Streik der Steinmetze im Tessin

01. Juli 2014
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Ein Mitglied von Eiszeit hat Mitte Juni die streikenden Steinmetze im Tessin besucht und seine Beobachtungen im nachfolgenden Text festgehalten.

Eintägiger Streik in drei Etappen

Am Montag dem 16. Juni 2014 wurde im Tessin gestreikt. Betroffen waren die ungefähr 300 Steinmetze in den Granitsteinbrüchen, die sich in den Tälern Riviera (oberhalb Bellinzona) und Maggia (in der Nähe von Locarno) konzentrieren. Gestreikt wurde, um die Erneuerung eines Gesamtarbeitsvertrags im betroffenen Sektor zu ermöglichen. Seit Anfang 2012 weigert sich die Arbeitgeberorganisation der Granitindustrie im Tessin (AIGT), den besagten Vertrag zu erneuern. Dass der Gesamtarbeitsvertrag nicht erneuert wird, impliziert unter anderem, dass den Arbeitern das Recht auf Frühpensionierung verweigert werden könnte, ein Recht, welches 2002 in einem Streik des gesamten Sektors des Baugewerbes (zu dem auch die Steinmetze gehören) erkämpft wurde. Zwar versichern die Arbeitgeber in der Granitindustrie, dass sie die Arbeiter trotz fehlender Erneuerung des Gesamtarbeitsvertrags schon mit 60 pensionieren werden. Diese Frühpensionierung würde dann aber auf bloss individueller Entscheidung der Arbeitgeber beruhen, und somit von der Willkür derselben abhängen.

Im Folgenden geht es weniger um einen Bericht über Vorgeschichte und Verlauf des Streiks, als um eine kritische Analyse der wesentlichen Momente desselben. Es sei hier nur an die drei Hauptetappen erinnert, die den eintägigen Streik charakterisierten:

  • Schon früh am Morgen, ab 6 Uhr, begaben sich die Gewerkschafter in die Steinbrüche, um gemeinsam mit den Arbeitern Streikposten zu organisieren. Im Vorfeld des Streiks hatte sich zwar ungefähr die Hälfte der Arbeiter für den Streik entschieden. Der massive Druck, welcher von den Arbeitgebern ausgeübt wurde, entmutigte dann aber viele Arbeiter, am Streik aktiv teilzunehmen.
  • Um 11 Uhr fand dann eine Versammlung mit den am Streik aktiv teilnehmenden Arbeitern (ungefähr 90 von den 300) und den Gewerkschaftern statt. Es wurde eine Reihe von Reden gehalten und eine Petition verabschiedet, mit dem Vorhaben, sie an die Kantonsregierung zu übergeben. Inhalt der Petition: die Forderung an den Staat nach einer Vermittlung im Konflikt.
  • Um 15 Uhr, nach dem gemeinsamen Essen, begab man sich tatsächlich nach Bellinzona, der Hauptstadt des Kantons, wo dann eine Delegation von Arbeitern und Gewerkschaftern die Petition an den Regierungschef übergab.

Im Folgenden werden diese drei Etappen kritisch analysiert.

Arbeit und Kapital

Was die Geschehnisse der ersten Etappe charakterisiert, ist die Nacktheit des Verhältnisses zwischen Arbeitern und Kapital bzw. Kapitalisten. Die beschränkte Grösse der Betriebe – die 300 Arbeiter sind auf ungefähr 30 Steinbrüche verteilt – und die soziale Zusammensetzung der Belegschaften lassen Mechanismen ans Licht treten, die bei grösseren Betrieben häufig verdeckt werden von den Reglementierungen, die solche Betriebe eingehen müssen. Zwischen den Arbeitern und dem Besitzer des jeweiligen Steinbruchs befindet sich kein Funktionär, keine vermittelnde Instanz, die imstande wäre, „die Blösse zu bedecken“. Der Kapitalist tritt unmittelbar als moderner Sklavenhalter auf. Diese Bezeichnung ist keineswegs zufällig. Zwar ist der moderne Lohnarbeiter, gemäss der berühmten Definition von Karl Marx, „doppelt frei“: vor allem ist er frei, im Unterschied eben zum Sklaven, seine Arbeitskraft an wen er will zu verkaufen. Da er aber dazu auch noch „frei“ von Eigentum an Produktionsmitteln ist, sind seiner Freiheit deutliche Grenzen gesetzt. Der Arbeiter muss nämlich seine Arbeitskraft an jemanden verkaufen, und dadurch erhalten die Kapitalisten ein Mittel, um auf ihre Belegschaften einen Druck auszuüben.

Dieser Druck kann im Grund genommen zwei Formen annehmen: entweder vorbeugend, indem die Kapitalisten alles Mögliche unternehmen, um ihre Angestellten von einem Kampf abzuhalten, oder unterdrückend, indem versucht wird, bestehende Kämpfe zu unterlaufen. Beide Mittel wurden im Tessiner Streik angewendet: im Vorfeld des Streiks durch Bedrohungen unterschiedlicher Art (Briefe an die Belegschaft, persönliche Gespräche), während des Streiks dann durch direkten Einsatz von Sicherheitskräften unterschiedlicher Art bis hin zur Polizei (in einem Steinbruch haben z.B. zwei Polizisten per Telefon die Anweisungen des Steinbruchbesitzers an seine Belegschaft übermittelt, als wären diese Polizisten die Sekretäre des besagten Kapitalisten). Auch in den Tagen nach dem Streik wurden ähnliche Massnahmen angewendet: auf den Streik der Arbeiter antworteten einige Arbeitgeber mit ihrer eigenen Blockade, also mit einer zweitägigen Schliessung ihres Steinbruchs.

Neben der beschränkten Grösse der Betriebe ist der turbulente Kampfcharakter auf die Zusammensetzung der Belegschaften zurückzuführen: auf der einen Seite die starke Präsenz migrantischer Arbeiter, insbesondere Portugiesen, auf der anderen Seite einige Schweizer, die in manchen Fällen in einem freundschaftlichen Verhältnis zum jeweiligen Arbeitgeber stehen oder gar mit ihm verwandt sind. All das ermöglicht den Kapitalisten, ihre Belegschaften zu spalten. Durch die unterschiedlichen Löhne oder indem einige Arbeiter an den Profiten beteiligt werden.

Klassenkampf zwischen Organisation und Selbstermächtigung

Die soeben beschriebene Ebene des unmittelbaren Konflikts zwischen Arbeitern und Kapital stellt die elementarste Phase des Klassenkampfs dar, welche noch auf der Ebene des Einzelbetriebs angesiedelt ist. Die Versammlung, die Ende des Vormittags in einem geräumigen Restaurant in der Magadino-Ebene stattfand, dient als Veranschaulichung einer zweite Phase des Klassenkampfs. Die Gewerkschaften stellen die klassische Organisationsform dar, in der die Arbeiter ihre unmittelbaren ökonomischen Interessen organisieren und die Ebene des Einzelbetriebs überwinden, um sich als Klasse zu vereinen. In all dem besteht auch der Grundwiderspruch der Gewerkschaften: auf der einen Seite sind sie die erste und unmittelbarste Organisationsform des Klassenkampfs, auf der anderen (und gerade wegen dieser Unmittelbarkeit) ist es ihnen unmöglich, die Immanenz des Kapitalismus zu überwinden. Dadurch werden sie zu Kanälen der Integration der Arbeiterklasse in den Betrieb des bürgerlichen Staats.

Damit will niemand die Aufrichtigkeit und Kampfbereitschaft vieler Basisgewerkschafter bestreiten, wie das der Streik im Tessin nochmals verdeutlicht: ohne die Aufwiegelung jener Gewerkschafter, die schon sehr früh am Morgen in den Steinbrüchen ihre Stimmen erhoben, wäre die Teilnahme am Streik vermutlich viel geringer geblieben. Andererseits zeigt gerade der Verlauf der Versammlung am Vormittag, wie schnell die Ebene des Basiskampfes verlassen wird und die höheren Gefilde der „reinen Politik“ erreicht werden. Bedeutsam ist vor allem, dass die Reden, die unmittelbar vor dem Mittagessen vor den versammelten Arbeitern gehalten wurden, nur von Gewerkschaftsfunktionären gehalten wurden. Von den fast hundert anwesenden Steinmetzen konnte keiner das Wort ergreifen. Auch die Petition wurde einfach vorgelesen und ohne Diskussion zur Abstimmung gebracht. Dies verdeutlicht nochmals, wie die Gewerkschaften (in diesem Fall waren die UNIA und die OCST, eine christlich-soziale Gewerkschaft, wesentlich mitbeteiligt) einen organisatorischen und ideologischen Rahmen (sozialdemokratisch oder christlich) anbieten, durch welchen dann die Integration der Arbeiter in den bürgerlichen Staat erfolgt.

„Staat des Kapitals“ und Reproduktion der (kapitalistischen) Gesellschaft

Die dritte Etappe des eintägigen Streiks sei hier als Veranschaulichung für eine weitere Phase in der politischen Entfaltung des Klassenkampfs verwendet. Die Übergabe der Petition an den Regierungschef des Kantons Tessin vor dem Regierungspalast in Bellinzona symbolisiert den Übergang vom unmittelbar ökonomischen Konflikt zur politischen Ebene, wo, gemäss einer weitverbreiteten Überzeugung, solche Konflikte eine neutrale und unparteiliche Lösung finden sollen. Dass dem nicht so ist, wird im Folgenden gezeigt. Nicht nur der Klassencharakter jedes Staats muss betont werden, sondern auch die tatsächlich vermittelnde Funktion, die jedem kapitalistischen Staat als Garant der Reproduktion des gesamten kapitalistischen Verhältnisses zukommt. Der „Staat des Kapitals“ (Johannes Agnoli) muss sich in seiner Funktion als Gesamtkapitalist in bestimmten Fällen auch gegen die einzelnen Kapitalisten durchsetzen, wenn die Interessen bestimmter Kapitalfraktionen dysfunktional werden (was im schlimmsten Fall dazu führen kann, dass die Reproduktion des gesamten kapitalistischen Verhältnisses in Gefahr gerät). Damit wird keine Autonomie des Politischen gegenüber der Wirtschaft behauptet, sondern nur gezeigt, wie das Ökonomische sich politisch vermittelt.

In dieser Vermittlung besteht der Grundwiderspruch jedes kapitalistischen Staats: auf der einen Seite Garant der Reproduktion eines gesellschaftlichen Zusammenhangs, einer gesellschaftlichen Totalität, auf der andern Seite aber Garant der Reproduktion einer ganz spezifischen Gesellschaft, nämlich der kapitalistischen, und somit Garant der Reproduktion einer spezifischen Ausbeutungs- und Herrschaftsform. Dieser Widerspruch tritt auch im Fall des Streiks im Tessin zutage: der selbe Staat, an den man Mitte des Nachmittags ganz demokratisch mit der Übergabe einer Petition appelliert, um ihn zum Vermittler zwischen Arbeitern und Kapital zu befördern, betätigte sich einige Stunden davor durch seine Polizeikräfte als privater Sekretär eines privaten Kapitalisten in einem kleinen Steinbruch im Maggiatal.