Vorwort
Im Folgenden dokumentieren wir einen Text von Corsino Vela aus Barcelona. Entgegen der auch hierzulande verbreiteten Argumentation, der Weg in die Unabhängigkeit Kataloniens sei vor allem ein wichtiger Schritt, um fernab des monarchistischen und postfaschistischen Spanien einen progressiven Staat aufzubauen, erklärt er die sezessionistischen Bestrebungen aus der Abwärtsdynamik heraus, die auch Spanien und Katalonien im Zuge der globalen Wirtschaftskrise seit 2008 erfasst hat.
Zu dem Mythos, bei der Unabhängigkeitsbewegung handele es sich um eine linke, antifaschistische Freiheitsbewegung, haben die brutalen Bilder der spanischen Militärpolizei Guardia Civil, die mit Knüppeln auf eifrige Demokraten an der Wahlurne eingeprügelt hat, sicher beigetragen. Zudem zeigen die Katalaninnen nicht die hässliche Fratze des Nationalismus – oft weht neben ihrer Nationalfahne auch noch der Slogan Refugees Welcome. Es ist wenig überraschend, dass hierzulande die gleichen Gruppen und Personen in der katalanischen Bürgerbewegung eine Chance auf soziale Veränderung, gar mögliche revolutionäre Umbrüche wittern, die auch schon auf Hugo Chávez gehofft oder mit Syriza sympathisiert haben. Aber selbst anarchosyndikalistische Genossen sehen mindestens neue Möglichkeiten, die sich durch die causa catalonia ergeben könnten.
Staatskritik wird dabei kurzerhand gegen das ominöse Konzept der »rebellischen Provinz« eingetauscht
Katalonien scheint das neue Mekka eines »revolutionären Regionalismus« zu sein, der neuerdings mit der Rede vom »Europa der widerständigen Regionen« beschworen wird. Staatskritik wird dabei kurzerhand gegen das ominöse Konzept der »rebellischen Provinz« eingetauscht. Die gegenwärtigen Abspaltungstendenzen, ob in Katalonien, Flandern oder Norditalien, sind nur eine besondere Spielart des wiedererstarkenden Nationalismus in ganz Europa, der die soziale Frage kassiert. So ist auch in Katalonien keine Rede mehr von der Krise, die auf der ganzen iberischen Halbinsel ihre Spuren hinterlassen hat: Jugendarbeitslosigkeit von über 30 Prozent, prekäre Arbeitsbedingungen, Rentenkürzungen, hunderttausende Menschen, die ihre Wohnungen und Häuser verloren haben, Suizidrate auf Rekordhöhe – das ganze Programm, von dem Millionen Menschen in Südeuropa betroffen sind. In diesem Licht erscheint die katalanische Kleinstaaterei vielen, die den Glauben an eine bessere Zukunft weitgehend verloren haben, als letzte Hoffnung.
Der vorliegende Text versucht die gegenwärtige Dynamik der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung im politischen und ökonomischen Kontext zu erklären und ihre Klassenzusammensetzung zu beleuchten, nicht ihre historischen Wurzeln. Trotzdem sollte nicht unerwähnt bleiben, dass der gemäßigte katalanische Nationalismus in den letzten vierzig Jahren den spanischen Staat stabilisiert hat. Die CiU (Convergencia i Union), Vorläuferin der Partei des abgesetzten Regionalpräsidenten Puidgemont (Partit Demòcrata Europeu Català, PDeCAT), hat die postfranquistische Verfassung von 1978, die unter anderem die Monarchie wiederhergestellt hat, nicht nur akzeptiert, sondern selbst mitausgearbeitet, und seitdem durchgängig die Zentralregierung unterstützt, ganz gleich, ob diese von den Konservativen (Partido Popular, PP) oder den Sozialdemokraten (Partido Socialista de España, PSOE) gestellt wurde. Im Gegenzug kam man der Regionalregierung in Katalonien bei der Vergabe administrativer Rechte entgegen. Die katalanischen Sozialdemokraten (Esquerra Republicana de Catalunya, ERC) haben sich zwar bei der Abstimmung über die Verfassung von 1978 enthalten, waren aber genau wie CiU und PDeCAT immer im Parlament von Madrid vertreten und haben die Zentralregierung somit ebenfalls in gewisser Weise legitimiert.
Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft
Endstation Katalonien
Um den Aufstieg der Unabhängigkeitsbewegung in den letzten sechs Jahren und damit die gegenwärtige Situation zu verstehen, muss man sich die jüngsten politischen Entwicklungen vergegenwärtigen. Nach den Regionalwahlen 2003 wurde Katalonien bis 2006 von einer Dreiparteienkoalition aus Sozialisten, Grünen und ERC regiert, die eine Reform des Autonomiestatuts zu einem ihrer Hauptziele erklärte. Angestrebt wurden unter anderem eine Veränderung des Finanzausgleichs mit dem Zentralstaat – bislang zahlt Katalonien mehr ein, als es zum Beispiel durch Infrastrukturinvestitionen aus Madrid erhält – und Kataloniens Anerkennung als eigenständige Nation innerhalb von Spanien. Die PP, damals in der Opposition, klagte dagegen vor dem Verfassungsgericht mit der Begründung, dass ein Großteil der Neuregelungen gegen die Verfassung verstoße. Im Jahr 2010 wurde der Klage stattgegeben, die Reform scheiterte.
Als auch Neuverhandlungen mit der Regierung in Madrid nicht mehr möglich schienen, veränderte der katalanische Nationalismus seinen Charakter: Waren die Separatistinnen bislang in der Minderheit gewesen, während sich die Mehrheit lediglich für mehr Autonomie oder Souveränität ausgesprochen hatte, wurde ihr Lager nun größer. In den frühen 2000er Jahren sprachen sich 17 Prozent für ein unabhängiges Katalonien aus, heute sind es 48 Prozent.
Die Auswirkungen der Krise
Die globale Wirtschaftskrise hat ab 2008 auch in Katalonien – und dem spanischen Staat insgesamt – zu tiefgreifenden Verschlechterungen der Lebenssituation geführt und den Staatshaushalt in eine Schieflage gebracht. Seit den 1990er Jahren war ihr eine einschneidende Veränderung des kapitalistischen Akkumulationsmodells im gesamten Land vorausgegangen: Deindustrialisierung und Wachstum des Dienstleistungssektors, wobei der Tourismus und eng mit ihm verwobene Bereiche wie der Bausektor und das Gastgewerbe am wichtigsten wurden (in Katalonien arbeiten fast drei Viertel der Beschäftigten im Dienstleistungsbereich, auf den Tourismus entfallen 14 Prozent). Das Platzen der Immobilienblase war nur der oberflächlichste Aspekt einer grundlegenden Krise des spanischen Kapitalismus, dessen starke Abhängigkeit vom Baugewerbe sich nun zeigte. Was zunächst wie eine Banken- und Finanzkrise erschien, entpuppte sich schnell als weit mehr und hat in Madrid wie Barcelona das Haushaltsdefizit und die Staatsverschuldung in die Höhe getrieben. Unterdessen stiegen die Arbeitslosenzahlen landesweit in rasender Geschwindigkeit auf das Rekordniveau von rund 25 Prozent. Heute sind es in Spanien 16,4 und in Katalonien 12,5 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit liegt aber weiterhin bei etwa 30 Prozent. Von 2006 bis 2017 ist in Katalonien rund ein Viertel der Industriejobs entfallen, im Bausektor sogar fast die Hälfte (215.000 von 445.000).
Vor allem aber hat die Krise auch Folgen für den zentralstaatlichen Finanzausgleich zwischen reicheren und ärmeren Regionen gehabt, der im Zentrum des Konflikts zwischen Madrid und Barcelona steht. Je nach Berechnungsweise zahlt Katalonien dabei 2 bis 16 Milliarden Euro mehr ein, als es selbst aus Madrid bekommt. Unabhängig von den exakten Zahlen hofft das nationalistische Establishment in Katalonien, künftig mehr Steuergelder einzubehalten und so zumindest teilweise die Auswirkungen der Krise abfedern zu können. Diese spüren vor allem die proletarisierten Schichten, aber auch Teile der Mittelschicht, inklusive derer, die von dem klientelistischen System bevorzugt werden: Beamte, Angestellte der Regionalregierung und sozialer Institutionen, die von ihr subventioniert werden.
Von den besetzten Plätzen zur Nation
Die Wirtschaftskrise führte zu einer rigiden Sparpolitik, die vor allem den Gesundheits-, Bildungs-, und Sozialbereich traf; auch die Gehälter im öffentlichen Dienst wurden gekürzt oder eingefroren. Die Folge war eine Welle von Protesten und Massenmobilisierungen. Die katalanische Regierung hat die Kürzungsmaßnahmen gleich doppelt instrumentalisiert: Zum einen schob sie die Schuld an der sozialen Misere auf die Zentralregierung, da Katalonien im Finanzausgleich benachteiligt werde – »Madrid beklaut uns!« –, zum anderen wurden große Privatisierungswellen, vor allem im Bildungs- und Gesundheitssektor, durch die klammen Staatskassen gerechtfertigt.
Auf diese Weise wurden große Teile der sozialen Bewegung zugleich institutionalisiert und national gewendet
In den ersten Jahren der ökonomischen Krise – und der politischen, die nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts über das Autonomiestatut heraufzog – kam es zu einer Verschlechterung der Lebensbedingungen, die Gegenwehr auf den Plan rief: Von Schließung bedrohte öffentliche Krankenhäuser und Ärztezentren wurden besetzt, auch gegen Kürzungen im Bildungssektor fanden Kämpfe statt. Die starken Mobilisierungen mündeten 2011 in ganz Spanien in großen Besetzungen von Plätzen (»Bewegung 15-M«, »Indignados«), so auch der Plaça de Catalunya in Barcelona, die jedoch von den Besetzerinnen freiwillig wieder aufgegeben wurde, nachdem ein brutaler Räumungsversuch der katalanischen Polizei an massivem Widerstand gescheitert war. Einen Monat später wurde das katalanische Parlament belagert, das an diesem Tag weitere Sparmaßnahmen beschließen wollte. Für den damaligen Präsidenten der Autonomieregion, Artur Más, wurde dies ebenso zu einer Demütigung – der Landesherr musste per Hubschrauber ins Parlament eingeflogen werden – wie für die Abgeordneten, die – egal, ob sie der Rechten oder der Linken angehörten – nur von der katalanischen Polizei eskortiert in das Gebäude gelangten. Diese Aktion war die deutlichste Delegitimierung der politischen Repräsentanten seit dem Ende der Franco-Diktatur und offenbarte eine beispiellose politische und soziale Krise.
Angesichts dieser Situation, die gewisse Züge einer Unregierbarkeit hatte, bekam es ein Teil der Aktivisten – vor allem aus der Antiglobalisierungsbewegung und der NGO-Szene – mit der Angst zu tun: Die Massenmobilisierungen für konkrete materielle Anliegen, vor allem für das Ende der Sparpolitik, drohten das gesamte politische System zu destabilisieren. Zwei Jahre später, 2013, veröffentlichten einige Gruppen daher ein Manifest, in dem sie sich für einen »konstituierenden Prozess« aussprachen – für den schrittweisen Aufbau einer katalanischen Republik, die einen sozialen Charakter haben sollte. In vielen Dörfern und Städten wurden Versammlungen (Asambleas) gebildet, die zugunsten dieses »konstituierenden Prozesses« linke Kandidaten, die sich für die Forderung nach einer katalanischen sozialen Republik stark machten, bei Wahlen unterstützen sollten. Auf diese Weise wurden große Teile der sozialen Bewegung zugleich institutionalisiert und national gewendet. Ihr Niedergang wurde zudem durch einen Generalstreik im November 2012 befördert, bei dem sich die großen Gewerkschaften abermals fernhielten und auf den die katalanische Polizei erneut mit harter Repression reagierte.
Die »Indignados« waren keine klassenkämpferische Bewegung
Warum es so leicht war, die Bewegung gegen die Sparpolitik von der sozialen Frage abzulenken und für die Unabhängigkeitsbewegung zu gewinnen, lässt sich vor allem durch ihre soziale Zusammensetzung erklären. Die »Indignados« waren keine klassenkämpferische Bewegung, sondern von Anfang an von einem starken Wunsch nach »Erneuerung der Demokratie« und bürgerschaftlichem Engagement geprägt. Darin drückte sich die Haltung proletarisierter Mittelschichten aus, die sich später sehr offen für die Idee der eigenen Nation zeigten.
Parallel dazu wurde 2012 die »Katalanische Nationalversammlung« gegründet (Asamblea Nacional Catala, ANC), die wie eine Art Satellit der separatistischen Tendenzen der Regionalregierung funktioniert und die Verantwortung für die sozialen Einschnitte mit der bekannten Argumentation auf die Regierung in Madrid abwälzt. Als breite soziale Front aus Gewerkschaften, Parteien, NGOs, Vereinen, Kulturverbänden etc. propagierte die ANC, es gebe keinen Spielraum mehr für Verhandlungen über einen besseren Finanzausgleich mit Madrid und die zwingende Voraussetzung für eine bessere Sozialpolitik liege in einem unabhängigen Katalonien; die soziale Frage erscheint so unweigerlich mit der nationalen verbunden. Dabei ist auch die Rolle der katalanischen Medien (TV3, Radiosender und Zeitungen) und eines weitverzweigten Netzes staatlich geförderter Sport-, Kultur- und Wohlfahrtsvereine von Bedeutung, die zur ideologischen Verbreitung des Separatismus beitragen – so wie es spiegelbildlich dazu Medien und soziale Organisationen auf spanischer Seite tun.
An die nationale Unabhängigkeit wurde somit ein Versprechen gekoppelt: die Wiederherstellung des Wohlfahrtstaats. Das ist die Antwort der katalanischen Eliten auf die Krise, während sie ihre Politik der Einsparungen und Privatisierungen im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesen ungerührt fortsetzen. Gleichzeitig hat die spektakuläre Propagandaschlacht zwischen katalanischer und spanischer Regierung zu einem nicht unwichtigen Nebeneffekt geführt: Sie lenkt von den zahllosen Korruptionsfällen ab, in die Mitglieder beider Regierungsparteien verwickelt sind. In diesem Sinne ist die nationalistische Antwort auf die Krise für das politische Establishment auf beiden Seiten von Vorteil gewesen.
Die soziale Zusammensetzung der Unabhängigkeitsbewegung
Der katalanische Nationalismus hat seine soziale Basis in den Mittelschichten, die von der Verschärfung der kapitalistischen Krise seit 2007 stark betroffen sind: Beamtinnen, Selbstständige, das in einen dramatischen Proletarisierungsprozess geratene Kleinbürgertum des Handels- und Agrarsektors, Angestellte von Kultur- und Sportvereinen sowie Studierende. Zählt man zu den 5 Prozent der katalanischen Erwerbsbevölkerung, die im öffentlichen Dienst arbeiten, die Beschäftigten im Gesundheits- und Bildungswesen hinzu, erreicht der Anteil der von der Regionalregierung abhängigen Arbeitsplätze fast 20 Prozent; der bedeutende Sport- und Kulturbereich lebt ebenfalls in hohem Maße von ihren Subventionen. Auch die rund 500.000 Sekundarschüler und 200.000 Studierenden, deren gegenwärtigen Aussichten in Proletarisierung und Prekarisierung bestehen, sind ein aktiver Teil der Unabhängigkeitsbewegung.
Der katalanische Nationalismus hat seine soziale Basis in den Mittelschichten, die von der Verschärfung der kapitalistischen Krise seit 2007 stark betroffen sind
Die verschiedenen Kapitalfraktionen unterscheiden sich in ihrem Verhältnis zur Unabhängigkeit. Zwar setzen sich Organisationen kleinerer und mittelgroßer Unternehmen aktiv für den Separatismus ein, sie vertreten aber nicht die Mehrheit der Unternehmer und sind auch nicht im wichtigen katalanischen Arbeitgeberverband Foment del Treball vertreten. Große Teile des etablierten katalanischen Kapitals, organisiert um den Wirtschaftskreis Cercle d‘ Economia, sowie das vor Ort ansässige transnationale Kapital lehnen die Unabhängigkeit dagegen ab und bekunden dies auch öffentlich. Das hat nicht in erster Linie politische oder ideologische Gründe – schließlich ist die Unabhängigkeitsbewegung in keiner Weise antikapitalistisch –, sondern erklärt sich schlicht aus der politischen Destabilisierung und Rechtsunsicherheit, die der Konflikt erzeugt und die den Interessen von Unternehmern unmittelbar schaden. Auch ein Boykott katalanischer Produkte im Rest des spanischen Staates wird befürchtet, der allerdings insofern paradox wäre, als er auch spanische Unternehmen treffen würde, die Vorprodukte an katalanische Firmen liefern.
Wichtig ist allerdings, dass der Gedanke eines eigenen Staates bei einer Schicht auf Anklang stößt, die man als aufstrebende Bourgeoisie oder neue Elite bezeichnen könnte und die folgerichtig eine führende Rolle in der separatistischen Bewegung spielt. Sie setzt sich zusammen aus hohen Beamten und politischen Fachleuten, Anwältinnen, Geschäftsleuten und Selbstständigen aus der Tourismusbranche und dem Baugewerbe, Beratern und Vertreterinnen internationaler Investmentfonds sowie Akademikern, Journalistinnen und Künstlern. Dies ist ein zuletzt größer gewordenes Segment der herrschenden Klasse mit wirtschaftlichen und beruflichen Interessen in der Dienstleistungswirtschaft, insbesondere im Immobilien-, Tourismus- und Kultursektor, das mitunter transnationale Investitionen ins Land zieht, verwaltet und zugleich aufs Engste mit den oberen Ebenen des katalanischen Staatsapparates verflochten ist, der durch klientelistische Subventionen ein soziales Netzwerk am Leben hält.
Ethnokulturelle oder rassistische Züge spielen für den katalanischen Nationalismus tatsächlich keine Rolle. Es handelt sich um einen kleinbürgerlichen Nationalismus
Allerdings ist die Unabhängigkeitsbewegung in den letzten zehn Jahren so stark gewachsen und erhält bei Wahlen mittlerweile fast die Hälfte der Stimmen, weil sie auch in den unteren Schichten Zuspruch findet. Ethnokulturelle oder rassistische Züge spielen für den katalanischen Nationalismus tatsächlich keine Rolle. Er ist vielmehr klassenmäßig bestimmt: Es handelt sich um einen kleinbürgerlichen Nationalismus, der sich vor allem auf die staatliche Verwaltung bezieht – die katalanischen Steuern sollen in Katalonien bleiben. Diese Abwesenheit ethnisch-rassistischer Züge lässt sich aus der demografischen Zusammensetzung der Region erklären: Von ihren 7,5 Millionen Einwohnern wurde laut einer Volkszählung von 2011 mehr als ein Drittel außerhalb Kataloniens geboren (rund 1,5 Millionen im übrigen Spanien und 1,3 Millionen im Ausland). Die anderen sind mehrheitlich Kinder von spanischen Zuwanderern der 1960er und 1970er Jahre; sie sind in Katalonien zur Schule gegangen und Teile von ihnen unterstützen den Separatismus.
Die überwiegende Mehrheit der Arbeiterinnenklasse, die in den städtischen Industriegürteln lebt, steht der Unabhängigkeit tendenziell gleichgültig gegenüber, ohne dem extremen spanischen Nationalismus anzuhängen. Im Zuge der jüngsten Eskalation des Konflikts zwischen Regional- und Zentralregierung allerdings hat das Auftreten der rechten wie linken spanischen Parteien (Partido Popular, Ciudadanos und Partit dels Socialistes de Catalunya, PSC) dazu geführt, dass der spanische Nationalismus in Teilen der klassischen Arbeiterinnenklasse stärker Auftrieb erhalten hat, wie die territoriale Verteilung der »pro-spanischen« Stimmen bei Wahlen zeigt. So wie der katalanische Nationalismus trotz seines ausgesprochen kleinbürgerlichen Charakters Teile der traditionellen Arbeiterklasse für sich gewinnen kann und somit einen gewissen Querschnitt durch die Gesellschaft repräsentiert, gilt dies auch für den spanischen Nationalismus in Katalonien.
Die institutionalisierte Linke in Katalonien
Vor dem Hintergrund der Krise und des erstarkenden Separatismus hat sich auch die institutionalisierte Linke in Katalonien verändert. Die traditionellen linken Parteien (Sozialdemokraten und Sozialisten) unterstützen mit unterschiedlichen Nuancen den spanischen Zentralstaat. In der neuen Linken, die aus den sozialen Bewegungen der letzten Jahre hervorgegangen ist, bestehen dagegen unterschiedliche Positionen zur Unabhängigkeit. Während die CUP (Candidatura de Unidad Popular – Kandidatur der Volkseinheit) eine einseitige Unabhängigkeitserklärung der katalanischen Republik verlangt, vertritt Podemos/BenC (Barcelona en Comú – Barcelona Gemeinsam) föderalistische Positionen und fordert ein rechtlich bindendes Referendum nach dem Prinzip »Recht auf Entscheidung«. In beiden Parteien drückt sich eine Institutionalisierung der sozialen Basisbewegungen aus.
Die CUP vertritt im Rahmen des Parlamentarismus dezidiert sozialdemokratische Positionen und stellt eine Art extreme Linke des Kapitals dar
Die Ursprünge der CUP gehen auf die Kommunalwahlen von 1986 zurück. Trotz ihrer radikalen antikapitalistischen, feministischen und antirassistischen Rhetorik unterstützte die Partei in den letzten Jahren die bürgerlich-separatistischen Fraktionen in Gestalt von PDeCat und ERC. Innerhalb des Systems der politischen Vertretung hat die CUP von ihren zehn Sitzen im Parlament profitiert, die unabdingbar waren, um den genannten Parteien zu einer Mehrheit zu verhelfen und den Prozess mit der Unabhängigkeitserklärung vom 27. Oktober 2017 voranzutreiben. Überraschenderweise hat sich die CUP bereit erklärt, an den Wahlen vom 21. Dezember teilzunehmen, die die spanische Regierung nach Suspendierung der Unabhängigkeit angesetzt hatte, um gemäß der Verfassung von 1978 die Einheit Spaniens wiederherzustellen. Diese »Einheit« ist das zwanghafte Dogma des spanischen Nationalismus. Der Beitrag der CUP bestand darin, der Unabhängigkeitsbewegung einen sozialen Anstrich zu verleihen, und sie war ein wichtiger Akteur in der Basismobilisierung – wobei sie die beiden großen Parteien der Bewegung stets verteidigt hat. Die CUP vertritt im Rahmen des Parlamentarismus dezidiert sozialdemokratische und populistische Positionen und stellt eine Art extreme Linke des Kapitals dar, insofern sie sich an den demokratischen Institutionen der kapitalistischen Ordnung beteiligt, »um sie zu untergraben« – eine illusorische Vorstellung, die man von radikaleren Spielarten der alten Sozialdemokratie kennt.
In ähnlicher Weise ist BenC/Podemos ein Ergebnis der Institutionalisierung der Indignados-Bewegung und von Basisinitiativen wie der PAH.2 Da sie in Barcelona die Lokalregierung stellt, hat sie gewisse Möglichkeiten, in soziale Angelegenheiten einzugreifen. Wie die CUP in den von ihr regierten Städten und Gemeinden verfolgt BenC/Podemos eine Sozialpolitik, die sich immer innerhalb des begrenzten Handlungsspielraums bewegt, den der institutionelle Rahmen bietet. Mit Blick auf die nationale Frage legt die Partei einen mehrdeutigen Föderalismus an den Tag, um in der katalanischen Wählerschaft der Sozialisten auf Stimmenfang zu gehen.
Die Comités de Defensa del Referendum (Komitees zur Verteidigung des Referendums) verdienen eine gesonderte Behandlung. Sie wurden am 1. Oktober gebildet und spielten mit ihrer enormen Organisationskraft eine wichtige Rolle im Kampf gegen die Repression der spanischen Guardia Civil während des Referendums. Die Zusammensetzung der einzelnen Komitees ist sehr heterogen, da sie als Stadtteilversammlungen allen offen stehen. Manche treten für eine herkömmliche Republik europäischer Art ein, andere für eine »soziale Republik«, wieder andere für eine Republik, die von der Basis aus errichtet werden soll, oder für einen »konstituierenden Prozess«, an dessen Ende nicht unbedingt ein Staat stehen muss. Sie waren einerseits praktische Zusammenschlüsse für konkrete Aktionen gegen die Polizeirepression oder für Interventionen beim Generalstreik, andererseits bieten sie den Beteiligten auch einen öffentlichen Raum, um über ihre Meinungen und Bedürfnisse zu diskutieren. Ohne ihre Bedeutung und ihr Potenzial zu schmälern, sollte man die Rolle der Komitees im aktuellen Konflikt nicht überbewerten oder gar mystifizieren. Auch wenn sie viele Leute mobilisiert haben, sind sie eine Minderheit, deren erfolgreiches Eingreifen am 1. Oktober und während der Generalstreiks stark von der Zurückhaltung der katalanischen Polizei Mossos d´Esquadra profitiert hat, die soziale Protestbewegungen ansonsten bekämpft. Ebenso darf nicht vergessen werden, dass das Referendum auf verschiedenen logistischen Ebenen von der ANC organisiert wurde, also von einem konventionellen und konservativen Gerüst des katalanischen Nationalismus.
Zwei konkurrierende bürgerliche Klassen
Der Hintergrund des Konflikts ist in erster Linie der Kampf zwischen zwei Eliten. Sie kämpfen um ihr Gewicht in der transnationalen Kapitalakkumulation und versuchen gleichzeitig die Regierbarkeit eines von der Krise getroffenen Landes zu gewährleisten. Für die herrschende Klasse in Madrid ist die Einheit Spaniens die Grundvoraussetzung für die Aufrechterhaltung eines gewissen Gleichgewichts und sozialen Friedens zwischen den verschiedenen Regionen. Dafür ist der vom Zentralstaat organisierte Finanzausgleich unentbehrlich.3 Die herrschende Elite in Katalonien dagegen verspricht sich von der Unabhängigkeit größere finanzielle Mittel für Investitionen in die eigene Infrastruktur und für sozialpolitische Maßnahmen. Das ist die Grundlage des Unabhängigkeitsversprechens.
Die herrschende katalanische Klasse, die die Unabhängigkeitsbewegung anführt, weist kaum Unterschiede zu der in Madrid auf
Jedoch versinken beide Länder und beide Eliten, die jetzt miteinander konkurrieren, in der gleichen Korruptionswelle, sie betreiben die gleiche Vetternwirtschaft, setzen die gleiche Spar- und Privatisierungspolitik durch und sind gleichermaßen für prekäre Beschäftigungsverhältnisse verantwortlich. Die herrschende katalanische Klasse, die die Unabhängigkeitsbewegung anführt, weist kaum Unterschiede zu der in Madrid auf, weder was die Repression angeht – für die es zahllose Beispiele aus den letzten Jahrzehnten gibt: Zwangsräumungen, Räumungen besetzter Häuser, Polizeigewalt und Strafverfolgung bei Generalstreiks, Arbeitskämpfen, Platzbesetzungen etc. – noch in ihrem konservativen Charakter und manipulativen Umgang mit der sozialen Frage.
Offensichtlich wurde diese Haltung bei der Vereinnahmung des Generalstreiks vom 3. Oktober 2017. Nicht nur wurde sein sozialer Gehalt durch die Forderung nach Freilassung der politischen Gefangenen ersetzt – gemeint waren die inhaftierten Anführerinnen der Unabhängigkeitsbewegung –, der Gedanke des Generalstreiks wurde durch die Losung des »Stillstands des Landes« (Paro Nacional) grundsätzlich ad absurdum geführt und in eine harmlose zivilgesellschaftliche Aktion verwandelt.
Kennzeichnend für die gesamte Entwicklung ist ein Paradoxon: Obwohl die Proletarisierung der katalanischen Mittelschichten die tiefere Ursache der gesellschaftlichen Mobilisierung ist, fehlt die Klassenperspektive oder ist dem nationalen Konflikt untergeordnet. Junge Menschen, die Opfer der grassierenden Prekarität sind, wollen die eigene Proletarisierung nicht anerkennen und kämpfen stattdessen für die Unabhängigkeit, von der sie sich – nicht anders als ihre Eltern – Chancen auf sozialen Aufstieg versprechen.
Die Sackgasse, in der die Unabhängigkeitsbewegung sich jetzt befindet, ist nicht nur der Inkompetenz und Abenteuerlust ihrer Führungsfiguren geschuldet
Auf der anderen Seite führt die Kampagne der spanischen nationalistischen Parteien die Gefahr der Unabhängigkeit Kataloniens für Renten, Beschäftigung, Bildung etc. an, um Teile der nicht-katalanischen arbeitenden Bevölkerung für den spanischen Nationalismus zu begeistern. Beginnend mit den beiden pro-spanischen Demonstrationen am 5. und 12. Oktober, die zeigen sollten, dass die Straßen nicht den Unabhängigkeitsbefürwortern gehören, haben spanische Nationalisten versucht, die arbeitende Bevölkerung für sich zu gewinnen, die sich bisher vom nationalistischen Konflikt mehrheitlich fernhielt.
Die sozialen Ursachen der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung sind unbestreitbar – ihr Aufstieg ging mit der Vertiefung der Wirtschaftskrise einher –, doch sie folgt auch einem emotionalen Impuls, der sich aus dem legitimen Wunsch nach Selbstbestimmung des Landes nährt. Dieser Impuls ist aber zu einer Fiktion geworden, zu einem riesigen Hirngespinst, das die Institutionen der Regionalregierung medial-spektakulär nach Kräften am Leben halten. Der »konstituierende Prozess« der Katalanischen Republik hat eine grundlegende emotionale Komponente, er ist in der Lage, Massen zu mobilisieren. Andererseits sind die Grenzen seiner praktischen Umsetzung in der gegenwärtigen sozialen und politischen Realität deutlich geworden. Die Sackgasse, in der die Unabhängigkeitsbewegung sich jetzt befindet, ist nicht nur der Inkompetenz und Abenteuerlust ihrer Führungsfiguren geschuldet. Sie offenbart vor allem, dass das Projekt der Schaffung eines Nationalstaates in einer historischen Situation hinfällig wird, die durch den transnationalen Staat gekennzeichnet ist – durch eine territoriale Verwaltung, die den Erfordernissen der transnationalen Kapitalakkumulation unterworfen ist.
Jenseits der radikalen Rhetorik, die die Minderheitenströmung um die CUP verbreitet, hat die Bewegung für eine katalanische Republik keinerlei antikapitalistische Ausrichtung
Jenseits der radikalen Rhetorik, die die Minderheitenströmung um die CUP verbreitet, hat die Bewegung für eine katalanische Republik keinerlei antikapitalistische Ausrichtung. Auch aus diesem Grund wird der Konflikt zwischen spanischer und katalanischer Regierung vom Großteil der Arbeiterinnenklasse, die weitgehend aus Zugewanderten besteht, weiterhin mit Gleichgültigkeit betrachtet. Nach den Wahlen vom 21. Dezember besteht die Pattsituation zwischen spanischen und katalanischen Nationalisten weiter; der Konflikt wird auf politischer und rechtlicher Ebene anhalten, ohne dass sich eine Lösung abzeichnet. Dazu trägt auch die eindeutige Unterstützung des spanischen Staates seitens der europäischen Länder bei.
Wir befinden uns in einer Situation des politischen Stillstands, geprägt von einem instabilen Gleichgewicht. Nur wenn die unvermeidliche Verschärfung der Krise die soziale Frage auf die Tagesordnung setzt, kann sich diese Situation ändern – weg von der Problematik der nationalen Selbstbestimmung und hin zu der Frage, wie sich die Klasse eigenmächtig als Akteur konstituieren kann. Nur so können wir der Sackgasse der nationalen Frage entkommen, die der Tradition des Nationalstaates, einem Produkt der aufsteigenden Phase des Kapitalismus, verhaftet bleibt; einer Tradition, mit der es unter den gegenwärtigen Bedingungen einer allgemeinen Krise des Kapitals kaum möglich sein wird, soziale Emanzipation im historisch überlieferten Sinne von Klassenautonomie wenigstens zu versuchen.
Corsino Vela
1 Nachdem am Morgen tausende Demonstranten das Regionalparlament umzingelt hatten, drohte Präsident Más, die »Befreiung« der Parlamentarier anzuordnen. Das hätte zu einem erneuten brutalen Einsatz der katalanischen Polizei Mossos d´Esquadra geführt, wie einen Monat zuvor auf der Plaça de Catalunya. Einige Organisationen und Sprecher, die zunächst zu der Blockade aufgerufen hatten, riefen nun dazu auf, die Aktion abzubrechen und sich auf einem anderen Platz in der Nähe des Parlaments zu versammeln. Daraufhin kam es zu heftigen verbalen Auseinandersetzungen unter den Demonstranten; letztlich aber hielt die Blockade bis zum Ende der Parlamentssitzung am frühen Abend an – so wie es in der Asamblea, die zu der Aktion aufgerufen hatte, auch beschlossen worden war.
2 Plataforma de Afectados por la Hipoteca – Plattform von Betroffenen, die durch die Krise bedingt ihre Hypotheken nicht mehr bedienen können und somit von der Zwangsversteigerung ihrer Eigentumswohnungen bedroht sind.
3 Dass das Baskenland und Katalonien beim Finanzausgleich unterschiedlich behandelt werden, erklärt sich aus ihrem jeweiligen Anteil am BIP Spaniens: Madrid war gegenüber dem Baskenland entgegenkommender, weil es ohnehin nur 5 Prozent beiträgt, bei Katalonien geht es dagegen um 20 Prozent. Außerdem wurde die baskische Quote in einem von der ETA geprägten Kontext beschlossen.