»Unmittelbar gesehen ist der okkulte Spuk gewiss nur Fascisierung des Bürgertums, Übergang seines unbrauchbar gewordenen Liberalismus ins autoritäre und irrationale Lager.«
Ernst Bloch
Inzwischen gehen fast täglich Menschen gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straße. Getragen wird die Bewegung von einer bunten Mischung der berühmt-berüchtigten „Mitte der Gesellschaft“. Von der libertären Kleinunternehmer*in über die Homöopath*in, der Anhänger*in von allerlei Verschwörungstheorien bis zum Neonazi-Kader kommt hier zusammen, was zusammengehört. Eine enthemmte Bürgerlichkeit, die ihr Recht keine Maske zu tragen über die Gesundheit anderer stellt. 40 Jahre neoliberale Konterrevolution tragen hier ihre Früchte. Auffällig, gerade hier im Südwesten der Republik, ist der hohe Anteil an Esoteriker*innen an den Protesten. Vor allem die Anthroposophie sticht als gemeinsamer ideologischer Hintergrund großer Teile der Gruppe hervor. War diese mit ihren Waldorfschulen schon vor der Pandemie für ihre Impfverweigerung bekannt, etwa bei den Masern, entwickelten sich diese „freien“ Schulen regelmäßig zu „Hotspots“ regionaler Corona-Ausbrüche. Bei den anschließenden Untersuchungen der Behörden stellte sich dann meist heraus, dass die Corona-Schutz-Maßnahmen nicht eingehalten wurden und oftmals massenhaft falsche Maskenatteste, vor allem bei den dortigen Lehrkräften, kursierten. Von einigen Schulen sind verzweifelte Aktionen von Schüler*innen bekannt geworden, die sich mit der Einhaltung der Maskenpflicht gegen den Willen des Lehrkörpers stemmen mussten. Die 250 (Tendenz steigend) Waldorfschulen, die sich leider auch in der Linken ob ihres scheinbar alternativen Charakters großer Beliebtheit erfreuen, werden z.T. auch staatlich unterstützt. Der Schulalltag in vielen dieser weitgehend homogen deutschen und weißen Privatschulen gibt hingegen ein antiemanzipatorisches Bild. Im Kern autoritär, mit stupidem Auswendiglernen, Aufsagen im Chor, Frontalunterricht, sozialer Kontrolle, Fußballverbot (weil dies kein deutscher Sport sei) und Diskriminierung. Teilweise ist noch heute die „Wurzelrassenlehre“ Teil des Unterrichts an Waldorfschulen. Der rassistische und antisemitische Gehalt dieser Lehre wird unter anderem durch folgende Zitate Rudolf Steiners, dem Begründer der Anthroposophie, deutlich: „Das Judentum hat sich längst ausgelebt, hat keine Berechtigung innerhalb des modernen Völkerlebens, dass es sich dennoch erhalten hat, ist ein Fehler der Weltgeschichte, dessen Folgen nicht ausbleiben konnten.“1 Und: „die N****rasse gehört nicht zu Europa. [...] Die weiße Rasse ist die zukünftige, ist die am Geist schaffende Rasse.“2 Diese Wurzelrassentheorie wurde von Steiner direkt von Helena Blavatsky (1831-1891), der Begründerin der Theosophie, übernommen. Diese Lehre ging in das Gedankengut der Thule-Gesellschaft, einer Vorgängerorganisation der NSDAP, ein. Blavatskys Werke sind heute Bestseller in Esoterikbuchläden. Ein Förderer der Neuherausgabe ihrer Bücher ist unter anderen der Dalai Lama. Tatsächlich pflegt dieser gefeierte „Gottkönig“ Kontakte zu Altnazis und religiösfanatischen Terroristen*innen. So bezeichnete er den Führer der Aum-Sekte, Shoko Asahara, als seinen Freund.3 Auch erschreckend viele ehemalige Linke haben ihren Weg zum Irrationalen gefunden. Horoskope, Tarotkarten, Heilsteine, Erdstrahlen, Mondgläubigkeit, Urintherapie… Aus der Entfremdung im neoliberalen Kapitalismus, bei dem das Individuum ständigem Selbstoptimierungsdruck in nahezu allen Bereichen des Lebens ausgesetzt ist, scheinen esoterische Versprechungen und Logiken Lösungen dafür zu sein, um diesen Druck zu lindern: Bewusstheit, Meditation und Konzentration auf das Innere und das „wahre“ Sein befrieden die äußerlichen Probleme mit der Welt. Streit, Konflikt, Krankheit passen nicht in das Harmoniestreben der Esoteriker*innen und sind Zeichen individuellen Versagens. Das Heil, dass sich viele aus besserem Umgang mit Stress durch Meditation und dergleichen versprechen, ist gleichzeitig ein perfektes Herrschaftsinstrument, bei dem die Selbstoptimierung im Zentrum steht. Diese Formen der Unterwerfung haben längst auch ihren Weg in Management, Assessment und Firmenphilosophien gefunden. Sie sind sehr verbreitet und in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Nach vorsichtigen Schätzungen sind in der BRD zehn Millionen Menschen der Esoterik aktiv zugeneigt, der Umsatz der bundesdeutschen Esoterikindustrie beläuft sich auf über geschätzte 20 Milliarden Euro pro Jahr. Gerade Freiburg ist als „Esoterikhauptstadt“ bekannt und so verwundert es dann auch nicht, dass gerade hier so große Anti-Corona-Maßnahmen-Aufmärsche stattfinden.
Ein in der Esoterik weit verbreiteter Glaube ist das, aus den asiatischen Religionen übernommene, Karma. Demnach werden Menschen bis zur „Erlösung“ immer „wiedergeboren“ und sollten durch „gute Taten“ versuchen, ihre Stellung im nächsten Leben zu bestimmen. Diese Lehre führt schnell zur Vorstellung, dass zum Beispiel Menschen mit Behinderungen oder in Armut lebende Menschen daran selbst Schuld seien, weil sie sich in ihrem „früheres Leben“ falsch verhalten haben sollen. Alice Ann Bailey, eine Anhängerin Rudolf Steiners, rechtfertigte damit sogar die Ermordung von 6 Millionen Juden im Nationalsozialismus als „Feuer der Reinigung“.4
Doch wie kann heute noch ein derartiges Bedürfnis nach irrationalen Denkformen entstehen? Diese Gesellschaft, die mit der Spaltung der Menschheit in Ausbeuter und Ausgebeutete, Herrscher und Beherrschte an sich irrational ist, produziert eine Sicht, die voller Verkehrungen ist. So wird das gesellschaftliche Verhältnis stattdessen als Verhältnis der Dinge wahrgenommen. Die Sicht auf die Warenwelt ist zwangsläufig eine ideologische. Die bürgerliche Wissenschaft als Legitimationswissenschaft des Kapitalismus ist nicht in der Lage, die gesellschaftlichen Widersprüche, die sie als Naturgesetze wahrnimmt, aufzuheben. Deshalb droht stets der Übergang in den Irrationalismus. Reicht dem sozial verunsicherten Bürgertum die „Religion des Alltagslebens“ nicht aus, sucht sie Halt in den Versprechungen der Esoterik und befördert damit die zunehmende Entsolidarisierung in der Gesellschaft. Den Esoteriker*innen ist nicht mit rationalen Argumenten beizukommen. Gegebenenfalls werden die Kritiker*innen auf ihre „zu niedrige Bewusstseinsstufe“ oder ähnliches verwiesen. Dieses Verhalten gleicht dem von der Kritischen Theorie beschriebenem autoritären Charakter. Erich Fromm könnte auch Esoteriker*innen gemeint haben, als er schrieb: „Die relative Undurchschaubarkeit des gesellschaftlichen und damit des individuellen Lebens schafft eine schier hoffnungslose Abhängigkeit, an die sich das Individuum anpasst, in dem es eine sadomasochistische Charakterstruktur entwickelt. [...] Der masochistische Charakter erlebt sein Verhältnis zur Welt unter dem Gesichtspunkt des unentrinnbaren Schicksals.“5 Im Zuge allgemeiner Krisenerscheinungen, die ja heutzutage geradezu das Kennzeichen der jetzigen Phase des Kapitalismus sind, versucht das bürgerliche Subjekt verstärkt, sich die verkehrte Welt irrational zu erklären. Der Boom der Esoterik erinnert an die Krisen der späten 20er Jahre des letzten Jahrhunderts, als der Mystizismus zu einem der geistigen Vorreiter des Nationalsozialismus wurde. So verwundert es eben auch nicht, dass auf den Demos Neonazis und Esoteriker*innen einträchtig nebeneinander laufen.
Nur durch das radikale Brechen mit der bürgerlichen Ideologie ist eine Annäherung an die Vernunft zu haben! Dies kann in der aktuellen Situation aber nicht bedeuten in einer „der Feind meines Feindes ist mein Freund-Reaktion“, die staatlichen Anti-Corona-Maßnahmen kritiklos zu verteidigen, nur weil sie von der falschen Seite mit falschen „Argumenten“ angegriffen werden. Das staatliche Handeln richtet sich in einer kapitalistischen Gesellschaft nicht an den Bedürfnissen der Menschen aus, sondern an den Interessen der Kapitalverwertung. Deswegen war zu Beginn der Pandemie das einsame Lesen eines Buches auf einer Parkbank verboten, nicht aber das Körper-an-Körper-Arbeiten in der Fabrik. Schutzmaßnahmen gegen die Pandemie mussten und müssen oft genug gegen den Staat durchgesetzt werden. Anders als das Geschwurbel von der Corona-Diktatur nahelegt. Eine Emanzipatorische Linke darf auch in Zeiten einer Pandemie nicht zum Sprachrohr autoritärer staatlicher Maßnahmen werden, sondern sollte eine eigene antagonistische und klassenkämpferische Position im Umgang mit Corona entwickeln.
„Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik“ schrieb Karl Marx 1844. Fast 180 Jahre später ist das religiöse Bewusstsein verbreiteter denn je - nur nennt es sich anders: Spiritualität und Esoterik geben dem „anderen“ Rechnung, was es da angeblich noch gäbe. Seit zwei Jahrhunderten ist die Religion widerlegt; die prolongierte theoretische Widerlegung der Religion macht sich darum der Unwahrheit schuldig, das Volk in seiner kapitalistischen Vergesellschaftung sei aufzuklären. Das religiöse Bewusstsein ist die Projektion der menschlichen Bedürfnisse ins Jenseits und die Negation der Kritik am Diesseits. Je länger das religiöse Bewusstsein über seine theoretische Aufhebung fortdauert, desto mehr widerstreitet es theoretisch jedem richtigen Urteil und praktisch jedem Versuch, unmenschliche Verhältnisse umzuwerfen. Diese Verhältnisse sind der Feind, der nicht zu widerlegen, sondern zu zerstören ist. Entkräftet wird diese esoterische Idiotie nicht durch seine Widerlegung, sondern indem man die Verhältnisse der Ausbeutung von Menschen durch Menschen abschafft.
- 1. Rudolf Steiner 1888, zitiert nach Peter Bierl, in: Stud. Sprecherrat der Universität München (Hrsg.), Ganzheitlich und ohne Sorgen in die Republik von morgen, Aschaffenburg 2001, S. 39.
- 2. Rudolf Steiner, GA 349, S. 52 ff.
- 3. Vgl.: Colin Goldner, Dalai Lama, Fall eines Gottkönigs, Aschaffenburg 1999. Die Aum-Sekte verübte 1995 einen Giftgasanschlag auf die Tokioter U-Bahn, bei dem 12 Menschen ermordet und 500 z.T. schwer verletzt wurden.
- 4. Zitiert nach: Jutta Ditfurth, Feuer in die Herzen, Hamburg 1997, S. 330.
- 5. Erich Fromm, Sozialpsychologischer Teil, in: Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Studien über Autorität und Familie, Paris 1936, S. 118.