Wir dokumentieren einen Text eines Genossen aus Chile, der über die brutale Repression des Staates schreibt und uns mit unzähligen historischen Beispielen aus der chilenischen Region erinnert: Die Staatsmacht ist nie neutral, sie gehört bekämpft und abgeschafft.
Ich erinnere mich, dass während den ersten großen Massendemonstrationen des Jahres 20111, als die Spezialkräfte der Polizei begannen, uns mit Schlagstöcken, Wasserwerfer mit Reizstoff im Wasserstrahl und Tränengas anzugreifen, einige Bürger*innen riefen: «Das ist die faschistische Unterdrückung der Regierung Piñeras!». Ich antwortete, dass sie anscheinend während der gesamten Amtszeit der Koalition der Parteien für die Demokratie (ein linkes/mitte-links Bündnis. Anm. d. Ü.), sprich zwischen 1990 und 2010, nie auf der Straße gewesen seien, denn die Repression war dieselbe. Auch die Brutalität des Staates und das illegale Vorgehen seitens der Repressionsorgane hatte sich nicht geändert. Während der Amtszeit der Koalition der Parteien für die Demokratie wurde sogar die Ausrüstung der Repressionskräfte verstärkt – dafür gab es parteiübergreifende politische Unterstützung, von der UDI (Unión Democrática Independiente, eine rechte Partei. Anm. d. Ü.) bis zur PS (Partido Socialista. Anm. d. Ü.).
Denn der Repressionsapparat des Staates basiert auf einem latenten Terrorismus. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Gewalt gegen die gesamte Bevölkerung eingesetzt wird. Selbst Marx sprach im «Kapital» davon, dass das kapitalistische System während der Phase der ursprünglichen Akkumulation offen auf privatem und dann staatlichem Terrorismus basiert. Wenn dann später die Köpfe und Körper der Bevölkerung sich an die Gewalt gewöhnt haben, sprich, wenn die Gewalt als natürlich betrachtet wird, kann sie Schritt für Schritt reduziert werden, denn die sozialen Beziehungen die mit ihr einhergehen charakterisieren sich durch eine passive Konformität. Dies wird nur solange der Fall sein, bis besondere Umstände es notwendig machen, dass die «Herrschaft durch Terror» wieder ans Tageslicht tritt.
Der alte linke/demokratische Glaube, dass die Streit- und Ordnungskräfte bis zum 11. September 1973 (an jenem Datum kam es zum Militärputsch in Chile. Anm. d. Ü.) treue und respektvolle Hüter*innen der Verfassung und der Gesetze waren, ist ein Mythos, der zerstört werden muss.
Folkloristische Erzählungen wollen uns glauben lassen, dass das einzige große Massaker vor 1973 das der Santa Maria Schule in Iquique2 war. Aber das ist nicht der Fall. Wenn wir uns die Geschichte genauer ansehen, werden wir feststellen, dass Brutalität und Völkermord nichts Einmaliges waren. Davon betroffen waren vor allem die indigene Bevölkerung, das städtische und ländliche Proletariat, wie auch Student*innen und sexuelle Minderheiten. Die abscheulichen Gewalttaten gegen all diese Gruppen sind symbolisch in der blutroten Farbe der Nationalflagge repräsentiert. Die brutale Gewalt war schon immer die Norm und nicht die Ausnahme. Die Massaker von San Gregorio (1921, mit Pedro Aguirre Cerda als Innenminister), Ranquil (1934), Pampa Irigoin (1969), El Salvador (1966), die blutige Unterdrückung des Arbeiteraufstands von Puerto Natales vor hundert Jahren (Januar 1919), der Brand beim Arbeiterverband von Punta Arenas (1920), das tragische Ostern von Copiapó und Vallenar (1931), die Chaucha-Revolution von 1949 und der städteübergreifende Aufstand vom April 1957 in Valparaíso/Santiago/Concepción3. All diese Ereignisse sind ein konkreter Beweis dafür, dass Staat und Terror Synonyme sind. Sinn und Zweck des repressiven Apparats ist, das Fortbestehen des gegenwärtigen Herrschaftssystem zu sichern.
Auch im Jahr 1971, als der Staat in Händen der Unidad Popular4 lag, wurden Menschen von der Polizei gefoltert und massakriert, wie Carlota Villabona in ihrem kürzlich veröffentlichten Buch5 über ihre Erfahrungen mit der «Vanguardia Organizada del Pueblo»6 zeigt. Die Folterungen, denen sich die Genoss*innen der VOP – Vopistas genannt – ausgesetzt sahen, umfassten oft sexuelle Belästigungen und in einigen Fällen kam es sogar zu erzwungenen Abtreibungen. Natürlich schwieg die offizielle Linke zu diesen Ereignissen.
Was Javier Rebolledo (ein chilenischer Journalist. Anm. d. Ü.) kürzlich sagte, ist absolut richtig: «Um 1973 waren die Polizeiermittler, nicht das Militär, die Spezialisten für Folter. Dieses Land foltert seit jeher, sei es unter der Regierung von Alessandri, Frei, Ibáñez oder Allende. Aber es war halt kein Thema, das im Rampenlicht stand. Es wurde lange vermutet, dass Lumpenproletarier und Kriminelle mit Stromschlägen gefoltert wurden. Die Spezialisten für Folter waren die Ermittler. Diese Missstände kamen erst ans Tageslicht, als politisch organisierte Leute, sozusagen die politische Klasse, gefoltert wurden».7
Auch nachdem Pinochet am 11. März 1990 die Präsidentenschärpe an Patricio Aylwin übergeben hatte, folterte und massakrierte die Polizei weiter. Die Mehrheit der Linken weigerte sich diese Tatsache anzuerkennen, und ein Teil davon widmete sich voll und ganz der Arbeit des repressiven Apparats: Erinnern wir uns an das Büro für öffentliche Sicherheit, das sich systematisch der Infiltration und Zerstörung derjenigen Gruppen widmete, die weiterhin mit Waffen Widerstand gegen die Diktatur leisteten. Eine Diktatur unter dem Deckmantel der «Demokratie der Vereinbarungen». Die Lautarist*innen8 und Frentist*innen9 meiner Generation wurden durch gezielte Denunzierungen, Folter, außergerichtlichen Hinrichtungen und politische Inhaftierung bekämpft. Die Koalition der Parteien für die Demokratie rechtfertigte diese Repression oder schaute weg und schwieg.
Dazu kommt, dass das Strafvollzugssystem des kapitalistischen Staates, in seiner alltäglichen Verfahrensweise, ständig dazu tendiert, seine eigenen Gesetze zu brechen. Dies wird jedoch selten wahrgenommen, da alles im Schatten der Kerker und Gefängnissen passiert. Dieses Vorgehen des repressiven Staatsapparats wird in der lateinamerikanischen Kriminologie «unterirdisches Strafsystem» genannt und umfasst alles, von willkürlichen und illegalen Verhaftungen über Demütigungen und Folter bis hin zum Verschwinden lassen (wie das von José Huenante) und außergerichtlichen Hinrichtungen (wie die von Matías Catrileo, Alex Lemún und Camilo Catrillanca, um nur einige Beispiele zu nennen, denn die Liste ist viel umfangreicher).
Heute sind wieder einmal die Jugendlichen die Speerspitze des Widerstands, Jugendliche die in Gymnasien eingesperrt sind, die wie Gefängnisse aussehen, und die allesamt vom Staat (nicht nur von rechten Parteien) seit geraumer Zeit mit Gesetzen bekämpft werden, wie das sogenannte «Aula-Segura»-Gesetz10 oder die Altersreduzierung der präventiven Identitätskontrolle. Seit dem, von Jugendlichen getragenen, großen Aufstand vom 18. Oktober 2019 ist wieder einmal klar geworden, dass Polizei und Militär als erste ihre eigenen Gesetze schamlos verletzen und dass sie unter dem Vorwand der «Kontrolle der öffentlichen Ordnung» die kapitalistische Gesellschaftsordnung verteidigen, indem sie wahllos auf die Bevölkerung schießen. Vergessen wir das nicht.
Bereits eine Woche dauert der Aufstand in der chilenischen Region an und wir können mit Sicherheit sagen, dass sich das «unterirdische Strafsystem» qualitativ und quantitativ intensiviert hat. Wir haben es in Chile mit einem offenen Staatsterrorismus zu tun, der von den großen Medien verschwiegen wird, der aber direkt von Tausenden von Kameras festgehalten und auf persönlichen Seiten und Gegeninformationsplattformen hochgeladen wird. Illegale Verhaftungen, Prügel, Tränengas das auf den Körper geschossen wird, wahllose Repression gegen friedliche Demonstrant*innen, Nutzung illegaler Haftanstalten, Morde, Folter, mindestens 20 Tote, 3'000 registrierte Verhaftungen (und Berichte über Verhaftungen, die nicht offiziell registriert wurden, weil die Verhafteten, nachdem sie zusammengeschlagen wurden, wieder gehen durften), tausende Verletzte, mehrere davon in kritischem Zustand, darunter mindestens 50 Menschen, die ein Auge durch den Einsatz von Gummigeschossen seitens der Polizei verloren haben.
Wir erleben in Chile massive und systematische Menschenrechtsverletzungen, wir haben es mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu tun. Dies klarzustellen ist von grundlegender Bedeutung, auch wenn die Behörden es vorziehen, die Wahrheit zu verbergen, wie in den Worten des Generaldirektors der Polizei deutlich wird, der gerade im Kongress gesagt hat: «Wir verwenden nicht das Wort ‹Repression», wir verwenden das Wort ‹Kontrolle der öffentlichen Ordnung», das Wort ‹Repression› ist sehr stark». Dies nennt man «Etikettenschwindel».
Wenn wir die ganze «alte Scheiße» – wie Marx sagte – loswerden wollen, müssen wir auch den Staatsterrorismus loswerden und diese Revolte bis zu einem Punkt ohne Wiederkehr bringen. Wir müssen uns gemeinschaftlich organisieren, von unten nach oben und gegen jegliche Staatsgewalt.
Aus dem Spanischen übersetzt von Eiszeit.
Gefunden auf:
https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=412081786367923&id=304400550469381
- 1. Im Jahr 2011 kam es in Chile zu großen Schüler*innen- und Student*innenprotesten gegen die neoliberale Bildungspolitik und dem Neoliberalismus im Allgemeinen. Anm. d. Ü.
- 2. In Iquique wurden im Jahr 1907 hunderte chilenische, peruanische und bolivianische Arbeiter ermordet, um einen Streik niederzuschlagen. Anm. d. Ü.
- 3. Hierzu gibt es einen kurzen Text:
https://www.elciudadano.com/…/2-de-abril-de-1957-val…/04/02/ - 4. Ein Linksbündnis, das Salvador Allende zur Präsidentschaft verhalf. Anm. d. Ü.
- 5. Carlota «Natacha» Villabona/Felipe Guerra, Si no aprendemos a luchar juntos nos matarán por separado, Editorial Tempestades, 2019.
- 6. Eine bewaffnete linksradikale Gruppe, die von 1968 bis 1971 existierte. Anm. d. Ü.
- 7. https://www.eldesconcierto.cl/…/javier-rebolledo-revela-det…
- 8. So wurden Mitglieder des «Movimiento Juvenil Lautaro» genannt, eine bewaffnete Gruppe marxistisch-leninistischer/maoistischer Prägung, die zwischen 1982 und 1994 aktiv war. Anm. d. Ü.
- 9. Mitglieder des «Frente Patriótico Manuel Rodríguez», einer marxistisch-leninistischen Organisation, die als bewaffnete Gruppe von 1983 bis 1999 bestand und später den bewaffneten Kampf aufgab. Anm. d. Ü.
- 10. Zu Deutsch «Sicheres Klassenzimmer». Ein Gesetz das Ende 2018 eingeführt wurde und den Schulleiter*innen mehr Möglichkeiten gibt, um Schüler*innen, vor allem diejenigen die sich politisch engagieren, zu suspendieren oder ganz von der Schule auszuschließen. Anm. d. Ü.