Wir neigen dazu, die gegenwärtige Krise mit überlieferten Theorien des Zyklus zu interpretieren. Während Mainstream-Ökonomen nach den »Hoffnungszeichen« für eine Erholung suchen, bescheiden sich kritische Kritiker mit der Frage, ob es bis zur Wiederkehr des Wachstums nicht noch etwas dauern könnte. Geht man von Theorien des Konjunkturzyklus oder selbst der langen Wellen aus, liegt in der Tat die Annahme nahe, dass auf jeden Crash zwangsläufig ein Boom folgt und Abschwünge stets Aufschwüngen den Weg bahnen. Doch wie wahrscheinlich ist es, dass wir – falls und wenn der Schlamassel vorbei sein wird – ein neues Goldenes Zeitalter des Kapitalismus erleben werden?
Zunächst sollte man sich vergegenwärtigen, dass die Wunderjahre des vorhergehenden Goldenen Zeitalters (etwa von 1950 bis 1973) nicht nur einen Weltkrieg und einen gewaltigen Anstieg der Staatsausgaben, sondern auch einen historisch beispiellosen Bevölkerungstransfer von der Landwirtschaft in die Industrie zur Voraussetzung hatten. Im Streben nach »Modernisierung« erwies sich die bäuerliche Bevölkerung als machtvoller Hebel, bot sie doch eine Quelle billiger Arbeitskraft für einen neuen Industrialisierungsschub. 1950 arbeiteten 23 Prozent der deutschen Erwerbsbevölkerung in der Landwirtschaft, in Frankreich waren es 31, in Italien 44 und in Japan 49 Prozent – und im Jahr 2000 überall weniger als 5 Prozent. 1 Im 19. und frühen 20. Jahrhundert reagierte das Kapital auf Situationen der Massenarbeitslosigkeit, indem es Proletarier zurück aufs Land drängte oder in die Kolonien exportierte. Mit der Beseitigung der Bauernschaft in den traditionellen Kerngebieten – die zur selben Zeit erfolgte, als das Kapital an die Grenzen der kolonialen Expansion stieß – beseitigte es zugleich sein eigenes traditionelles Mittel der Erholung.
Für Marx beschränkte sich die fundamentale Krisentendenz der kapitalistischen Produktionsweise nicht auf periodische Wirtschaftsabschwünge.
Unterdessen stieß der Industrialisierungsschub, der die aus der Landwirtschaft Verdrängten absorbiert hatte, in den 1970er Jahren selbst an seine Grenzen. Seitdem haben die maßgeblichen kapitalistischen Länder einen beispiellosen Rückgang der industriellen Beschäftigung erlebt: Ihr Anteil an der Gesamtbeschäftigung ist in den letzten drei Dekaden um 50 Prozent gesunken. Selbst in neuen Industrieländern wie Südkorea und Taiwan ist sie in den letzten zwei Jahrzehnten relativ zurückgegangen. 2 Gleichzeitig hat sowohl die Zahl schlecht bezahlter Dienstleistungsjobs wie auch der im informellen Sektor tätigen Slumbewohner zugenommen, denn andere Optionen stehen denjenigen, die für den Arbeitskräftebedarf schrumpfender Industrien überflüssig geworden sind, nicht mehr offen.
Für Marx beschränkte sich die fundamentale Krisentendenz der kapitalistischen Produktionsweise nicht auf periodische Wirtschaftsabschwünge. Vielmehr zeigte sie sich am eindrücklichsten in einer permanenten Krise der Arbeitswelt. Die differentia specifica kapitalistischer ›ökonomischer‹ Krisen – dass Menschen trotz guter Ernten verhungern und Produktionsmittel trotz Bedarfs an ihren Erzeugnissen brachliegen – ist lediglich ein Moment dieser umfassenderen Krise: der ständigen Reproduktion einer Knappheit von Arbeitsplätzen inmitten eines Überflusses an Gütern. Es ist die Dynamik dieser Krise – der Krise der Reproduktion des Verhältnisses von Kapital und Arbeit –, die der vorliegende Artikel untersucht. 3
Einfache und erweiterte Reproduktion
So komplex die Resultate des Kapitals sind, es hat nur eine wesentliche Voraussetzung: Menschen, die keinen direkten Zugang zu den lebensnotwendigen Gütern haben und folglich auf die Vermittlung des Marktes angewiesen sind. Daher der Begriff ›Proletariat‹, der ursprünglich landlose Bürger in römischen Städten bezeichnete. Mangels Arbeit befriedete der Staat sie zunächst durch Brot und Spiele und später, indem er sie als Söldner beschäftigte. Doch die proletarische Existenz ist historisch betrachtet außergewöhnlich: In Gestalt von autarken Bauern oder Hirten besaß die globale Bauernschaft meist direkten Zugang zum Land, auch wenn sie fast immer einen Teil ihres Produkts an die herrschenden Eliten abgeben musste. Dies machte die »ursprüngliche Akkumulation« notwendig: Die Trennung der Menschen vom Land, ihrem wichtigsten Reproduktionsmittel, bewirke eine umfassende Abhängigkeit vom Warentausch. 4 In Europa wurde dieser Prozess in den 1950er und 1960er Jahren abgeschlossen. In globalem Maßstab nähert er sich – mit Ausnahme des subsaharischen Afrika, Teilen Südasiens und Chinas – erst jetzt seinem Endpunkt.
Es genügt jedoch nicht, dass die Trennung der Menschen vom Land einmal vollzogen wird. Damit sich Kapital und ›freie‹ Arbeit stets von Neuem auf dem Markt gegenübertreten, bedarf es ihrer beständigen Wiederholung. Zum einen muss das Kapital auf dem Arbeitsmarkt bereits eine Masse von Menschen vorfinden, die keinen direkten Zugang zu Produktionsmitteln besitzen und folglich ihre Arbeitskraft für einen Lohn anbieten. Zum anderen muss es auf dem Absatzmarkt bereits eine Masse von Menschen vorfinden, die über einen Lohn verfügen und ihn für Waren ausgeben wollen. Sind diese zwei Bedingungen nicht gegeben, kann es nur begrenzt akkumulieren, da ihm Massenproduktion und -absatz verwehrt bleiben. Die Möglichkeit einer Massenproduktion war außerhalb der USA und Großbritanniens bis 1950 eben deshalb begrenzt, weil die Größe des Marktes begrenzt war – aufgrund der Existenz einer großen, sich teilweise selbstversorgenden Bauernschaft, die nicht in erster Linie vom Lohn lebte. Die Geschichte der Nachkriegsphase ist die Geschichte der tendenziellen Abschaffung der verbliebenen globalen Bauernschaft, zunächst als autarke Bauern und schließlich als Bauern, die das von ihnen bearbeitete Land besitzen, schlechthin.
Es genügt jedoch nicht, dass die Trennung der Menschen vom Land einmal vollzogen wird.
Marx erklärt dieses strukturelle Merkmal des Kapitalismus im Kapitel über »einfache Reproduktion« im ersten Band des Kapital. Wir verstehen diesen Begriff hier als die Reproduktion des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeitern, die sich in und durch Zyklen von Produktion und Konsumtion vollzieht. 5 Die einfache Reproduktion wird nicht aus »Gewohnheit« oder durch ein falsches, mangelhaftes Bewusstsein der Arbeiter aufrechterhalten, sondern durch materiellen Zwang – durch die Ausbeutung der Lohnarbeiter, die Tatsache, dass sie alle zusammen nur einen Teil der von ihnen produzierten Güter kaufen können:
»Der Prozess (…) sorgt dafür, daß diese selbstbewußten Produktionsinstrumente nicht weglaufen, indem er ihr Produkt beständig von ihrem Pol zum Gegenpol des Kapitals entfernt. Die individuelle Konsumtion sorgt einerseits für ihre eigne Erhaltung und Reproduktion, andrerseits durch Vernichtung der Lebensmittel für ihr beständiges Wiedererscheinen auf dem Arbeitsmarkt.« 6
Der Zusammenbruch der Reproduktion erzeugt eine Krise zugleich der Überproduktion wie der Unterkonsumtion, denn unter dem Kapital ist beides dasselbe.
Die Akkumulation des Kapitals betrifft daher nicht entweder die Produktions- oder die Konsumtionssphäre. Eine der beiden Sphären überzubetonen, führt der Tendenz nach zu einseitigen Theorien kapitalistischer Krisen als »Überproduktions-« oder »Unterkonsumtionskrisen«. Die Lohnarbeit strukturiert den Reproduktionsprozess als Ganzes: Der Lohn weist Arbeiter der Produktion und zugleich Produkte den Arbeitern zu. Darin besteht eine von geographischen und historischen Besonderheiten unabhängige Konstante des Kapitals. Der Zusammenbruch der Reproduktion erzeugt eine Krise zugleich der Überproduktion wie der Unterkonsumtion, denn unter dem Kapital ist beides dasselbe.
Allerdings können wir nicht derart direkt von einer Entfaltung der Struktur der einfachen Reproduktion zur Krisentheorie übergehen. Die einfache Reproduktion ist nämlich ihrem Wesen nach zugleich erweiterte Reproduktion. So wie die Arbeiter auf den Arbeitsmarkt zurückkehren müssen, um ihren Lohnfonds wieder aufzufüllen, muss das Kapital auf den Kapitalmarkt zurückfließen, um seine Profite in die Erweiterung der Produktion zu investieren. Jedes Kapital muss akkumulieren, andernfalls fällt es in der Konkurrenz mit anderen Kapitalen zurück. Wettbewerbsorientierte Preisbildung und variable Kostenstrukturen führen zu unterschiedlichen Profitraten innerhalb der einzelnen Sektoren, was wiederum zu effizienzsteigernden Innovationen anspornt, da Unternehmen durch eine Senkung ihrer Kosten unter den Branchendurchschnitt entweder Extraprofite einstreichen oder ihre Preise senken und so Marktanteile gewinnen können. Fallende Kosten führen aber grundsätzlich zu fallenden Preisen, denn die Mobilität des Kapitals zwischen den Sektoren resultiert in einem Ausgleich der Profitraten: Die Bewegung des Kapitals auf der Suche nach höheren Profiten führt zu einem Auf und Ab des Angebots (und somit der Preise), sodass der Ertrag neuer Investitionen schließlich um einen sektorenübergreifenden Durchschnitt pendelt. Diese ständige Bewegung des Kapitals hat außerdem zur Folge, dass sich kostensenkende Innovationen quer durch die Sektoren ausbreiten – und sie schafft ein Gesetz der Profitabilität, das alle Kapitale unabhängig von den jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Konfigurationen zur Profitmaximierung zwingt. Umgekehrt kann die Akkumulation bei sinkender Profitabilität nur durch Kapitalvernichtung und Freisetzung von Arbeitskraft, die die Bedingungen der Profitabilität wiederherstellen, erneut in Gang gebracht werden.
Dieses formelle Verständnis des Verwertungsprozesses vermag jedoch nicht die geschichtliche Dynamik zu erfassen, die Marx im Blick hat. Das Gesetz der Profitabilität allein gewährleistet keine erweiterte Reproduktion: Es müssen auch neue Industrien und Märkte entstehen. Steigende und fallende Profite signalisieren der Kapitalistenklasse, dass in bestimmten Industrien Innovationen stattgefunden haben, aber entscheidend dabei ist, dass sich Output und folglich Beschäftigung im Lauf der Zeit anders zusammensetzen: Industrien, die früher einen erheblichen Teil von Output und Beschäftigung ausmachten, wachsen nun langsamer, während ein zunehmender Teil von beidem auf neue Industrien entfällt. Hier müssen wir die bestimmenden Faktoren der Nachfrage unabhängig von denen des Angebots untersuchen. 7
Die Nachfrage nach einem Produkt verändert sich mit seinem Preis. Ist es teuer, wird es nur von den Reichen gekauft. Mit zunehmenden arbeitssparenden Innovationen fällt sein Preis und das Produkt wird zu einem Massenkonsumgut. Auf dem Scheitelpunkt dieses Prozesses führen Innovationen zu einer gewaltigen Markterweiterung für das jeweilige Produkt, die die Kapazitäten der existierenden Unternehmen übersteigt; die Preise fallen langsamer als die Kosten, was zu einer Phase hoher Profite führt. Nun strömt weiteres Kapital in den Sektor und zieht zusätzliche Arbeitskräfte an. An einem bestimmten Punkt werden jedoch die Grenzen des Marktes erreicht: Er ist gesättigt. 8 Von nun an führen Innovationen dazu, dass die Gesamtkapazität über die Größe des Marktes hinauswächst; die Preise fallen schneller als die Kosten, was zu einer Phase sinkender Profite führt. Kapital fließt nun aus dem Sektor ab, Arbeitskräfte werden ausgespuckt. 9
An einem bestimmten Punkt werden jedoch die Grenzen des Marktes erreicht: Er ist gesättigt.
Dieser Prozess, von Ökonomen als »Reifung« von Industrien bezeichnet, hat sich viele Male wiederholt. Die Agrarrevolution, die zuerst im frühneuzeitlichen England ausbrach, stieß schließlich an die Grenzen des Binnenmarkts für ihre Produkte. Innovationen im Arbeitsprozess wie die Zusammenfassung verstreuten Landbesitzes, die Abschaffung von Brachflächen und eine differenzierte Bodennutzung je nach natürlichen Vorteilen bedeuteten – unter kapitalistischen Bedingungen der Reproduktion –, dass sowohl Arbeitskräfte wie Kapital systematisch vom Land verdrängt wurden. Infolgedessen erlebte England eine rasche Verstädterung und London wurde die größte Stadt Europas.
An dieser Stelle kommt die wesentliche Dynamik der erweiterten Reproduktion ins Spiel. Denn die aus der Landwirtschaft verdrängten Arbeitskräfte mussten nicht ewig in den Städten schmachten. Sie wurden mit der Industrialisierung Großbritanniens schließlich vom herstellenden Gewerbe aufgesogen, insbesondere von der Textilindustrie, die gerade von Wolle zu Baumwollstoffen überging. Innovationen im Arbeitsprozess wie die Spinning Jenny, die Spinning Mule und der mechanische Webstuhl führten jedoch einmal mehr dazu, dass auch die Textilindustrie schließlich Arbeitskräfte und Kapital abstieß. Dieser Niedergang der Industrien der ersten industriellen Revolution – gemessen am Anteil an der Gesamtbeschäftigung und dem akkumulierten Kapital – bereitete denen der zweiten industriellen Revolution den Weg (Chemie, Telekommunikation, elektronische Geräte und Automobile). Eben diese Bewegung von Arbeitskraft und Kapital zwischen den Produktionszweigen, die auf unterschiedlichen Profitraten beruht, ermöglicht dauerhaft eine erweiterte Reproduktion:
»Expansion (…) ist unmöglich ohne disponibles Menschenmaterial, ohne eine vom absoluten Wachstum der Bevölkerung unabhängige Vermehrung von Arbeitern. Sie wird geschaffen durch den einfachen Prozeß, der einen Teil der Arbeiter beständig ›freisetzt‹, durch Methoden, welche die Anzahl der beschäftigten Arbeiter im Verhältnis zur vermehrten Produktion vermindern. Die ganze Bewegungsform der modernen Industrie erwächst also aus der beständigen Verwandlung eines Teils der Arbeiterbevölkerung in unbeschäftigte oder halbbeschäftigte Hände.« 10
Auf diese Weise reproduziert die erweiterte Reproduktion beständig die Bedingungen der einfachen Reproduktion. Kapitale, die aufgrund sinkender Profite in einem gegebenen Zweig nicht mehr reinvestiert werden können, finden auf dem Arbeitsmarkt Arbeiter vor, die aus anderen Zweigen ausgestoßen wurden. Diese »freigesetzten« Mengen von Kapital und Arbeitskraft werden auf expandierenden Märkten eingesetzt oder kommen in vollkommen neuen Zweigen zusammen, um die Produkte für noch gar nicht existierende Märkte herstellen. So werden immer mehr Tätigkeiten dem kapitalistischen Verwertungsprozess subsummiert und Waren dringen von Luxus- auf Massenmärkte vor.
Der bürgerliche Ökonom Joseph Schumpeter beschrieb diesen Prozess in seiner Theorie des Konjunkturzyklus. 11 Er stellte fest, dass das Schrumpfen alter Zweige selten reibungslos und friedlich vonstattengehe, sondern gewöhnlich Fabrikschließungen und Unternehmenspleiten zur Folge habe, da die Einzelkapitale durch Preisschlachten Verluste auf ihre Konkurrenten abzuwälzen versuchten. Schrumpften mehrere Zweige gleichzeitig (was gewöhnlich der Fall ist, da sie auf ähnlichen Innovationen beruhen), käme es zu einer Rezession. Schumpeter nennt dieses Abstoßen von Kapital und Arbeitskräften »schöpferische Zerstörung« – »schöpferisch« nicht nur deshalb, weil es von Innovationen getrieben wird, sondern auch weil es die Voraussetzungen für neue Investitionen und Innovationen schafft: In der Krise können Kapitale Produktionsmittel und Arbeitskraft zu überaus günstigen Preisen kaufen. So schafft die Rezession, ähnlich einem Waldbrand, Raum für neues Wachstum.
In der Krise können Kapitale Produktionsmittel und Arbeitskraft zu überaus günstigen Preisen kaufen. So schafft die Rezession, ähnlich einem Waldbrand, Raum für neues Wachstum.
Viele Marxisten vertreten eine ähnliche Auffassung wie Schumpeter mit seiner Konzeption zyklischen Wachstums, die sie lediglich um den Widerstand der Arbeiter (oder auch ökologische Grenzen) als äußere Schranke ergänzen. Mit dem marxistischen Verständnis der Krise als einem selbstregulierenden Mechanismus verbindet sich so die Überzeugung, sie biete die Gelegenheit, die Macht der Arbeiter zur Geltung zu bringen (oder die umweltzerstörerischen Tendenzen des Kapitalismus einzudämmen) – »eine andere Welt ist möglich« in solchen Momenten. Doch Marx‘ Theorie des Kapitalismus trifft keine derartige Unterscheidung zwischen »innerer« Dynamik und »äußeren« Schranken. Für Marx manifestiert sich die Dynamik des Kapitals in und durch diesen Prozess der erweiterten Reproduktion als seine eigene Schranke, nicht durch Zyklen von Boom und Crash, sondern in einem langfristigen Niedergang seiner eigenen Bedingungen der Akkumulation.
Die Krise der Reproduktion
Eine Theorie des langfristigen Niedergangs wird gewöhnlich in Marx’ Bemerkungen über den tendenziellen Fall der Profitrate vermutet, die Engels bearbeitet und in den Kapiteln 13-15 des dritten Bands des Kapital zusammengestellt hat. Demnach führt die Tendenz zum Ausgleich der Profitraten zwischen den unterschiedlichen Sektoren – zusammen mit dem tendenziellen Anstieg ihrer Produktivität – zu einem tendenziellen, die gesamte Wirtschaft erfassenden Rückgang der Profitabilität. Jahrzehntelange Debatten haben sich auf die »steigende organische Zusammensetzung des Kapitals«, die als Ursache dieser Tendenz gilt, und auf das vertrackte Zusammenspiel der unterschiedlichen Tendenzen und Gegentendenzen konzentriert. Übersehen wird dabei oft, dass dieselbe Beschreibung der Zusammensetzung des Kapitals auch einem anderen Gesetz zugrundeliegt, das sich sowohl in zyklischen wie langfristigen Krisentendenzen niederschlägt und als Marx’ durchdachtere Darstellung des Problems gelesen werden kann – dem »allgemeinen Gesetz der kapitalistischen Akkumulation«, das im 23. Kapitel des ersten Bands erörtert wird. 12
Für gewöhnlich wird diesem Kapitel, das unmittelbar auf die zwei Kapitel über einfache und erweiterte Reproduktion folgt, nur ein begrenzter Anspruch beigemessen. Die Leser konzentrieren sich allein auf den ersten Teil der Argumentation, in dem Marx die endogene Bestimmung der Lohnhöhe darstellt. Gezeigt wird dort, wie die Löhne durch die strukturelle Aufrechterhaltung einer bestimmten Arbeitslosenquote in Einklang mit den Erfordernissen der Akkumulation gehalten werden. Wachse die Nachfrage nach Arbeit, dann schrumpfe die »industrielle Reservearmee« der Arbeitslosen und die Löhne können steigen. Dies wiederum belaste die Profitabilität, wodurch sich die Akkumulation verlangsame. Mit der dadurch sinkenden Nachfrage nach Arbeit wachse die Reservearmee wieder und die vorherigen Lohnsteigerungen lösten sich in Luft auf. Wäre dies der einzige Gedanke in diesem Kapitel, dann würde sich das »allgemeine Gesetz« in einer Fußnote zur Theorie der einfachen und erweiterten Reproduktion erschöpfen. Es ist aber nur der Anfang der Argumentation, die Marx hier entfaltet. Wenn die Arbeitslosen als industrielle Reservearmee – als Arbeitslose, die aber wesentlich für die Regulierung des Arbeitsmarkts sind – zwar der Tendenz nach in die Kreisläufe des Kapitals reintegriert werden, so wachsen sie zugleich der Tendenz nach über diese Funktion hinaus und machen sich als absolut überflüssig geltend:
»Je größer der gesellschaftliche Reichtum, das funktionierende Kapital, Umfang und Energie seines Wachstums, also auch die absolute Größe des Proletariats und die Produktivkraft seiner Arbeit, desto größer die industrielle Reservearmee. Die disponible Arbeitskraft wird durch dieselben Ursachen entwickelt wie die Expansivkraft des Kapitals. Die verhältnismäßige Größe der industriellen Reservearmee wächst also mit den Potenzen des Reichtums. Je größer aber diese Reservearmee im Verhältnis zur aktiven Arbeiterarmee, desto massenhafter die konsolidierte Übervölkerung, deren Elend im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Arbeitsqual steht. Je größer endlich die Lazarusschicht der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee, desto größer der offizielle Pauperismus. Dies ist das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation.« 13
Das Gesetz besteht somit darin, dass das Kapital, je mehr es wächst, aus der Masse der Arbeiter eine relative Überschussbevölkerung erzeuge, die tendenziell zu einer konsolidierten, für die Bedürfnisse des Kapitals absolut überflüssigen Überschussbevölkerung werde. 14
Wie Marx zu diesem Schluss gelangt, leuchtet nicht unmittelbar ein, auch wenn die von ihm beschriebene Tendenz in einer Ära von Aufschwüngen ohne Arbeitsplätze, von Slum-Städten und verallgemeinerter Prekarität immer augenfälliger scheint. Deutlicher macht er seine Argumentation in der französischen Ausgabe des ersten Bands: Je höher die organische Zusammensetzung des Kapitals, umso schneller müsse die Akkumulation fortschreiten, um die Beschäftigung aufrechtzuerhalten, »doch dieses schnellere Fortschreiten wird selbst zur Quelle neuer technischer Veränderungen, die die relative Nachfrage nach Arbeit weiter verringern«. Das betrifft nicht nur bestimmte hochgradig konzentrierte Industrien. Quer durch die Sektoren drücke ein mit fortschreitender Akkumulation wachsender Überfluss an Gütern die Profitrate und verschärfe die Konkurrenz, was die Kapitalisten dazu zwinge, Arbeit einzusparen. So würden graduelle Produktivitätssteigerungen »unter diesem enormen Druck konzentriert; sie fänden Eingang in technische Veränderungen, die die Zusammensetzung des Kapitals im gesamten Umkreis der großen Produktionszweige revolutionieren«. 15
Ohne entgegenwirkende Momente droht dieser relative Rückgang der Nachfrage nach Arbeit die Kapitalakkumulation zu übersteigen und so zu einem absoluten zu werden.
Aber entstehen nicht neue Industrien, die den Beschäftigungsrückgang wettmachen? Marx konstatiert eine in und durch den Konjunkturzyklus sich vollziehende Verschiebung von arbeitsintensiven zu kapitalintensiven Industrien, die die Nachfrage nach Arbeit in neuen wie alten Zweigen sinken lässt: »Einerseits attrahiert also das im Fortgang der Akkumulation gebildete Zuschusskapital, verhältnismäßig zu seiner Größe, weniger und weniger Arbeiter. Andrerseits repelliert das periodisch in neuer Zusammensetzung reproduzierte alte Kapital mehr und mehr früher von ihm beschäftigte Arbeiter.« 16 Das ist das Geheimnis des »allgemeinen Gesetzes«: Arbeitssparende Innovationen verallgemeinern sich tendenziell innerhalb der Sektoren und über sie hinweg, sodass die relative Nachfrage nach Arbeit sinkt. Zudem sind diese Innovationen irreversibel: Sie verschwinden nicht, falls und wenn die Profitabilität wieder hergestellt wird (wie wir sehen werden, hat letzteres häufig sogar zusätzliche Innovationen in neuen oder wachsenden Zweigen zur Voraussetzung). Ohne entgegenwirkende Momente droht dieser relative Rückgang der Nachfrage nach Arbeit die Kapitalakkumulation zu übersteigen und so zu einem absoluten zu werden. 17
Marx hat diese Tendenz nicht einfach aus einer abstrakten Analyse des Wertgesetzes abgeleitet, sondern im 13. Kapitel des ersten Bands auch empirisch zu belegen versucht. Wie er dort anhand des britischen Zensus von 1861 zeigt, waren die durch technische Innovationen entstehenden neuen Produktionszweige hinsichtlich der Beschäftigung »keineswegs bedeutend«. Als Beispiele nennt er »Gaswerke, Telegraphie, Photographie, Dampfschiffahrt und Eisenbahnwesen« – hochmechanisierte und relativ automatisierte Prozesse –, die zusammen weniger als 100.000 Beschäftigte zählten, während in der Textil- und Metallindustrie, deren Belegschaften damals aufgrund neuer Maschinerie schrumpften, eine Million Menschen arbeiteten. 18 Bereits diese Statistiken machen deutlich, dass die Industrien der zweiten industriellen Revolution nicht annähernd so viele Arbeitskräfte absorbierten wie die der ersten zum Zeitpunkt ihrer Entstehung. Im Kapitel über »das allgemeine Gesetz« bietet Marx zusätzliche statistische Belege dafür, dass die Beschäftigung von 1851 bis 1871 nur in denjenigen älteren Industrien substanziell wuchs, in denen noch keine Maschinerie eingeführt worden war. Seine Erwartung eines langfristigen, zunächst relativen und schließlich absoluten Rückgangs der Nachfrage nach Arbeit konnte sich somit auf die damals verfügbaren Daten stützen.
Was Marx hier beschreibt, ist keine »Krise«, wie sie gewöhnlich in der marxistischen Theorie verstanden wird, also eine periodische Krise der Produktion, der Nachfrage oder auch der Akkumulation. Vielmehr tritt in solchen zyklischen Krisen und und durch hindurch eine langfristige Krise auf, eine Krise der Reproduktion des Verhältnisses von Kapital und Arbeit schlechthin. Wenn erweiterte Reproduktion bedeutet, dass Arbeiter und Kapital aus schrumpfenden Industrien versuchen werden, in neuen oder wachsenden Zweigen unterzukommen, spricht das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation dafür, dass eine solche Reintegration in den Reproduktionsprozess im Lauf der Zeit immer seltener gelingen wird. So wird ein immer größerer Teil des Proletariats zu einer unbeabsichtigten Nebenfolge des kapitalistischen Produktionsprozesses, zu einer Klasse von Arbeitern, die nicht nur von Reproduktionsmitteln sondern von Arbeit »frei« sind.
Einerseits werden die Menschen auf Arbeiter reduziert. Andererseits können sie keine Arbeiter sein, weil sie durch ihre Arbeit die Bedingungen der Möglichkeit ihrer eigenen Existenz untergraben.
Für Marx drückt diese Krise den fundamentalen Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise aus. Einerseits werden die Menschen auf Arbeiter reduziert. Andererseits können sie keine Arbeiter sein, weil sie durch ihre Arbeit die Bedingungen der Möglichkeit ihrer eigenen Existenz untergraben. Lohnarbeit geht zwangsläufig mit Kapitalakkumulation, mit einer Zunahme arbeitssparender Innovationen einher, die im Lauf der Zeit die Nachfrage nach Arbeit verringern: »Mit der durch sie selbst produzierten Akkumulation des Kapitals produziert die Arbeiterbevölkerung also in wachsendem Umfang die Mittel ihrer eignen relativen Überzähligmachung.« 19 Man könnte meinen, dass der aus arbeitssparenden Innovationen folgende Überfluss an Gütern zu einem Überfluss an freier Zeit führen würde. In einer auf Lohnarbeit beruhenden Gesellschaft kann sich die Verringerung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit, die zu einem solchen Güterüberfluss führt, jedoch nur in einem Mangel an Arbeitsplätzen und einer Zunahme prekärer Beschäftigungsformen ausdrücken.20
Marx’ Darstellung des allgemeinen Gesetzes ist eine Reformulierung, eine dramatische Entfaltung der These, die er zu Beginn des 23. Kapitels aufstellt. Dort heißt es schlicht: »Akkumulation des Kapitals ist also Vermehrung des Proletariats.« 21 Früher haben Marxisten dies so verstanden, dass das Wachstum des Kapitals ein Wachstum der Industriearbeiterklasse bedinge. Aber das Proletariat ist nicht mit der Industriearbeiterklasse identisch. Folgt man dem Schluss, zu dem Marx in diesem Kapitel gelangt, dann ist das Proletariat vielmehr eine Arbeiterklasse im Übergang, eine Arbeiterklasse, die tendenziell zu einer von der Arbeit ausgeschlossenen Klasse wird. Diese Interpretation wird auch durch die einzige Definition des Proletariats im Kapital gestützt, die sich in einer Fußnote zu der oben genannten These findet:
»Unter ›Proletarier‹ ist ökonomisch nichts zu verstehen als der Lohnarbeiter, der ›Kapital‹ produziert und verwertet und aufs Pflaster geworfen wird, sobald er für die Verwertungsbedürfnisse des ›Monsieur Kapital‹ (…) überflüssig ist.« 22
Von der Reindustrialisierung zur Deindustrialisierung
Das »allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation« und seine deutlichen Konsequenzen für die Interpretation des Kapital wurden in unserer Zeit übersehen, weil es im Lauf des 20. Jahrhunderts immer wieder unter dem Namen »Verelendungstheorie« aufgenommen und wieder verworfen worden ist. Es wurde behauptet, dass die Geschichte des Kapitals Marx‘ Voraussage steigender Arbeitslosigkeit und damit zunehmender Verelendung der arbeitenden Bevölkerung widerlegt habe: Nach seinem Tod wuchsen sowohl Umfang wie Lebensstandard der industriellen Arbeiterklasse. Doch ganz abgesehen davon, dass diese Tendenzen oft zu sehr pauschalisiert werden, macht ihre offensichtliche Umkehr in jüngster Zeit die Verelendungstheorie plausibler. In den letzten dreißig Jahren hat die relative Anzahl industrieller Arbeiter weltweit stagniert. In den Ländern mit hohem Bruttoinlandsprodukt (BIP) entstand ein Dienstleistungssektor mit Niedriglöhnen, in Ländern mit niedrigem BIP kam es zu einem explosionsartigen Wachstum der Zahl der Slumbewohner und informellen Arbeiter. 23 Stimmt die Verelendungstheorie also doch? Das ist die falsche Frage. Zu fragen ist vielmehr: Unter welchen Bedingungen trifft sie zu?
Marx traf seine Aussagen über das Wachstum einer konsolidierten Überbevölkerung im Jahr 1867. Die Tendenz, dass neue Industriezweige aufgrund ihres höheren Automationsgrades proportional weniger Kapital und Arbeit absorbieren, als durch die Mechanisierung alter Industrien freigesetzt würden, machte sich jedoch nicht wie von ihm vorhergesagt geltend. Wie wir der Grafik auf dieser Seite entnehmen können, traf seine Ansicht für das damalige Großbritannien zu: Die aufkommenden Industrien der frühen zweiten industriellen Revolution – etwa Chemie, Eisenbahnen, Telegrafie – konnten den Rückgang der Beschäftigung in denen der ersten industriellen Revolution nicht kompensieren. Was Marx nicht vorhergesehen hatte, und was in den 1890er Jahren tatsächlich eintrat, war die Entstehung neuer Industrien, die zugleich Kapital und Arbeit absorbierten und so den Niedergang mehr als ein halbes Jahrhundert lang aufhalten konnten. Das Wachstum dieser neuen Industrien, hauptsächlich der Produktion von Autos und langlebigen Konsumgütern, war von zwei Entwicklungen des 20. Jahrhunderts abhängig: der zunehmenden Rolle von staatlichen Wirtschaftseingriffen und der Verwandlung von Dienstleistungen in Konsumgüter. 24
Stimmt die Verelendungstheorie also doch? Das ist die falsche Frage. Zu fragen ist vielmehr: Unter welchen Bedingungen trifft sie zu?
Die aufstrebenden Industrien, über die Marx in den 1860er Jahren schrieb – Gaswerke, Telegrafie und Eisenbahnen (wir würden noch Elektrifizierung hinzufügen) –, begannen schon zu seinen Lebzeiten für die Verbraucher verfügbar zu werden. Die aus diesen Technologien, die ursprünglich dem Genuss einer reichen Elite vorbehalten waren, entwickelten Dienstleistungen für Konsumenten blieben jedoch zweitrangig gegenüber ihrer Nutzung innerhalb der geplanten Wirtschaft industrieller Betriebe. Eisenbahnen entstanden als arbeitssparende Innovation im Bergbau, die anschließend auf andere Industriezweige ausgeweitet wurde. Erst nachdem vom Staat unterstützte Kartelle ein weitläufiges nationales Schienennetz aufgebaut hatten, wurden sie als Dienstleistung den Konsumenten angeboten. Selbst als die Preise fielen und der mechanisierte Transport durch die Bahn für immer mehr Menschen erschwinglich wurde, behielt sie auch als Dienstleistung für Konsumenten viele der Funktionen ihrer ursprünglichen Anwendung innerhalb der Industrie als Innovation im Produktionsprozess. Nationale Eisenbahnen, die zusätzlich zu Gütern auch Passagiere transportieren, absorbierten während ihres Aufbaus große Mengen an Kapital und Arbeit, waren aber später relativ automatisierte Prozesse, die weniger Kapital und Arbeit erforderten. 25
Der Beginn der Automobilindustrie, vom Staat durch die Finanzierung des Straßenbaus subventioniert, transformierte schließlich die Dienstleistung des mechanisierten Transports in eine Ware, die für die individuelle Konsumtion erworben werden konnte. Die Zerlegung und Vervielfältigung des Produkts – die Verwandlung einer arbeitssparenden Innovation im Produktionsprozess in eine Kapital und Arbeit absorbierende »Produktinnovation« – bedeuteten, dass diese Industrie mehr Kapital und Arbeit absorbieren konnte, als ihr Markt sich hatte ausweiten können. Ähnlich verlief der Übergang von der Telegrafie zum Telefon und von der Nutzung der Elektrizität in der Produktion zu elektrischen Haushaltsgütern. Stets wurde eine kollektiv konsumierte Dienstleistung, die oft aus einer Dienstleistung innerhalb der Industrie entstanden war, in eine Serie individuell erwerbbarer Waren verwandelt, die neue Märkte eröffneten, die sich wiederum mit dem Fall der Preise und der Steigerung der Produktivität zu Massenmärkten entwickelten. Das schuf die Grundlage für den »Massenkonsum« des 20. Jahrhunderts, denn diese Industrien konnten selbst dann noch, als Produktivitätssteigerungen die relativen Kosten reduzierten, zugleich große Mengen an Kapital und Arbeit absorbieren, sodass immer mehr Bauern zu Industriearbeitern wurden und immer mehr Arbeiter eine feste Stelle bekamen.
Die beispiellose Staatsverschuldung, die diesen Prozess förderte, zeigt jedoch, dass das Kapital nicht von sich aus die Tendenz zu einer kontinuierlichen Schaffung von Produktinnovationen hat, die die arbeitssparenden Innovationen im Produktionsprozess ausgleichen könnten. Im Gegenteil ermöglichen Produktinnovationen häufig selbst Verbesserungen im Produktionsprozess, sodass die Lösung das ursprüngliche Problem nur verschärft. 26 Als die Automobil- und Gebrauchsgüterindustrien in den 1960er und 1970er Jahren Kapital und Arbeit freizusetzen begannen, konnten die neuen Produktionszweige wie die Mikroelektronik den Überschuss selbst Jahrzehnte später noch nicht absorbieren. Diese Innovationen entsprangen, wie die bereits beschriebenen der zweiten industriellen Revolution, aus bestimmten Prozessinnovationen in der Industrie und im Militär, aus denen erst in jüngerer Zeit eine Vielzahl an Konsumgütern entwickelt wurden. Mit Blick auf die Schaffung von Arbeitsplätzen besteht das Problem dabei nicht nur darin, den Softwaremarkt vor Piraterie zu schützen. Es besteht vielmehr darin, dass die neuen Güter der Mikroelektronikindustrie immer weniger Kapital und Arbeit absorbieren. Nicht nur die für die Herstellung von Computern selbst erforderliche Arbeitsmenge sinkt rapide (die Mikrochip-Industrie besteht weltweit aus nur wenigen Fabriken und ist unglaublich mechanisiert), durch die rapide Steigerung des Automatisierungsgrads lassen Computer tendenziell auch in allen anderen Produktionszweigen das erforderliche Arbeitsvolumen sinken. 27 Anstatt – wie von Schumpeter vorhergesagt – einen stagnierenden Industriezweig wiederzubeleben und die Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter wiederherzustellen, trägt der Aufstieg der Computerindustrie daher zur Deindustrialisierung und einer Akkumulation im kleineren Maßstab bei – wie von Marx behauptet.
Überschussbevölkerung in der Deindustrialisierung: Dienstleistungen und Slums
Die Deindustrialisierung begann in den USA, wo die industrielle Beschäftigung seit den 1960er Jahren relativ und seit den 1980er Jahren auch in absoluten Zahlen sank, aber der Trend weitete sich schnell auf andere Länder mit hohem BIP und schließlich selbst auf Länder und Regionen aus, denen eine nachholende Industrialisierung bescheinigt wurde.28 Das explosive Wachstum eines Niedriglohn-Dienstleistungssektors wog den Rückgang der industriellen Beschäftigung teilweise auf. Er erwies sich jedoch als außerstande, die industrielle Produktion als Basis einer neuen Runde der Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter zu ersetzen. In den vergangenen vierzig Jahren ist das BIP in den USA und Europa von Zyklus zu Zyklus immer langsamer gewachsen (die einzige Ausnahme waren die USA der späten 1990er Jahre), während die Reallöhne stagnierten und die Arbeiter zunehmend auf Kredite angewiesen waren, um ihren Lebensstandard zu halten.
Wenn die Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter, wie wir argumentiert haben, ein dynamisches Wachstum erzeugt, indem Produktivitätssteigerungen in bestimmten Zweigen Kapital und Arbeit freisetzen, die in neuen oder wachsenden Industrien wieder zusammenfinden, dann hat dies bedeutende Konsequenzen für das Verständnis des Wachstums des Dienstleistungssektors. Dienstleistungen sind beinahe definitionsgemäß Tätigkeiten, deren Produktivität allenfalls marginal erhöht werden kann. 29 Die einzig bekannte Weise, ihre Effizienz drastisch zu steigern, ist ihre Verwandlung in Waren, deren industrielle Herstellung mit der Zeit effizienter wird. Viele Industriegüter sind tatsächlich ehemalige Dienstleistungen – das Geschirr der Wohlhabenden wurde früher von Hausangestellten gespült; Spülmaschinen verrichten das heute effizienter und zugleich wird immer weniger Arbeit für ihre Herstellung gebraucht. Die Tätigkeiten, die Dienstleistungen geblieben sind, sind genau diejenigen, für die bislang kein Ersatz in der Warenwelt gefunden werden konnte. 30
Die Tätigkeiten, die Dienstleistungen geblieben sind, sind genau diejenigen, für die bislang kein Ersatz in der Warenwelt gefunden werden konnte.
Die bürgerliche Kategorie der »Dienstleistungen« ist bekanntermaßen sehr unpräzise, da sie von sogenannten »Finanzdienstleistungen« über Büroangestellte bis hin zu den Reinigungskräften eines Hotels und selbst ausgelagerten Produktionsjobs schlechterdings alles einschließt. Viele Marxisten haben sie dem Begriff der unproduktiven Arbeit anzunähern versucht, aber wenn wir die obige Charakterisierung berücksichtigen, wird klar, dass sie näher an Marx‘ Begriff der »formellen Subsumtion« ist. Marx kritisierte Smith für sein metaphysisches Verständnis von produktiver und unproduktiver Arbeit – wonach erstere Güter produziert und letztere nicht – und traf stattdessen eine Unterscheidung zwischen Arbeit, die im Rahmen des kapitalistischen Verwertungsprozesses ausgeführt wird, und solcher, die außerhalb dessen unmittelbar für den Konsumenten verrichtet wird. In den Resultaten des unmittelbaren Produktionsprozesses argumentiert er, dass theoretisch jede unproduktive Arbeit produktiv gemacht werden könne, denn dies erfordere lediglich ihre formelle Subsumtion unter den kapitalistischen Verwertungsprozess. 31 Formell subsumierte Tätigkeiten produzierten jedoch nur absoluten Mehrwert. Um relativen Mehrwert zu produzieren, müsse der materielle Produktionsprozess so verändert werden, dass eine schnelle Erhöhung der Produktivität ermöglicht werde (Kooperation, Manufaktur, Großindustrie und Maschinen) – also reelle Subsumtion. Wenn bürgerliche Ökonomen wie Rowthorn von »technologisch stagnierenden Dienstleistungen« sprechen, greifen sie unwissentlich Marx‘ Begriff eines nur formell, aber nicht reell subsummierten Arbeitsprozesses auf.
So sehen wir heute, wie mit dem Wachstum der Wirtschaft auch der Umfang der Dienstleistungen tendenziell wächst – aber nur durch zusätzlich eingestellte Arbeiter oder durch eine gesteigerte Intensität der Arbeit. In den meisten Dienstleistungsbereichen machen Löhne fast die gesamten Kosten aus, weshalb sie niedrig gehalten werden müssen, damit die Dienstleistung erschwinglich und profitabel bleibt. Dies gilt besonders dann, wenn ihre Konsumenten selbst arm sind, also etwa für McDonalds und Wal-Mart in den USA – oder für das riesige informelle Proletariat in Indien und China. 32
Ein eigentümlicher Mangel der Gegenwartsanalyse besteht darin, dass manche Kreise die Industrialisierung in Ländern mit niedrigem BIP für die Deindustrialisierung in solchen mit hohem BIP verantwortlich machen, während andere die Deindustrialisierung der ersteren auf die Politik von IWF und Weltbank zurückführen, die den Interessen der letzteren diene. In Wirklichkeit sind fast alle Länder der Welt von ein- und derselben globalen Veränderung betroffen, allerdings in unterschiedlichem Grade. In der frühen Nachkriegszeit setzten viele Länder auf den »Fordismus«: Durch einen staatlich geförderten »Technologietransfer« aus Ländern mit hohem BIP konnten sie Methoden der Massenproduktion importieren. Fordismus wird oft als eine nationalökonomische Entwicklungspolitik verstanden, die auf der »Übereinkunft« zwischen Kapital und Arbeitern beruhe, um die Früchte der Produktivitätssteigerung zu teilen. Aber fast von Beginn an basierte er auf einer internationalen Ausweitung des Handels mit Industriegütern. Dessen erneuter Aufschwung in den 1950er und 1960er Jahren kam besonders Europa und Japan zugute: Durch Exportproduktion konnten ihre Kapitale die Grenzen des jeweiligen Binnenmarkts überwinden und so gewaltige Skaleneffekte erzielen. Diesem Muster folgten Mitte der 1960er auch Kapitale in Ländern mit niedrigem BIP, etwa in Brasilien und Südkorea: Selbst wenn sie nur einen kleinen Anteil der rasch wachsenden internationalen Exportmärkte erobern konnten, wuchsen sie weit über die Möglichkeiten ihrer heimischen Märkte hinaus. Für die Periode bis 1973 galt daher, dass die Internationalisierung des Handels mit hohen Wachstumsraten in allen sich industrialisierenden Ländern einherging.
Nach 1973 änderte sich die Situation. Die Märkte für Industriegüter waren zunehmend gesättigt, und immer häufiger konnten wenige Länder den gesamten weltweiten Bedarf abdecken (eine einzige chinesische Firma liefert derzeit mehr als die Hälfte der Mikrowellen in aller Welt). Darin gründet die Krise des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit, eine kombinierte Krise der Überproduktion und der Unterkonsumtion, die von einem weltweiten Fall der Profitrate angezeigt wird und zu vermehrten Formen von Arbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigung führt. Als das Abkommen zwischen Kapital und Arbeit, das immer auf weltweit gesunden Wachstumsraten beruht hatte, zerriss, stagnierten die Löhne. Das Kapital wurde damit in allen Ländern sogar noch abhängiger vom Welthandel, aber von nun an konnten Kapitale in den einen Ländern nur noch auf Kosten von denen in anderen Ländern wachsen. Obwohl sie die Länder mit hohem BIP noch nicht eingeholt hatten, wurden jene mit niedrigem BIP von derselben internationalen Krise erfasst. Die Strukturanpassungsprogramme beschleunigten nur ihren Übergang zu neuen und instabilen internationalen Rahmenbedingungen. In den 1980er und 1990er Jahren setzte in fast allen sich industrialisierenden Ländern die Deindustrialisierung oder zumindest eine Stagnation der industriellen Beschäftigung ein. 33
Als das Abkommen zwischen Kapital und Arbeit, das immer auf weltweit gesunden Wachstumsraten beruht hatte, zerriss, stagnierten die Löhne.
Für Länder, die landwirtschaftlich geprägt blieben oder vom Export traditioneller Güter oder von Rohstoffen abhingen, war die Krise noch verheerender, da die Preise »traditioneller« Artikel angesichts sinkender Nachfrage kollabierten. Auch hier müssen wir auf langfristige Trends zurückblicken. In der frühen Nachkriegszeit konnten Entwicklungen in der Landwirtschaft das Angebot an billigen Lebensmitteln drastisch steigern. Erstens wurde nun in ehemaligen Munitionsfabriken Kunstdünger hergestellt, der eine Steigerung der Flächenproduktivität durch den Anbau neuer Hochleistungssorten ermöglichte. Zweitens erhöhte die Motorisierung und Mechanisierung die Produktivität der landwirtschaftlichen Arbeit. Beides wurde an die Produktion im tropischen Klima angepasst. Kaum hatten die hohen Preise landwirtschaftlicher Erzeugnisse, die mit dem vom Koreakrieg verursachten Wirtschaftsboom einhergingen, die globale Bauernschaft in den Markt hineingezogen, begannen sie daher kontinuierlich zu fallen. Die Abwanderung aus der Landwirtschaft war somit schon in den 1950ern im Gang. Sie war ein Ergebnis nicht nur der Ausdifferenzierung und Vertreibung der Bauern gemäß ihrer Marktfähigkeit, sondern auch des immensen Bevölkerungswachstums (das durch billige Lebensmittel und die moderne Medizin gestützt wurde). Vergrößerte Haushalte bewirkten, dass die traditionellen Vererbungsmuster nun den Grundbesitz pulverisierten, während die steigende Bevölkerungsdichte die Umwelt belastete, da Ressourcen nicht nachhaltig genutzt wurden. 34 Die Strukturanpassungsprogramme der 1980er und 1990er Jahre, die verschuldete Länder zur Streichung von Agrarsubventionen zwangen, waren lediglich der KO-Schlag für Bauern, die bereits auf dem Zahnfleisch krochen.
Daher sollte klar sein, dass die Deindustrialisierung nicht auf eine Industrialisierung der »Dritten Welt« zurückgeht. Der Großteil der Industriearbeiterklasse lebt heute außerhalb der »Ersten Welt«, aber das gilt auch für den Großteil der Weltbevölkerung. So zählen die Länder mit niedrigem BIP zwar absolut, aber nicht relativ zur Bevölkerungsgröße mehr Industriearbeiter. Während die Zahl der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft drastisch zurückgeht, sinkt der Anteil der Industriearbeiter an der Gesamtbeschäftigung. So wie die Deindustrialisierung in den Ländern mit hohem BIP mit einer Abwanderung aus dem herstellenden Gewerbe und dem Unvermögen des Dienstleistungssektors, an dessen Stelle zu treten, einhergeht, gehen in Ländern mit niedrigem BIP die Abwanderung vom Land und das Unvermögen der Industrie, den ländlichen Bevölkerungsüberschuss aufzufangen, mit einem explosiven Wachstum von Slums einher. Behauptete die Weltbank früher, die wachsende Überschussbevölkerung in aller Welt sei nur ein vorübergehendes Phänomen, muss sie heute zugeben, dass es sich um einen permanenten Zustand handelt. Mehr als eine Milliarde Menschen schlagen sich unter furchtbaren Bedingungen durch, indem sie auf der Suche nach Gelegenheitsarbeit endlos zwischen urbanen und ländlichen Slums hin- und herziehen. 35
Überfluss an Kapital bei Überfluss an Bevölkerung
Wir haben beschrieben, wie die Akkumulation des Kapitals über lange Zeiträume dazu führt, dass alte Produktionszweige Kapital und Arbeit abstoßen, die in neuen und expandierenden Zweigen wieder zusammengebracht werden. Dies ist die Dynamik des Kapitals, die zugleich zu seiner eigenen Schranke wird. Da Kapital unabhängig davon abgestoßen wird, ob es produktive Investitionskanäle findet oder nicht, wird irgendwann der Punkt erreicht, an dem sich »überschüssiges« Kapital neben den von ihm nicht länger beschäftigten Arbeitskräften aufstaut. Marx diskutiert diese Phänomene im dritten Band des Kapital unter der Überschrift »Überfluss an Kapital bei Überfluss an Bevölkerung« 36. Bislang haben wir uns auf das zweite Phänomen konzentriert, vor allem deshalb, weil es in der Marx-Rezeption kaum beachtet wird. Abschließend wollen wir den Blick auf die gegenwärtigen Ausdrücke des ersten Phänomens richten, da die Geschichte des Kapitalüberflusses die der Überschussbevölkerung zugleich vermittelt und verzerrt. Leider können wir dieses Thema hier nur anschneiden, das im dritten Heft von Endnotes eingehender behandelt werden soll.
Unbeschadet aus dem Zweiten Weltkrieg gekommen, entwickelten sich die USA zum fortgeschrittensten kapitalistischen Land, das über den größten Binnenmarkt, den kleinsten in der Landwirtschaft beschäftigten Bevölkerungsanteil und die technisch entwickeltste Industrie verfügte. Manchen Schätzungen zufolge zeichneten sie für mehr als die Hälfte der weltweiten Produktion verantwortlich. 37 Zudem gingen die USA aus dem Krieg als der globale Kreditgeber schlechthin hervor, dem zwei Drittel der weltweiten Goldreserven gehörten und dem die meisten Kriegsalliierten immense Summen schuldeten. Unter diesen Bedingungen waren die USA in der Lage, das internationale Währungssystem, das seit der Großen Depression in Trümmern gelegen hatte, unter ihren Bedingungen zu rekonstruieren. Auf der Konferenz von Bretton Woods wurde der Dollar als internationale Reservewährung etabliert, die als einzige Währung den Goldstandard behielt und an welche die anderen Währungen in einem System fester Wechselkurse gebunden wurden, das allerdings gelegentliche Anpassungen zuließ. So wurden einerseits die europäischen Staaten, indem sie ihre Währungen an den Dollar koppelten, während des Wiederaufbaus zeitweilig von der Notwendigkeit entbunden waren, ihre Haushalte auszugleichen. Andererseits sicherten sich die USA, indem sie den Wiederaufbau Europas förderten, Märkte für den Kapitalexport, der wiederum die europäische Abnahme amerikanischer Waren förderte. Auf diese Weise bildeten die US-Kapitalexporte die Grundlage der europäischen Haushaltsdefizite und war eine anhaltend unausgeglichene transatlantische Handelsbilanz de facto eine Bestimmung der Verträge von Bretton Woods. Dieses Ungleichgewicht verschwand allerdings bald.
Von diesem Zeitpunkt an musste der Kampf um Exportanteile zu einem Nullsummenspiel werden.
Mithilfe des Dollarzustroms, der sich durch (häufig militärische) Direktinvestitionen, Anleihen und Kredite vollzog, importierten die europäischen Länder sowie die in Europa agierenden US-Konzerne amerikanische Kapitalgüter, um ihre Produktionskapazitäten zu erweitern. Dasselbe geschah in Japan, wo der Korea-Krieg die Rolle des Marshall-Plans übernahm (wenngleich es in Japan kaum US-Tochterfirmen gab). All dies wurde von den USA unterstützt, die den weltweiten Transfer ihrer Technologien der Massenproduktion und des Handels förderten. In den 1960er Jahren hatten viele Länder ihre Produktionskapazitäten so weit entwickelt, dass sie nicht länger von den US-Importen abhängig waren. Mehr noch: Einige von ihnen begannen mit den amerikanischen Herstellern zu konkurrieren, auf die sie kurz zuvor noch angewiesen waren. Diese Konkurrenz spielte sich zunächst auf den Märkten von Drittstaaten, schließlich aber auch auf dem US-Markt selbst ab. Das daraus resultierende US-Handelsbilanzdefizit ab der Mitte der 1960er Jahre verdeutlichte, dass die Epoche des Aufbaus globaler industrieller Sektoren ihre Grenzen erreicht hatte. Von diesem Zeitpunkt an musste der Kampf um Exportanteile zu einem Nullsummenspiel werden.
Aufgrund dieses Umbruchs förderte der Dollarexport durch Direktinvestitionen, der während des Nachkriegsbooms ein rasches Wachstum der Defizitländer ermöglicht hatte, nun zunehmend inflationäre Tendenzen. 38 Das mit dem Vietnamkrieg beständig wachsende US-Haushaltsdefizit verschärfte das Problem der Inflation noch, während die offenbar unausweichliche Abwertung des Dollar die Währungsreserven sämtlicher Länder – und somit den internationalen Zahlungsausgleich – anzugreifen drohte: Das System der festen Wechselkurse wurde bis an seine Grenzen strapaziert. Infolgedessen begannen zum einen viele Zentralbanken, ihre Dollarreserven in Gold umzutauschen (sodass die USA die Dollar-Gold-Konvertibilität 1968 de facto aufheben mussten). Zum anderen begannen die akkumulierten Dollarüberschüsse auf den Eurodollar-Märkten einen Spekulationsdruck auf die Währungen der exportorientierten Volkswirtschaften auszuüben, für die eine Dollarabwertung die größten Risiken barg. Dazu zählten ebenso Entwicklungsländer, die ihre Währungen an den Dollar gekoppelt hatten und sich folglich der Gefahr ausgesetzt sahen, dass ihre Rohstoffexporte gegenüber den Industriegüterimporten, die sie für ihre Entwicklung benötigten, an Wert verlieren würden, wie auch entwickelte Volkswirtschaften, deren Exportmärkte durch eine Währungsaufwertung gegenüber dem Dollar wegzubrechen drohten. Mit der darauf folgenden Aufgabe des Bretton-Woods-Systems und ihrer bewussten Gleichgültigkeit gegenüber dem Haushaltsdefizit nutzten die USA die Drohung der Dollarabwertung dazu, dem Rest der Welt ein neues flexibles System der Bindung an den Dollar als Weltreservewährung aufzuzwingen. Die Aufgabe, den Dollar zu stabilisieren, wurde damit de facto an die anderen Zentralbanken delegiert, die ihre Dollarüberschüsse in US-Staatsanleihen investieren mussten, um den Dollarwert ihrer eigenen Währungen zu erhalten. Letztlich befreite dies die USA von jedem Zwang zur Haushaltsdisziplin: Sie konnten nach Belieben Defizite anhäufen und Dollar drucken, wussten sie doch, dass den anderen Staaten gar nichts anderes blieb, als ihre Dollarüberschüsse wieder in die amerikanischen Finanzmärkte einzuspeisen, namentlich in US-Staatsanleihen, die rasch anstelle von Gold zur globalen Reservewährung wurden. 39
Die Anlagen dieser Dollarüberschüsse gaben den globalen Finanzmärkten gewaltigen Auftrieb, wo sie zum Schlüsselfaktor der plötzlichen Schwankungsanfälligkeit der Währungsmärkte wurden – sie waren zugleich ihre Ursache und das einzige Mittel, sich gegen sie abzusichern. Aber in den folgenden dreißig Jahren veränderten sie auch das Gefüge der Weltwirtschaft und prägten ihr Wachstum. Weil ihr gigantischer Umfang weit über dem globalen Investitionsbedarf lag, wurden die überschüssigen Dollar zur Quelle einer immer ausgedehnteren Staats- und Konsumentenverschuldung sowie spekulativer Finanzblasen. So wurden sie zu einer Art Gespenst, das um die Welt zieht: In jeder Volkswirtschaft, die das Pech hatte, die Aufmerksamkeit der Anleger zu erregen, führten sie zu beispiellosen Blasen. 40
Die Serie von Blasen und Pleiten nahm ihren Anfang im Lateinamerika der späten 1970er Jahre. Ein Zustrom von Petrodollars, zusätzlich stimuliert durch die negativen Zinssätze der amerikanischen Zentralbank, brachte eine Unmenge neuer riskanter Finanzprodukte hervor (inklusive der berühmten »Kredite mit flexibler Verzinsung«), die allesamt in sich zusammenfielen, als der Volcker-Schock die Zinssätze wieder steigen ließ. Es waren die überschüssigen Dollar aus Japan, die die USA vor der folgenden Deflation retteten und Reagans gewaltige keynesianische Ausgabenprogramme ermöglichten. Doch die USA bedankten sich bei Japan für diese Freundlichkeit, indem sie den Dollar im Plaza-Abkommen von 1985 gegenüber dem Yen abwerteten und die japanische Wirtschaft so in eine noch größere Anlageblase trieben, die schließlich 1991 platzte. Dies führte wiederum zu einer Reihe von Blasen in den anderen ostasiatischen Volkswirtschaften, in die Japan, um den Folgen der Yen-Aufwertung zu entgehen, seine Produktionskapazitäten ausgelagert hatte. Die Implosion dieser Volkswirtschaften, wie auch die der lateinamerikanischen, die ihre Währungen an den Dollar gebunden hatten, stellte dann schließlich das verzögerte Resultat der Dollaraufwertung durch das umgekehrte Plaza-Abkommen von 1995 dar. Damit verlagerte sich die Blase aber lediglich zurück in die USA, wo der durch den aufwertenden Dollar angetriebene Höhenflug des Aktienmarktes in der Dotcom-Blase mündete. Auf diese wiederum folgte ab 2001 eine Immobilienblase, da der Kreditbedarf der US-Unternehmen nicht ausreichte, um die globalen Dollarüberschüsse zu absorbieren. Dass diese beiden letzten Blasen weitgehend auf die USA beschränkt blieben (wobei die Immobilienblase auch Europa erreichte), hat den Grund, dass diese aufgrund ihrer Größe und währungspolitischen Privilegien heute die einzige Volkswirtschaft sind, die einem solchen Zustrom an Überschussdollar über längere Zeit standhalten kann.
Sobald die Zinssätze zu steigen beginnen und das Spekulationsfieber nachlässt, müssen die Blasen zwangsläufig platzen – eine nach der anderen.
Wenn wir diese Phänomene in die oben beschriebene Geschichte der Deindustrialisierung und Stagnation einordnen, dann ergibt sich das Bild einer Reise nach Jerusalem: die Ausbreitung von Industrien über den Globus verstärkt – gepaart mit dem Anstieg der Produktivität – beständig die globalen Überkapazitäten. Dieser Überhang an Produktionskapazitäten ist nur noch aufrechtzuerhalten, indem sein drückendes Gewicht beständig von einer aufgeblähten Volkswirtschaft in die nächste verlagert wird. Diese wiederum können den Überschuss allein dadurch absorbieren, dass sie sich bei extrem niedrigen kurzfristigen Zinssätzen verschulden und so zu fiktivem Reichtum gelangen. Sobald aber die Zinssätze zu steigen beginnen und das Spekulationsfieber nachlässt, müssen die Blasen zwangsläufig platzen – eine nach der anderen.
Viele haben dieses Phänomen als »Finanzialisierung« beschrieben – ein vager Begriff, der eine wachsende Dominanz des Finanzkapitals gegenüber dem Industrie- und Handelskapital suggeriert. Aber solche Geschichten über den »Aufstieg der Finanzmärkte« verdunkeln durchweg sowohl die Quellen des Finanzkapitals als auch die Gründe dafür, dass der Finanzsektor weiter wächst, obwohl er zunehmend Schwierigkeiten hat, seine Renditen zu erhalten. Was das erste betrifft, ist neben dem bereits beschriebenen Dollarüberschuss zu bedenken, dass die Stagnation in den Zweigen jenseits des Finanzsektors die Investitionen zunehmend in Börsengänge, Fusionen und Übernahmen lenkt, wodurch sich für Finanzunternehmen Provisionen und Dividenden ergeben. Was das zweite betrifft, führt der Mangel an produktiven Investitionsmöglichkeiten zusammen mit einer expansiven Geldpolitik zu derart niedrigen kurz- wie langfristigen Zinssätzen, dass die Finanzunternehmen nur noch durch immer riskantere Geschäfte ihre Renditen halten können. Diese wachsenden Risiken (in denen sich die sinkende Profitabilität im Finanzsektor ausdrückt) werden wiederum durch immer komplexere »innovative Finanzprodukte« kaschiert, deren periodische Zusammenbrüche staatliche Rettungsaktionen erforderlich machen.
Die beispiellose Schwäche des Wachstums in den Ländern mit hohem BIP von 1997 bis 2009, das Nullwachstum der Haushaltseinkommen und der Beschäftigung während des gesamten Zyklus, die Tatsache, dass das BIP fast ausschließlich durch die Bauwirtschaft und die Verschuldung der Privathaushalte aufrechterhalten wurde – all dies bezeugt die Unfähigkeit des Überflusskapitals in seiner finanziellen Gestalt, sich mit den überschüssigen Arbeitskräften zu verbinden und dynamische Muster einer erweiterten Reproduktion herbeizuführen. 41 Die Blasen im Europa der Mitte des 19. Jahrhunderts hinterließen nationale Eisenbahnsysteme. Selbst die japanische Blase der 1980er Jahre brachte neue, niemals voll ausgelastete Fertigungskapazitäten hervor. Im Gegensatz dazu haben die beiden Blasen der vergangenen Jahrzehnte, deren Mittelpunkt in Amerika lag, nur eine Schwemme von Telekommunikationskabeln in einer zunehmend drahtlosen Welt sowie riesige Neubaugebiete hinterlassen, die wirtschaftlich wie ökologisch nicht nachhaltig sind. Greenspans Niedrigzinspolitik – die Stimulation eines »Booms in der Blase« – erwies sich als Fehlschlag. Sie zeigte nur, dass es immer weniger hilft, noch mehr Schulden in ein bereits überschuldetes System zu pumpen.
…und China?
Ein gängiger Einwand gegen das von uns gezeichnete Bild globaler Stagnation ist der Hinweis auf China, das gerade im Hinblick auf die weltweiten Tendenzen zu Deindustrialisierung und Unterbeschäftigung eine klare Ausnahme darstelle. Natürlich ist China im genannten Zeitraum zu einem globalen industriellen Kraftzentrum geworden – allerdings nicht durch die Öffnung neuer Märkte oder die Entwicklung innovativer Produktionstechniken, sondern durch eine massive Ausweitung seiner industriellen Kapazitäten auf Kosten anderer Länder. 42 Es wird allgemein angenommen, dass diese Expansion ein historisch bedeutsames Wachstum der chinesischen Industriearbeiterklasse bewirkt haben müsse, doch das ist schlichtweg falsch. Wie die neuesten Statistiken zeigen, wurden in China von 1993 bis 2006 unter dem Strich überhaupt keine neuen Jobs im verarbeitenden Gewerbe geschaffen, deren Zahl nach wie vor um 110 Millionen schwankt. 43 Aus zwei Gründen ist dies weniger überraschend, als es auf den ersten Blick scheinen muss.
Erstens ging der Aufbau neuer Industrien im Süden, der anfänglich auf der Weiterverarbeitung von Exporten aus Hongkong und Taiwan beruhte, mit der Abwicklung der alten, unter Mao geschaffenen Industrien im Nordosten einher. Dies erklärt auch teilweise, warum China, anders als Deutschland, Japan oder Korea in den Nachkriegsjahren, während mehrerer Jahrzehnte rasanten Wachstums nahezu gar keine Reallohnsteigerungen verzeichnete.
Nicht nur hat China in den älteren Industrien Arbeitsplätze verloren, gemessen am Produktionsausstoß haben auch die neuen Industrien weniger Arbeitskräfte absorbiert.
Zweitens basiert Chinas Wachstum nicht nur auf arbeitsintensiver Fertigung. Seine geringen Lohnkosten haben es dem Land erleichtert, in einem breiten Spektrum von Industriezweigen – von der Textil- und Spielzeugproduktion bis hin zur Herstellung von Autos und Computern – konkurrenzfähig zu werden. Die Übernahme arbeitssparender Innovationen durch Unternehmen in Entwicklungsländern, und eben auch in China, hat zur Folge, dass der Anteil der Industrie an der Gesamtbeschäftigung bei jeder neuen Gruppe sich industrialisierender Länder geringer ausfällt. Und das bedeutet: Nicht nur hat China in den älteren Industrien Arbeitsplätze verloren, gemessen am Produktionsausstoß haben auch die neuen Industrien weniger Arbeitskräfte absorbiert.
Im 19. Jahrhundert, als England noch die Werkbank der Welt war, waren 95 Prozent der Menschen Bauern. Heute, da die übergroße Mehrheit der Weltbevölkerung in ihrer Existenz vom Weltmarkt abhängig ist, bedeutet die Fähigkeit eines einzelnen Landes, den Bedarf aller anderen abzudecken, den Ruin – sowohl derer, die zur Dämpfung der Exportpreise in Armut gehalten werden müssen, als auch jener Massen, deren Arbeitskraft nicht länger benötigt wird, die aber auch über keine eigenen Mittel zum Überleben mehr verfügen. In diesem Kontext kann die verbliebene Weltbauernschaft auch nicht mehr als Hebel der Modernisierung dienen, das heißt als Quelle von Arbeitskraft wie Marktnachfrage, die für eine beschleunigte Industrialisierung erschlossen werden könnte. Sie wird zu einem reinen Überschuss. Das gilt für Indien und das subsaharische Afrika – und für China.
Zusammenfassung
Es ist heute viel von einem »Aufschwung ohne Arbeitsplätze« die Rede, aber wenn das »allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation« gelte, müsste dies tendenziell ein Charakteristikum aller kapitalistischen Aufschwünge darstellen. Die Tendenz »reifer« Industrien zur Freisetzung von Arbeitskraft erleichtert zwar eine erweiterte Reproduktion, verfestigt aber zugleich einen Bevölkerungsüberschuss, der durch die folgende Expansion nicht mehr absorbiert werden kann. Grund dafür ist die modifizierte Anwendung arbeitssparender Technologien quer durch die Produktionszweige hindurch: Bei der Herstellung neuer Produkte kommen meist die innovativsten Verfahren zum Einsatz. Doch während Prozessinnovationen bleibend sind und sich in neuen wie alten Zweigen durchsetzen, sind Produktinnovationen von Natur aus nur begrenzt in der Lage, einen Nettozuwachs an Produktion und Beschäftigung hervorzubringen. Das Problem besteht hier nicht nur darin, dass Produktinnovationen immer schneller auftreten müssen, um den durch Prozessinnovationen freigesetzten Überschuss aufzufangen – vielmehr beschleunigt gerade ihr immer schnelleres Auftreten wiederum die Prozessinnovationen. 44
Doch wenn das »allgemeine Gesetz« aus den oben gezeigten Gründen während großer Teile des 20. Jahrhunderts außer Kraft gesetzt war, lässt sich das gegenwärtige Wachstum einer globalen Masse von Unterbeschäftigten nicht darauf zurückführen – zumindest nicht in einem schlichten Sinn, dass es sich nun wieder geltend machen würde. Denn die Entwicklung des Überschusskapitals verzerrt die von Marx beschriebene Entwicklung der überschüssigen Arbeitskraft, und dies nicht nur wie oben beschrieben. Vor allem konnte das überschüssige Kapital, das sich in den letzten dreißig Jahren auf den internationalen Geldmärkten aufgestaut hat, bestimmte Tendenzen zur absoluten Verelendung verdecken, indem es eine wachsende Privatverschuldung in der Arbeiterklasse gefördert hat. Dies verhinderte zwar einen völligen Einbruch der globalen Nachfrage, blockierte aber zugleich jeglichen Aufschwung, der nur durch die »Vernichtung von Kapital« und die »Freisetzung von Arbeitskraft« hätte ermöglicht werden können. Doch während eine Entwertung von Anlagen einen neuen Investitionsschub ermöglichen könnte, muss die Entwertung von Arbeitskraft in diesem Zusammenhang zu wachsender Überschuldung von Verbrauchern und weiteren finanziellen Zusammenbrüchen führen. Daher ist heute nicht nur fraglich, ob der Aufschwung Arbeitsplätze schafft, sondern ob er überhaupt von Dauer sein kann.
Die Katastrophe, die wir erwarten, ist keine Zukunftsmusik, sondern bloß die Fortsetzung der grauenvollen Entwicklung der Gegenwart.
In den kommenden Jahrzehnten könnte es zu einer Kette von Zusammenbrüchen kommen, sofern die Staaten nicht den globalen Deflationsdruck bewältigen, oder zu einem langen allmählichen Niedergang. Wir neigen nicht zu Katastrophismus, aber wir warnen davor, zu vergessen, dass sich die Geschichte mitunter in unberechenbarer Weise beschleunigt. Wie auch immer: Die Katastrophe, die wir erwarten, ist keine Zukunftsmusik, sondern bloß die Fortsetzung der grauenvollen Entwicklung der Gegenwart. Schon jetzt haben wir Jahrzehnte wachsender Armut und Arbeitslosigkeit hinter uns. Wer meint, dass es in den noch industrialisierten Ländern halb so schlimm sei, dass die Leute ruhig bleiben werden – kurz: dass das Proletariat gleichgültig gegenüber seinem Elend geworden sei –, dessen Einschätzung wird in den kommenden Jahren, wenn der Verschuldungsgrad sinkt und die Haushaltseinkommen ihren Abwärtstrend fortsetzen, auf den Prüfstand kommen. So oder so kann ein riesiger Teil der Weltbevölkerung die überdeutlichen Anzeichen der Katastrophe gar nicht mehr leugnen. Jede Frage nach der Absorption dieser überschüssigen Menschen ist zu den Akten gelegt worden. Sie existieren nur noch als Zielscheibe staatlicher Maßnahmen: Ausgesondert in die Gefängnisse, marginalisiert in Ghettos und Lagern, diszipliniert durch die Polizei und vernichtet durch Kriege.
Endnotes
Zuerst erschienen in Endnotes 2 (2010), online abrufbar unter: endnotes.org.uk.
- 1. Vgl. FAOSTAT Statistical Database, Food and Agriculture Organization of the United Nations, http://www.fao.org/FAOSTAT (2009).
- 2. Robert Rowthorn/Ken Coutts, Deindustrialisation and the Balance of Payments in Advanced Economies (United Nation Conference on Trade and Development, Discussion Paper 170, Mai 2004), 2.
- 3. Wenn wir auf die Tendenz des Kapitals hinweisen, einen Mangel an Arbeitsplätzen inmitten eines Überflusses an Gütern zu erzeugen (die so im Verhältnis zur effektiven Nachfrage künstlich verknappt werden), reden wir natürlich nicht der Forderung nach »mehr Arbeitsplätzen« das Wort. Wie wir zeigen werden, müssen solche Forderungen vergeblich bleiben, solange der Verkauf der eigenen Arbeitskraft die maßgebliche Form des Lebensunterhalts ist.
- 4. Das muss nicht immer mit den von Marx beschriebenen gewaltsamen Mitteln geschehen. Im 20. Jahrhundert verloren viele Bauern ihren direkten Zugang zu Land nicht durch Enteignung, sondern durch die immer stärkere Aufteilung ihrer Grundstücke im Laufe der Generationen. So wurden Kleinbauern zunehmend vom Markt abhängig, hatten aber einen Wettbewerbsnachteil gegenüber größeren Betrieben und verloren schließlich ihr Land.
- 5. Marx bezeichnet die einfache Reproduktion gelegentlich als abstraktes Gedankenexperiment – über einen Kapitalismus ohne Wachstum –, aber beließe man es dabei, entgingen einem die Einsichten in den inneren Mechanismus des Akkumulationsprozesses, die der Begriff bietet. Das Kapitel über einfache Reproduktion schließt mit dem Satz: »Der kapitalistische Produktionsprozeß, im Zusammenhang betrachtet oder als Reproduktionsprozeß, produziert also nicht nur Ware, nicht nur Mehrwert, er produziert und reproduziert das Kapitalverhältnis selbst, auf der einen Seite den Kapitalisten, auf der andren den Lohnarbeiter.« (Karl Marx, Das Kapital, Erster Band, MEW 23, 604)
- 6. Ebenda, 599.
- 7. Marxisten klammern Probleme der Nachfrage aufgrund eines vermeintlichen neoklassischen Monopols auf den diesbezüglichen Diskurs meist aus, aber Marx selbst kannte diese Scheu nicht. Der Zwang zur Marktausweitung und zum Kampf um Markanteile ist für die Mechanismen des Wertgesetzes von grundlegender Bedeutung. Vgl. ebenda, 336.
- 8. Marktsättigung ist keine Frage der absoluten ge- und verkauften Produktmengen, sondern eines veränderten Verhältnisses zwischen der Wachstumsrate der Herstellerkapazitäten und der Nachfrage.
- 9. Dieser Prozess gilt nur für Konsumgüterindustrien. Kapitalgüterindustrien wachsen und schrumpfen tendenziell entsprechend den Erfordernissen der jeweils »führenden« Konsumgüterindustrien eines Zyklus. Allerdings ist die Beziehung zwischen den beiden Abteilungen komplizierter. Wie wir zeigen werden, können arbeitssparende »Prozessinnovationen« in Abteilung 1 zu »Produktinnovationen« in Abteilung 2 und so zu einer Expansion des Gesamtmarktes führen.
- 10. Marx, Kapital, Erster Band, 662.
- 11. Vgl. Joseph Schumpeter, Konjunkturzyklen. Eine theoretische, historische und statistische Analyse des kapitalistischen Prozesses, Göttingen 2008.
- 12. Die schließlich veröffentlichte Fassung des ersten Bands wurde 1866/67 geschrieben, also nach den Materialien für den dritten, die größtenteils von 1863 bis 1865 entstanden. Eine plausible Erklärung für die verblüffenden Parallelen zwischen Kapitel 23 im ersten und Kapitel 15 im dritten Band könnte daher lauten, dass Marx wesentliche Elemente aus dem Material für den dritten Band in den ersten Band übernahm, da er die Schwierigkeiten ahnte, den dritten Band in absehbarer Zeit fertigzustellen.
- 13. Marx, Kapital, Erster Band, 673f.
- 14. Diese Überschussbevölkerung muss nicht unbedingt gänzlich »außerhalb« der kapitalistischen Verhältnisse stehen. Auch wenn das Kapital diese Arbeiter nicht braucht, brauchen diese doch Arbeit. Sie sind folglich gezwungen, sich für die elendesten Formen von Lohnsklaverei in Gestalt von Kleinstgewerbe und Dienstleistungen anzubieten.
- 15. Übersetzt nach der französischen Ausgabe: Marx Engels Gesamtausgabe (MEGA), II.7, 552, 556, 553.
- 16. Marx, Kapital, Erster Band, 657.
- 17. Marx stellt sich dies mitunter als eine revolutionäre Krise vor: »Eine Entwicklung der Produktivkräfte, welche die absolute Anzahl der Arbeiter verminderte, d.h. in der Tat die ganze Nation befähigte, in einem geringern Zeitteil ihre Gesamtproduktion zu vollziehn, würde Revolution herbeiführen, weil sie die Mehrheit der Bevölkerung außer Kurs setzen würde.« (Karl Marx, Das Kapital, Dritter Band, MEW 25, 274.)
- 18. Vgl. Marx, Kapital, Erster Band, 469.
- 19. Ebenda, 660.
- 20. Man kann sich eine Welt vorstellen, in der arbeitssparende Innovationen nicht die Zahl der Arbeiter in einer gegebenen Industrie, sondern ihre Arbeitszeit verringern. Da Kapitalisten ihren Profit jedoch dem Wert verdanken, den der Arbeiter über den zur Zahlung seines Lohn erforderlichen hinaus schafft, liegt Arbeitszeitverkürzung nie in ihrem Interesse (nur Staatseingriffe oder Bewegungen der Arbeiter zwingen sie dazu). Ohne eine entsprechende Lohnsenkung würde sie die Profite direkt schmälern. Die Eigentümlichkeiten einer auf Lohnarbeit beruhenden gesellschaftlichen Form zwingen Kapitalisten folglich dazu, die Zahl der Arbeiter und nicht die Arbeitszeit zu verringern, wodurch sie die Arbeitskosten im Verhältnis zum zugesetzten Wert senken und massenhaft Menschen auf die Straße setzen.
- 21. Marx, Kapital, Erster Band, 642.
- 22. Ebenda, 642, Anm. 70.
- 23. Um die Teilung der Welt in eine Minderheit reicher Staaten und eine verarmte Mehrheit zu beschreiben, verwenden wir hier die Bezeichnungen »Länder mit hohem/niedrigem BIP« (pro Kopf). Sie sind zwar auch nicht ganz befriedigend, stehen aber nicht wie andere Unterscheidungen mit zweifelhaften politischen und theoretischen Analysen im Zusammenhang (z. B. Erste Welt/Dritte Welt, Zentrum/Peripherie, entwickelt/unterentwickelt, imperialistisch/unterdrückt).
- 24. Im Folgenden behandeln wir nur das zweite Phänomen. Mit dem ersteren befasst sich Maya Gonzales, Notes on the New Housing Question, Endnotes 2 (2010).
- 25. Der Unterschied zwischen der Zeitersparnis, die der Schienentransport den Konsumenten ermöglichte, und der Arbeits- und Zeitersparnis für den Kapitalisten wurde selbst immer unbedeutender, da das kapitalistische Verständnis von Zeit als einer knappen, mit äußerster Sparsamkeit zu nutzenden Ressource zunehmend die gesamte Gesellschaft dominierte.
- 26. »Nicht nur wird eine in wachsender Progression beschleunigte Akkumulation des Gesamtkapitals erheischt, um eine zusätzliche Arbeiterzahl von gegebner Größe zu absorbieren oder selbst, wegen der beständigen Metamorphose des alten Kapitals, die bereits funktionierende zu beschäftigen. Ihrerseits schlägt diese wachsende Akkumulation und Zentralisation selbst wieder um in eine Quelle neuer Wechsel der Zusammensetzung des Kapitals oder abermalig beschleunigter Abnahme seines variablen Bestandteils, verglichen mit dem konstanten.« (Marx, Kapital, Erster Band, 658.)
- 27. Vgl. Beverly Silver, Forces of Labor. Arbeiterbewegung und Globalisierung seit 1870, Berlin 2005.
- 28. In keinem Land (mit Ausnahme Großbritanniens) ging die Deindustrialisierung mit einem Rückgang der industriellen Produktionsleistung einher. In den USA entfielen 1999 auf die Industrie noch 46 Prozent der Profite, aber nur 14 Prozent der Beschäftigten.
- 29. Vgl. Robert Rowthorn/Ramana Ramaswamy, Deindustrialization: Causes and Implications. IMF Working Paper 97/42, April 1997.
- 30. Vgl. Jonathan Gershuny, Die Ökonomie der nachindustriellen Gesellschaft. Produktion und Verbrauch von Dienstleistungen, Frankfurt am Main 1981.
- 31. Vgl. Karl Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Frankfurt am Main 1969, 64-74.
- 32. Viele Dienstleistungsjobs existieren nur aufgrund von Lohnunterschieden, das heißt massiver sozialer Ungleichheit. Marx merkte an, dass es im viktorianischen England mehr Hausangestellte als Industriearbeiter gegeben hatte (Marx, Kapital, Erster Band, 469). Mit dem Anstieg der Reallöhne konnten sich immer weniger Haushalte der Mittelschicht (wie der von Marx) Bedienstete leisten. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts verschwanden diese bettelarmen Arbeiter, nur um als »Dienstleister« in allen Teilen der Welt wieder aufzutauchen.
- 33. Vgl. Sukti Dasgupta/Ajit Singh, Will Services be the New Engine of Indian Economic Growth?, Development and Change 6 (2006).
- 34. Das bedeutet nicht, dass die Welt relativ zur Lebensmittelproduktion überbevölkert ist. Wie wir gezeigt haben, hing die Abwanderung vom Land mit einer massiven Produktivitätssteigerung der Landwirtschaft zusammen. Die Lebensmittelproduktion pro Kopf ist kontinuierlich gestiegen, auch wenn sich das Bevölkerungswachstum mit dem bevorstehenden demografischen Übergang verlangsamt. Marx‘ Begriff der Überschussbevölkerung hat mit Malthusianismus nichts gemein; es ist ein Überschuss allein im Verhältnis zur Kapitalakkumulation.
- 35. Vgl. Mike Davis, Planet der Slums, Berlin/Hamburg 2006.
- 36. Es ist kein Widerspruch, daß diese Überproduktion von Kapital begleitet ist von einer mehr oder minder großen relativen Überbevölkerung. Dieselben Umstände, die die Produktivkraft der Arbeit erhöht, die Masse der Warenprodukte vermehrt, die Märkte ausgedehnt, die Akkumulation des Kapitals, sowohl der Masse wie dem Wert nach, beschleunigt und die Profitrate gesenkt haben, dieselben Umstände haben eine relative Überbevölkerung erzeugt und erzeugen sie beständig, eine Überbevölkerung von Arbeitern, die vom überschüssigen Kapital nicht angewandt wird wegen des niedrigen Exploitationsgrads der Arbeit, zu dem sie allein angewandt werden könnte, oder wenigstens wegen der niedern Profitrate, die sie bei gegebnem Exploitationsgrad abwerfen würde.« Marx, Kapital, Bd. 3, 266.
- 37. Daniel Brill, The Changing Role of the United States in the World Economy, in: John Richard Sargent/Matthijs van den Adel (Hg.), Europe and The Dollar in the World-Wide Disequilibrium, Alphen ad Rijn 1981, 19.
- 38. Marxisten führen die damalige Inflation meist auf das (vor allem aufgrund des Vietnamkriegs) explodierende US-Haushaltsdefizit oder die zunehmende Stärke der Arbeiter zurück. Vgl. dagegen Anwar Shaikh, Explaining Inflation and Unemployment, in: Andriana Vachlou (Hg.), Contemporary Economic Theory, London 1999.
- 39. Michael Hudson, Super Imperialism: The Origin and Fundamentals of U.S. World Dominance, London 2003.
- 40. Die folgende Darstellung lehnt sich stark an Robert Brenners Analyse an. Vgl. insbesondere das Vorwort zur spanischen Ausgabe seines Buches Economics of Global Turbulence: »What is Good For Goldman Sachs is Good For America: the Origins of the Current Crisis« (2009).
- 41. Josh Bivens/John Irons, A Feeble Recovery: The Fundamental Economic Weaknesses of the 2001-07 expansion, EPI Briefing Paper 214, Economic Policy Institute (2008).
- 42. In den 1990er Jahren verlagerte Japan seine stärker arbeitsintensiven Industrien in asiatische Entwicklungsländer – erst in die ostasiatischen Tigerstaaten, dann in die ASEAN-Länder und schließich nach China. Chinas Aufnahme von Industrien aber hat die Hierarchie der Produktion innerhalb der Region untergraben.
- 43. Vgl. Erin Lett/Judith Banister, Chinese Manufacturing Employment and Compensation Costs: 2002-2006, Monthly Labor Review 132 (2009), 30.
- 44. Vgl. Anm. 26.
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