Krise, Standort, gewerkschaftlicher Sachverstand
Die Krise, die sich nicht erst seit 2008 in die Weltökonomie und Staatshaushalte frisst, hat auch dank eines 60 Milliarden schweren Rettungspakets und der Geldpolitik der Schweizer Nationalbank (SNB) bisher zum Grossteil einen Bogen um die Schweiz gemacht. Das wird sich nun ändern; zumindest wenn man den Warnungen der Mahnerinnen aus Politik und Wirtschaft und den Prognosen der Wahrsager der hiesigen Ökonomie Glauben schenken darf. Unisono erklärten sie: Nach der Aufkündigung der Euro-Untergrenze durch die SNB würde den Export- und den Tourismussektor eine schlechte Zukunft erwarten. Das ist keine Kleinigkeit: Schweizer Unternehmen exportierten 2014 Waren im Wert von 208 Milliarden Franken – 32,2 Prozent des Bruttoinlandproduktes – und im Tourismussektor wurden 34,9 Milliarden Franken an Einnahmen erzielt. Die Ökonomen der Konjunkturforschungsstelle der ETH (KOF) rechnen deshalb für das Jahr 2015 mit einem um 0,5 Prozent schrumpfenden Bruttoinlandprodukt. Klingt nicht so dramatisch, könnte man meinen. Aber der Kapitalismus braucht Wachstum. Nur so kann er existieren. Machen Unternehmen längerfristig keinen Profit, den sie wieder investieren können, müssen sie ihre Tore schliessen. Zwar ist so eine Konjunkturdelle kein Untergang, aber falls es zu einer längeren Phase der Stagnation kommen sollte, bedeutet das zwangsläufig Firmenkonkurse, Entlassungen und Steuerverluste.
Wie sich die Schweizer Wirtschaft in den kommenden Monaten und Jahren entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Im Gegensatz zu den momentan etwas gestresst wirkenden Wirtschaftsweisen sind wir nicht gezwungen, Prognosen abzugeben. Fest steht allerdings, dass vor dem Hintergrund des aktuellen Bedrohungsszenarios viele der tatsächlich oder vermeintlich betroffenen Unternehmen bereits Massnahmen in die Wege geleitet haben: Verlängerung der Arbeitszeit, Kürzung der Löhne, Entlassungen und Kurzarbeit. Die «Frankenschock»-Karte des Tagesanzeigers zeigte bereits am 26. März über 50 Unternehmen, die entsprechende Massnahmen eingeleitet hatten. Der «Frankenschock» wird überall herangezogen, um Angriffe auf das Lebensniveau der Proletarisierten zu legitimieren. Mittlerweile hat sich ein bürgerlicher Block formiert. CVP, FDP und SVP wollen im Interesse der schwächelnden Wirtschaft am selben Strick ziehen. Ihr Massnahmenkatalog liest sich wie aus dem Lehrbuch neoliberaler Krisenlösungsstrategien: Einsparungen im öffentlichen Bereich, weitere Freihandelsabkommen, weniger Kontrollen der Unternehmer, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes… In den nächsten Monaten und Jahren kommt noch was auf uns zu.
Und was machen die Gewerkschaften? Erstmal macht die UNIA wie üblich auf Beratung des nationalen Standorts aus keynesianischer Warte. Man fordert die SNB auf, ihre nationale Pflicht zu erfüllen und den Schweizer Franken wieder zu verteidigen; das heisst ihn schwach zu halten. Ausserdem spricht man sich gegen eine Kürzung der Löhne aus, weil dies die Nachfrage untergraben und damit die Konjunktur unterlaufen würde. Offensichtlich haben die Ökonomen der UNIA den Schuss nicht gehört. Ihre Wirtschaftsprogrammatik mag eine Seite des Problems des Kapitals treffen, nämlich die Nachfrageproblematik. Momentan geht es aber gerade um das andere Moment: Die Profitrate der Unternehmen. Das ist das Kerngeschäft der Neoliberalen. Weil die Waren der Exportindustrie durch den hohen Frankenkurs verteuert wurden, müssten die Exportfirmen ihre Preise senken, was auf die Marge beziehungsweise die Profite drückt. Das kann nun jeder Drittklässler vorrechnen: Wenn die Löhne und Lohnnebenkosten gesenkt werden, dann steigen die Profite und die Marge geht wieder in Ordnung. Das ist nun mal die unerbittliche Logik des Kapitalismus und zugleich der ewige Kampf zwischen den Proletarisierten und dem Kapital. Was der eine sich einverleiben kann, das fehlt dem anderen.
Auf ihrer Internetseite zur Frankenstärke spricht sich die UNIA also aus vermeintlich nationalökonomischem Sachverstand gegen Arbeitszeiterhöhungen und Lohnkürzungen aus. Unter der Rubrik «Wir zahlen nicht für die Spekulanten» kombiniert man gekonnt Feindbildpflege mit der Sorge um die eigene Klientel: Die Arbeiterinnen sollen nicht «die Zeche bezahlen», die jene «Spekulanten» der Schweiz eingebrockt hätten. Wo sich die Arbeiterinnen – wie etwa mancherorts im Tessin – kämpferisch zeigen, da ziehen die Gewerkschaften mit, drängen aber naturgemäss auf Sistierung der Massnahmen mittels Verhandlungen. Doch die Politik der UNIA sah auch anders aus: Mit der Stadler Rail von SVP-Politiker Spuhler hat man kürzlich einen «Krisendeal» geschlossen, der Entlassungen zwar ausschliesst, aber die Arbeitszeit auf 45 Stunden erhöht. Im Gesamtarbeitsvertrag (GAV) der MEM-Industrie ist die Jahresarbeitszeit so festgelegt, dass im Schnitt eine 40-Stunden-Woche daraus resultiert. Die Erhöhung der Arbeitszeit ist aber kein Bruch des GAV. Man konnte dazu auf den sogenannten «Krisenartikel» zurückgreifen, der es erlaubt, dass in einem Betrieb mehr gearbeitet wird, wenn Verlust nachgewiesen werden kann oder welcher droht. Der «Frankenschock» kommt den Kapitalisten argumentativ sehr gelegen, ist doch die Abschaffung der 40-Stunden-Woche schon länger ihr Steckenpferd in den GAV-Verhandlungen. Die Aufhebung des Mindestkurses wirkte wie eine Schocktherapie: Ohne nennenswerten Widerstand der Gewerkschaften konnten sie in einer beständig wachsenden Anzahl von Betrieben die 45-Stunden-Woche durch Anwendung des «Krisenartikels» faktisch einführen. Auch wenn diese Erhöhung nach 15 Monaten wieder zurückgenommen wird, so wurde die 40-Stunden-Woche weiter aufgeweicht. Und man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass nach Ablauf dieser Zeit, der Erfolg dieses Programms von Seiten der Unternehmer als Argument dafür herangezogen werden wird, die 40 Stunden-Woche auch künftig unter Beschuss zu nehmen.
Die UNIA muss sich gegenüber den Unternehmen als vernünftige Verhandlungspartnerin präsentieren und darum einigen Sachverstand walten lassen, der eben auch einschliesst, dass man kampflos Verschlechterungen hinnimmt, um Schlimmeres zu verhindern. Corrado Pardini sprach kürzlich sogar von einem «neuen Pakt zwischen Arbeitgebern und Arbeitern.» Das heisst, eine 45-Stunden-Woche wird akzeptiert, um Entlassungen zu vermeiden und gleichzeitig wird den Kapitalisten garantiert, dass die Arbeiterinnen das Verhandlungsresultat widerstandslos schlucken. Das ist kein Verrat an den Arbeitern, das ist schlicht die Rolle, die eine UNIA heute zu spielen hat. Wenn die Konjunktur schwächelt, dann muss sie zur Stabilisierung der Wirtschaft – von der ihre Existenz ebenso wie die Einnahmequelle ihrer Mitglieder abhängt – eben auch so manche Kröte schlucken, die allerdings Corrado Pardini weit einfacher wird verdauen können als die betroffenen Arbeiterinnen. Diese Kröte zu schlucken ist aber nur folgerichtig, wenn man sich auf den Standpunkt der Kapitallogik stellt und solange der Bruch mit diesem Irrsinn, der immer mehr Verzicht von uns fordert, nicht als Klassenkampf organisiert wird.
Der genaue Verlauf der gewerkschaftlichen Logik ist nicht nur dem politischen Kurs der Führung geschuldet und auch nicht ausschliesslich auf ihre sozialpartnerschaftliche Rolle zurückzuführen; wenn auch diese die Logik selbst bestimmt. Der konkrete Verlauf – ob etwa gekämpft wird oder nicht – hängt auch damit zusammen, ob die Arbeiterinnen Gegenwehr zeigen und die UNIA so auch kämpferische «Ressourcen» vorfindet, um bessere Bedingungen für die Verschlechterungen, die in der Logik des nationalen Standorts liegen, auszuhandeln. Den Gewerkschaften einfach die Schuld an der reinen Abwieglerei zuzuschieben wäre angesichts der realen Schwäche der Proletarisierten in der Schweiz zu kurz gegriffen. Eine Kritik an den Gewerkschaften muss darum auch die Ressourcen ihrer Verhandlungsmacht – kämpferische Arbeiterinnen – mitdenken. Und da sieht es in der Schweiz momentan recht düster aus. Es scheint als wenn eingeschliffene Konformität, nationale Identifikation, staatliche Integration und die Angst vor einem noch schlechteren Los erstmal fast allen Kampfeswillen unterlaufen und im Gegenteil sich ein repressives und feindliches Klima verfestigt. Das hat auch seinen rationalen Kern in der Abhängigkeit vom Kapital, vom Abschneiden der Nation in der internationalen Konkurrenz, der sozialstaatlichen Alimentierung und der Gefahr des sozialen Abstiegs in der Krise.
Wer sich auf den Boden dieser Gesellschaft stellt, der relativiert immer die direkten eigenen Interessen an den gesellschaftlichen Kräften von denen er abhängig ist; die ihm aber immer wieder auch allerhand und zunehmend mehr abverlangen. Die kleine Streikwelle im Tessin hat zumindest die Erkenntnis geliefert, dass sich Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen durch entschlossenes Handeln verhindern lassen, wenn man auf die mit der Frankenstärke begründeten Zwänge pfeift. Auch wenn die Unia die Bewegung schnell wieder an den Verhandlungstisch brachte, so erhält die Sozialpartnerschaft in solchen Momenten Risse. Und genau dort gilt es anzusetzen, denn offensichtlich müssen wir selber handeln, wenn wir eine bessere Zukunft wollen.
Für die staaten- und klassenlose Gesellschaft