistisch?

Die Kämpfe mit den Bäuer*innen und der Arbeiter*innen dauerten in den nächsten Jahrzehnten fort. Ich kann sie hier nicht behandeln. Sie waren allerdings der Hauptgrund, warum es im sowjetischen Russland nie zu einem planstaatlichen Kommando über Produktion und Gesellschaft kommen konnte. Noch im Jahre 1931 musste der Architekt stalinistischer Industrialisierungspolitik Ordschonikidse eingestehen, dass weder Vesenka (Planungsbehörde) noch Rabkrin (Arbeiter- und Bauerninspektion) eine Ahnung davon hatten, was im Produktionsprozess, auf dem „shop-floor“ überhaupt passierte. Jede Totalitarismusvorstellung bzw. –ideologie muss vor allem daran scheitern. Die SU war nie ein Planstaat. Planen konnte die Führung nur die „innere“ Kriegführung gegen die Bäuer*innen und die Arbeiter*innenklasse. Aber das galt ja auch für die anderen kapitalistischen Länder. Was denn anderes waren die sowjetischen Strategien als kapitalistisch? Sie trieben die tayloristische Rationalisierung voran, betrieben Mehrwertabpressung unter Einsatz von Stücklohn und mit radikalem Lohngefälle, Geldwirtschaft etc. Wegen der großen sozialen Widerstände war allerdings die Formierung staatlicher Gewalt besonders stark ausgeprägt, eine extreme Erscheinung im Konzert der kapitalistischen Mächte. Nach allem stellte der durch den „Roten Oktober“ eingeleitete Prozess nur einen Strang im Gesamtspektrum der globalen fordistisch/tayloristischen Offensive auf dem kapitalistischen Weg in eine Gesellschaft von Massenproduktion und –konsum dar. 

Ich begreife diese Skizze als Auftakt zu einem „work in progress“ den wir, d.h. die „Materialien für einen neuen Antiimperialismus“, ab Beginn des nächsten Jahres auf unserer neuen Homepage voranbringen wollen, ebenso wie mit der Publikation einer umfassenden Arbeit im nächsten Frühjahr, der sie entnommen ist.1

  • 1. D. Hartmann, Krisen, Kämpfe, Kriege, Band 2/ Innovative Barbarei gegen soziale Revolution/ Kapitalismus und Massengewalt im 20. Jahrhundert. (im Erscheinen) Vgl. vorläufig auch einen alten, grundsätzlich noch zutreffenden, vor allem durch die Öffnung der russischen Archive jedoch teilweise überholten Aufriss:  Soziale Revolution und das Kommando der Akkumulation. Zur Aktualität der russischen Revolution, das Ende des sowjetischen Entwicklungsmodells, Materialien Band 4, Berlin, Göttingen  1992, S. 9, herunterzuladen auch unter materialien.org

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