Editorial Heft 3

21. November 2011

Weltweit überstürzen sich die Ereignisse im Takt einer Krise, deren Ende noch vor Kurzem frohgemut von Leuten verkündet wurde, die in aberwitziger Staatsverschuldung offenbar ein Rezept für Wirtschaftswunder vermutet hatten. Indem sie sich bis über beide Ohren verschuldeten, konnten die Regierungen in aller Welt die sogenannte Finanzkrise eindämmen; dann präsentierten die Ratingagenturen ihnen eine Rechnung, die sie umgehend an die Lohnabhängigen weiterreichten. Das Resultat des ganzen Manövers ist kein neuer Aufschwung, sondern eine noch bedrohlichere Krise der Staatsfinanzen, deren Bewältigung durch knallharte Sparprogramme für Unmut sorgt. Es regt sich Widerstand. Wir befinden uns an der Schwelle zu einer sozialen Krise. Immer deutlicher dämmert es denjenigen, die die Auswirkungen der staatlichen Sparmaßnahmen in ihrer täglichen Existenz zu spüren bekommen, dass dies keine vorübergehenden schmerzhaften, aber notwendigen Opfer sind. Es wird ihnen bewusst, dass die drastischen Einschnitte nicht nur für Jahre oder sogar Jahrzehnte Bestand haben werden, sondern dass ihre Zukunft noch düsterer zu werden droht. Wir erleben wahrscheinlich den Beginn einer neuen Epoche: Seitdem die Gesellschaft auf den Boden der ökonomischen Tatsachen zurückgeholt wurde, ist der kulturalistische Karneval der Differenzen vorbei. Unter dem bunten Überbau der Gesellschaft kommt, in orthodoxer Diktion, ihre eintönige gemeinsame Basis wieder zum Vorschein. Und was um die Verknüpfung von Kämpfen bemühten Aktivisten in Jahrzehnten nicht gelang, hat die globale Krise binnen kürzester Zeit geschafft: Millionen gehen gleichzeitig an allen Orten der Welt mit den selben Anliegen auf die Straße. Es geht um das immer prekärere Überleben in den herrschenden Verhältnissen. Es geht ums Ganze.

 

Der befürchtete Zusammenbruch der Finanzmärkte wurde durch umfangreiche staatliche Interventionen verhindert; exorbitante Konjunkturprogramme konnten die Industrie stabilisieren, hier und da sogar einen vorübergehenden Wirtschaftsaufschwung herbeizaubern. Vor allem Deutschland konnte sich zeitweilig mit seinem Exportboom, nicht zuletzt auf Kosten der schwächelnden Konkurrenz, als Krisengewinnler profilieren, um sich sogleich zum Wortführer der Austeritätsdoktrin aufzuwerfen. Die entschlossenen Versuche, der Krise Herr zu werden, waren jedoch vergeblich; das Problem wurde nur verschoben und die Bankenkrise hat sich zu jener Staatsschuldenkrise gemausert, die mittlerweile die Euro-Zone zu sprengen droht.

 

Es geht um das immer prekärere Überleben in den herrschenden Verhältnissen. Es geht ums Ganze.

 

Zunächst war es Griechenland, das ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte. Unfähig, sich aus eigener Kraft am Finanzmarkt frisches Geld zu beschaffen, war die griechische Regierung gezwungen, offiziell Finanzhilfe zu beantragen. Die Troika aus Europäischer Union, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds gewährte dem griechischen Staat Anfang 2010 unter der Bedingung eines wirtschaftlichen Schockprogramms, das noch im selben Jahr die griechische Wirtschaft in die Rezession trieb, zunächst Kreditzusagen in Höhe von 110 Milliarden Euro, was sich jedoch schnell als unzureichend erwies. Die Talfahrt des Euro setzte sich fort und im Mai 2010 vereinbarten europäische Staats- und Regierungschefs einen Europäischen Stabilisierungsmechanismus in Höhe von 750 Milliarden Euro, durch den die drohende Staatspleite eines Euro-Mitgliedsstaates verhindert werden soll. Als gefährdet gelten vor allem die sogenannten PIIGS-Staaten, also Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien. Doch auch durch derart massive Interventionen ließ die Krise sich nicht aufhalten. Mittlerweile wird offen über eine Staatspleite Griechenlands und seinen Austritt aus dem Euro diskutiert, mit offenem Ausgang für die Zukunft der Euro-Zone. Geht Griechenland pleite, erwischt es zunächst die griechischen Banken und Pensionsfonds, die etwa 50 Prozent der Staatsschulden halten, ein Bailout durch den griechischen Staat wäre dann natürlich nicht möglich. Darüber hinaus wären insbesondere wichtige Banken in Belgien, Frankreich und Deutschland unmittelbar gefährdet, die jeweils große Portfolios griechischer Staatsanleihen halten. Das Ausmaß der Misere lässt sich allerdings nicht einfach als die Summe der wackeligen Staatsanleihen beziffern, die bestimmte Banken halten; entscheidend ist vielmehr, dass diese Anleihen als Sicherheiten für weitere Kredite dienen, die in Folge einer Staatspleite nicht mehr gedeckt wären. Aufgrund dieser Verflechtungen, die mittelbar das gesamte europäische Bankenwesen ergriffen haben, sind nicht nur diejenigen Banken gefährdet, die direkt von einer Staatspleite Griechenlands betroffen wären. Vielmehr steht mittelfristig ein Zusammenbruch der Euro-Zone zu befürchten, weshalb derzeit Verhandlungen über eine Rekapitalisierung europäischer Banken mit staatlichen oder europäischen Geldern laufen. Weder das Wegbrechen des Finanzsektors noch der Bankrott einzelner Staaten können hingenommen werden. Um das zu verhindern, bedient man sich mittlerweile genau jener »Hebeltechniken«, deren Karriere Mitte der 1990er Jahre begann, als der Finanzprodukthandel so richtig in Schwung gebracht wurde, indem massenhaft ungedeckte Kreditausfallversicherungen einzig in der Hoffnung ausgegeben wurden, das aufgeblasene System werde sich noch ein wenig weiter blähen lassen.

 

Die Sache dreht sich also munter im Kreis, worüber auch die mediale Klitterung der Krise in eine Vielzahl von Krisen – Immobilienkrise, Kreditkrise, Finanz-, Staatsschulden-, Griechenland-, Irlandkrise und so weiter und so fort – nur notdürftig hinwegzutäuschen vermag. Denn anders als es die Rede von immer neuen Einzelkrisen suggeriert, haben sie alle ein- und denselben Ausgangspunkt in der Krise der sogenannten Realwirtschaft. Seit dem Auslaufen des Nachkriegsbooms in den frühen 1970er Jahren schwächeln die Profitraten, weil immer weniger lebendige Arbeit immer größere Mengen an toter in Bewegung setzt. 1 Die zu diesem Zeitpunkt einsetzende Überschuldung aller europäischen Staaten und der USA ist Symptom eines Kapitalismus, dessen wirtschaftliche Dynamik nachlässt, und was als vorübergehender Wirtschaftsstimulus geplant war, wuchs sich zu einer permanenten Subventionierungspolitik für die produktiven Sektoren aus. Attraktive Verwertungsmöglichkeiten für überschüssige Kapitalmassen konnten durch diese Politik eines exzessiven deficit spending jedoch in ausreichendem Umfang weder erhalten noch neu geschaffen werden. Das überschüssige Kapital strömte in den Finanzbereich, der sich aufblähte, bis sich die Krise 2007/2008 als Finanzkrise manifestierte. Im reihenweisen Zerplatzen diverser Finanzproduktblasen ab 2007 drückt sich also lediglich der Anlagenotstand des Kapitals aus, das sich mit seiner ständigen technologisch-wissenschaftlichen Umwälzung der Produktion selbst ein Bein gestellt hat.

 

Die Sache dreht sich also munter im Kreis, worüber auch die mediale Klitterung der Krise in eine Vielzahl von Krisen nur notdürftig hinwegzutäuschen vermag.

 

Der Ruf nach einer Wiederherstellung des »Primats der Politik vor der Wirtschaft«, der zur Zeit das bürgerliche Feuilleton beherrscht und auch aus den Reihen der Protestbewegungen zu vernehmen ist, geht am Problem vorbei, weil er die grundlegende Funktion der Banken und des Kreditwesens verkennt. Nicht nur, dass sie das notwendige Schmiermittel zur Verfügung stellen, um den Akkumulationszyklus beständig zu beschleunigen; vor allem ist die Quelle des Kredits jener Teil des Mehrwerts, der aufgrund der latenten Überakkumulation nicht direkt in den Zyklus zurückgepumpt werden kann. Der gewissermaßen natürliche Weg aus der Krise wäre eine gigantische Kapitalvernichtung: Aufgeblähte Finanzwerte müssten ausradiert, Banken in den Abgrund gestürzt werden; Unternehmenspleiten würden den Markt bereinigen, das Lohnniveau noch weiter sinken. Danach könnte die »ganze alte Scheiße« (Marx) in einem neuen Zyklus von vorne losgehen. Da die Politik des laissez-faire, die einer solchen Entwertung freien Lauf ließe, aufgrund ihrer unabsehbaren, zweifellos aber drastischen Konsequenzen selbst liberalen Ökonomen derzeit zu riskant erscheint, wurde bislang jedoch einem staatsinterventionistischen Krisenmanagement der Vorzug gegeben. Dadurch wurde nicht nur die Staatsverschuldung in unermessliche Höhen getrieben, sondern vor allem das grundlegende Problem der Überakkumulation zementiert und der unvermeidliche Crash somit nur aufgeschoben – wobei der Einsatz ständig wächst. Am zunehmend verzweifelten Treiben der Politiker und Ökonomen, die sich in einem Klima aberwitziger Marktfetischisierung wie überforderte Hundetrainer ausnehmen (»die Märkte müssen beruhigt werden«, »die Märkte müssen wieder Vertrauen fassen«, »gebändigt«, »an die Leine gelegt« und »auf ihren Platz verwiesen« werden), lässt sich ablesen, wie wenig sie Herr der Lage sind. Ihre blinde Geschäftigkeit, die zusehends eingestandene Ahnungslosigkeit und nicht zuletzt das Einschwenken federführender Neoliberaler auf einen staatsinterventionistischen Kurs zeugen von Plan- und eben Ahnungslosigkeit, keineswegs jedoch von einer gewieften Diskurspolitik, die, wie Naomi Klein und Konsorten zu behaupten nicht müde werden, »den Herrschenden« dazu dienen soll, das »neoliberale Projekt« weiter voranzutreiben. Dasselbe gilt für die Rede von der Alternativlosigkeit, die die Austeritätsprogramme begleitet. Auch sie ist keineswegs nur ein rhetorischer Taschenspielertrick im Klassenkampf von oben; tatsächlich werden die Spielräume für staatliches Handeln immer enger. Sie wurden im Lauf der vergangenen Jahrzehnte durch notwendige Subventions- und Stimulationsprogramme schlichtweg ausgereizt, ganz besonders seit dem Kriseneinbruch 2007/08.

 

Die am stärksten überschuldeten Staaten sind nun gezwungen, die verordneten Sparprogramme durchzusetzen; jedes Einschwenken auf die Forderungen der sozialen Bewegungen würde ihnen als Schwäche und Handlungsunfähigkeit ausgelegt werden und ihre Situation weiter verschlechtern. Und auch in Ländern, denen der Staatsbankrott nicht unmittelbar droht, ist die Konsolidierung der Staatsfinanzen unausweichlich, weil man darauf vorbereitet sein muss, den Zusammenbruch weiterer Banken aufzufangen, um das Wegbrechen des Finanzsektors zu verhindern. Angesichts dessen ergeben sich kaum noch Perspektiven für eine reformistische Politik. Die Austeritätsprogramme, die deshalb mit aller Gewalt durchgesetzt werden, sind selbstredend vor allem ein Angriff auf die Proletarisierten, denen immer häufiger die Lebensgrundlage entzogen oder zumindest radikal zusammengestrichen wird. In Griechenland ist die Suizidrate – bislang die niedrigste Europas – während des vergangenen Jahres um über 40 Prozent gestiegen.2

 

Mit den konventionellen Mitteln des Klassenkampfes konnte den Forderungen also nirgendwo der nötige Nachdruck verliehen werden und die Proteste scheiterten, trotz enormer Mobilisierungen, auf ganzer Linie.

 

Gemessen daran gibt der Widerstand der Lohnabhängigen bislang ein eher ernüchterndes Bild ab. Eine erste Welle von Protesten seit Herbst 2010 bediente sich noch überwiegend klassischer Widerstandsformen, prallte jedoch an der Unnachgiebigkeit der Staaten ab. Den Anfang machte Frankreich, wo es wegen einer Rentenreform zu gewerkschaftlich kontrollierten Aktionstagen mit Streiks und Demonstrationen, aber auch zu Schulbesetzungen kam. Bemerkenswert ist insbesondere, dass Streiks und Blockadeaktionen in den Raffinerien, an denen sich Arbeiter, Arbeitslose und andere Unzufriedene beteiligten, dazu führten, dass in Frankreich tatsächlich der Sprit knapp wurde. Das Motto dieser Aktionen hieß bloquer l‘économie (»die Wirtschaft blockieren«), ein Slogan, der zum Entsetzen der Gewerkschaftsbürokraten auch von der Basis der KP-nahen CGT skandiert wurde. Die Regierung blieb hart, die Rentenreform wurde verabschiedet. Ende September wurde in Spanien ein eintägiger Generalstreik gegen die Lockerung des Kündigungsschutzes organisiert, nachdem die sozialdemokratische Zapatero-Regierung bereits die Beamtengehälter gesenkt und die Renten eingefroren hatte, um den Staatshaushalt zu sanieren. Der Gesetzentwurf wurde verabschiedet. Auch ein Generalstreik gegen das Sparprogramm der Regierung in Portugal, zu dem die beiden größten Gewerkschaften CGTP und UGT erstmals seit 1988 gemeinsam aufgerufen hatten, blieb erfolglos. Nach Gewerkschaftsangaben war es der größte Generalstreik seit mehr als zwanzig Jahren; die Regierung gab jedoch kund, angesichts der Wirtschaftskrise keinerlei Spielraum bei den Sparplänen zu haben. Zugeständnisse wurden nicht gemacht. Im gleichen Monat leisteten zehntausende britische Studenten Widerstand gegen eine drastische Erhöhung der Studiengebühren und eine Reduzierung des Bildungsetats um 40 Prozent, in London wurde die Parteizentrale der Tories gestürmt, es kam zu Krawallen, doch die Erhöhung der Studiengebühren und die Kürzungen wurden durchgesetzt. In Italien protestierten zeitgleich zehntausende Studenten mit Autobahnblockaden und Universitätsbesetzungen gegen einschneidende Kürzungen im Bildungswesen; es kam zu heftigen Straßenschlachten, die Bildungsreform passierte im Dezember jedoch unbeschadet Parlament und Senat.

 

Mit den konventionellen Mitteln des Klassenkampfes konnte den Forderungen also nirgendwo der nötige Nachdruck verliehen werden und die Proteste scheiterten, trotz enormer Mobilisierungen, auf ganzer Linie. In diesem Klima sozialer Unruhe entfaltete der sogenannte arabische Frühling seit Anfang 2011 eine beachtliche Strahlkraft und inspirierte eine zweite Protestwelle. Zunächst begann man in Spanien damit, die in Ägypten und Tunesien so erfolgreich praktizierte Form der Platzbesetzung nach Europa zu importieren. Der Aufruf zu Democracia Real Ya! (»Echte Demokratie jetzt!«), zugleich Name einer Plattform und ihre wichtigste Forderung, konnte Anfang Mai massenhaft indignados (»Empörte«), wie sie sich selbst nannten, in über hundert spanischen Städten zur Besetzung von zentralen Plätzen mobilisieren. Mehr oder weniger getreu den Prinzipien, die die Democracia Real-Plattform propagiert hatte – Einheit der indignados, Beschlussfassung auf den Vollversammlungen, keine offene Präsenz politischer Parteien oder Gruppen, Gewaltlosigkeit – zeigten die Besetzungen zunächst die kollektive Fähigkeit zu spontaner Selbstorganisation und stellten für die Beteiligten einen Bruch mit dem Alltag dar, offenbarten jedoch schnell eklatante Schwächen, die mit der Aktionsform selbst zusammenhängen. Auf dem Konsensprinzip basierende direkte Demokratie erwies sich bei Versammlungen mit mehr als tausend Beteiligten als nicht praktikabel: Eine wirkliche Diskussion war nicht möglich, ein bedeutungsvoller Konsens konnte nicht verabschiedet werden. 3 Außerdem war die von der Democracia Real-Plattform verfochtene Ideologie der Ideologielosigkeit von Anfang an suspekt – wie sollte eine Wirtschaftskrise, die sich in einer politischen Legitimationskrise fortgesetzt und somit die Totalität der Gesellschaft erfasst hatte, allein durch eine neue politische Form, die »echte Demokratie«, zu lösen sein? Vielerorts trug diese Ideologie dazu bei, jede radikalere Kritik zum Schweigen zu bringen, um stattdessen die Ablösung von Politikern, neue Wahlgesetze, ethisches Banking und dergleichen zahnlose Forderungen zu propagieren und die Korruption anzuprangern. Die Ideologie einer Gewaltlosigkeit, die nicht einmal Selbstverteidigung zulässt, blamierte sich schließlich Ende Mai in Barcelona offensichtlich, als die Polizei die besetzte Plaça Catalunya brachial räumen wollte und Pazifisten eine angemessene Gegenwehr erschwerten. Zumindest in Barcelona löste sich die zentrale Platzbesetzung im Sommer daraufhin zugunsten von Stadtteil-Versammlungen auf, die zwar immer wieder in lauten Demon-strationen, Straßenblockaden oder anderen dynamischen Aktionen resultierten, jedoch nicht mehr dauerhaft im Zentrum der Stadt Fuß fassen konnten.

 

Mit den konventionellen Mitteln des Klassenkampfes konnte den Forderungen also nirgendwo der nötige Nachdruck verliehen werden und die Proteste scheiterten, trotz enormer Mobilisierungen, auf ganzer Linie.

 

Trotz dieser zweischneidigen Erfahrung machte das spanische Modell Schule und die Aktionsform der Platzbesetzungen griff schnell auf andere Länder über. In Griechenland, wo seit 2008 regelmäßig Generalstreiks, Besetzungen und Demonstrationen mit oftmals militantem Charakter stattfinden, entfalteten die Platzbesetzungen eine besondere Dynamik. Vom Athener Syntagma-Platz ging in diesem Sommer so viel Druck aus, dass sich die beiden großen Gewerkschaftsbünde ADEDY und GSEE gezwungen sahen, dem Aufruf der Besetzer zu einem Generalstreik Folge zu leisten; ein Novum nicht nur, weil einer der beiden so initiierten Generalstreiks zwei Tage andauerte und somit der längste seit Jahren war, sondern vor allem weil das kategorische Nein zu den Sparplänen den Staatsbankrott offen in Kauf nahm – also tatsächlich die radikalst mögliche Antwort auf die Sachzwang-Argumentation darstellte. Die Alternative, sich den objektiven Zwängen zu beugen oder den eigenen Betrieb kaputtzustreiken, stellt sich in Griechenland, wo sowohl die Auswirkungen der Krise als auch der Widerstand gegen die Sparprogramme am stärksten sind, damit auf staatlicher Ebene. Zwischen Staatsbankrott und der Durchsetzung von Sparplänen, die die Ökonomie weiter ruinieren, bleibt der griechischen Regierung minimaler Handlungsspielraum. Der Versuch, die Austeritätspolitik durch ein Referendum zu bestätigen und die Legitimität der sozialistischen Regierung somit wieder herzustellen, ist vor allem am Widerstand der europäischen Staatschefs gescheitert und die Gefahr schwerer Unruhen schwelt weiterhin. Innerhalb der Front, die die Sparprogramme ablehnt, hat sich die stalinistische KKE mit der von ihr kontrollierten Gewerkschaft PAME bereits als Partei der Ordnung profiliert. Am 20. Oktober postierte sie ihre Schläger vor den Ketten der Polizei, von wo sie massiv auf die Protestierenden einprügelten, die die parlamentarische Abstimmung über das Sparpaket verhindern wollten.

 

Die Bewegungen stehen zwischen Klassenkampf und Populismus.

 

In Israel, wo das Klassenverhältnis seit jeher vom Nahostkonflikt überlagert wird, sorgten wochenlange Besetzungen und Demonstrationen mit Hunderttausenden Beteiligten dafür, dass die steigenden Mieten und die Wohnungsnot inmitten der Krise zu einem Thema wurden, das gesellschaftlich nicht mehr ignoriert werden konnte. Und in den USA begann Mitte September, zunächst in New York, eine Besetzungsbewegung unter dem Motto »Occupy Wall Street«, die sich schnell auf andere Städte auch außerhalb der Vereinigten Staaten ausweitete. Occupy-Bewegungen haben sich mittlerweile in den meisten amerikanischen und europäischen Metropolen gebildet und sind immer wieder zum Ausgangspunkt auch militanter Aktionen geworden. Sie zeichnen sich durch einen praktischen Internationalismus aus, der in erster Linie dem Erfahrungshorizont der Beteiligten geschuldet sein dürfte und sie vor dem Abgleiten in nationalistische Diskurse bewahrt. Die neuartigen Protestformen stellen auch insofern eine Antwort auf die Krise dar, die der veränderten Situation der Proletarisierten gerecht wird, als sie nicht mehr um Betriebe herum organisiert sind, sondern in die Zentren der Städte drängen und es dem stetig wachsenden Heer der Überflüssigen, den Arbeitslosen und prekär Beschäftigten, aber auch Studenten und Schülern mitzumischen erlauben. Obwohl sich die Selbstorganisation momentan noch weitgehend auf das Leben auf den Plätzen beschränkt und in den seltensten Fällen an die Besitz- und Produktionsverhältnisse rührt, zeigen Ereignisse wie der Generalstreik in Griechenland, der Widerstand gegen Wohnungsräumungen, der von den spanischen Asambleas ausging, Solidarisierungen mit wilden Streiks in Oakland, New York und anderswo und nicht zuletzt die militante Verteidigung der Plätze gegen die staatlichen Räumkommandos, die in jüngster Zeit für Schlagzeilen gesorgt haben, dass die besetzten Plätze der Ausgangspunkt für mehr sein können. Ihre einseitigen Attacken auf den Finanzsektor stellen dagegen die größte Schwäche der neuen Proteste dar. Nicht nur, dass sie eine offene Flanke für Zinskritiker, Verschwörungstheoretiker unterschiedlicher Couleur und vereinzelt auch bekennende Antisemiten bieten, die hier eine Plattform finden, in ihrer Konzentration auf die »Auswüchse« des Bankenwesens schreiben die Proteste vor allem den derzeit ohnehin grassierenden Finanzmarktfetischismus blindlings fort. Soweit sie sich fast ausschließlich auf die »Machenschaften« der Banken beziehen, vernebeln sie den Blick auf das Kapitalverhältnis letztlich, anstatt ihn zu klären. Symptomatisch dafür ist der Slogan, der von New York aus die Runde um den Globus machte: »Wir sind 99%, ihr nur 1%«. Er drückt die höchst reale Erfahrung aus, dass die breite Masse der Bevölkerung mit immer mehr Verzicht den Karren aus dem Dreck ziehen soll, und zeugt somit von einem vagen Verständnis des Klassenwiderspruchs; er weist andererseits die Schuld an der Misere dem einen Prozent der Bevölkerung zu, das am meisten profitiert, und skandalisiert statt der gesellschaftlichen Verhältnisse den individuellen Exzess. Die Bewegungen stehen zwischen Klassenkampf und Populismus.

 

Soweit sie überhaupt erkennbare Forderungen aufstellen, sind die Proteste durchweg gescheitert und müssen auch scheitern. Die Tatsache, dass der Staat in Zeiten eines restlos blamierten Keynesianismus und angesichts seiner objektiven Gestaltungsunfähigkeit als Adressat für Forderungen nicht mehr zur Verfügung steht, hat sich allerdings bislang nicht in der Herausbildung revolutionären Bewusstseins, sondern mehrheitlich in einer seltsamen Orientierungslosigkeit niedergeschlagen. Der Versuch, aus überkommenen Protestformen und abgestandenen Ideologien auszubrechen, ebenso wie die vielfältige Zusammensetzung der Protestierenden, geht zugleich mit einer Lähmung der neuen Proteste einher. Die milieuübergreifende Mobilisierung der Asambleas und Occupy-Aktionen ist wohl nur vor dem Hintergrund einer diffusen, dem Credo nahezu bedingungsloser Toleranz verpflichteten Auffassung von gemeinsamer Politik möglich. Ohne die Widersprüche in den eigenen Reihen auszutragen, bleiben die Bewegungen jedoch schlechterdings dem Diktat einer Konsensfindung unterworfen, die entscheidende Fragen bei Strafe einer Spaltung des gemeinschaftlichen Projekts nicht thematisieren kann – und vielleicht ist es vor allem dies und nicht so sehr die Einsicht in ihre Überlebtheit, die für das weitgehende Fehlen von Forderungen verantwortlich ist. Das Phänomen der irgendwie Empörten, die von Werten und Ethik reden, ist symptomatisch für eine Krise, die sich derzeit als ein Spektakel darstellt, dem die internationalen Protestbewegungen ebenso ausgeliefert sind wie die professionellen Krisenmanager. »Wir müssen uns davor hüten, die Schwäche der kapitalistischen Produktionsweise für eine Schwäche des Kapitals in seinem Kampf mit den Arbeiterinnenzu halten.« 4 Krisen haben die Position des Kapitals gegenüber dem Proletariat bislang noch immer gestärkt. Die sinkende Nachfrage nach Arbeitskraft untergräbt die Verhandlungsmacht der Arbeiter und Arbeiterinnen, und mit den Austeritätsprogrammen wird der Sozialhaushalt genau dann radikal beschnitten, wenn er am meisten gebraucht wird. In Ermangelung einer revolutionären Perspektive – die sich momentan nirgends abzeichnet – richtet sich das Interesse der Arbeiter zunächst darauf, ihre Arbeitsplätze zu behalten, das der Arbeitslosen darauf, Jobs zu ergattern. Allein die Erkenntnis, dass das rat race auf dem Arbeitsmarkt schlagartig ein Ende hätte, wenn die Platzbesetzungen in eine kollektive Beschlagnahme der Produktion münden würden, könnte aus dieser Zwangslage herausführen.

 

Inmitten der manifesten Krise bleibt den Eigentumslosen nur die Alternative, sich mit einer immer kärglicheren Existenz zu arrangieren oder dem Fluch der Lohnarbeit ein Ende zu setzen.

 

Trotzdem ist das, was wir derzeit erleben, ein internationales Aufflammen neuer Bewegungen, die sich aufeinander beziehen und auf verbrauchte politische Formen gut verzichten können. Begreifen sie die Schlagkraft, die sie selbst gegen die Verhältnisse entwickeln können, ist viel zu gewinnen. Bleiben sie bei moralischen Anklagen gegen Banker und Politiker stehen, wird eine historische Chance verspielt. Die raschen Erfolge, die die Platzbesetzungen im arabischen Raum gegen veraltete Herrschaftsapparate erringen konnten, werden sich in Europa und Amerika mangels diktatorischer Verhältnisse nicht einstellen. Inmitten der manifesten Krise bleibt den Eigentumslosen nur die Alternative, sich mit einer immer kärglicheren Existenz zu arrangieren oder dem Fluch der Lohnarbeit ein Ende zu setzen. Sie stehen vor der Wahl, alles zu schlucken oder alles abzulehnen.

 

Eiszeit, Zürich

Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft, Berlin

La Banda Vaga, Freiburg

 

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