Die Losung, man müsse die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen, schien ein paar Jahre lang gute Aussichten zu besitzen, zur Leitmaxime einer neuen Linken zu werden; einer Linken, die aus bitteren Erfahrungen offenbar gelernt hatte, dass Emanzipation nicht von den Kommandohebeln des Staates aus zu bewerkstelligen ist und die nationalen Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt meist eher aufstrebende nationale Eliten von imperialer Bevormundung befreit haben als die "Verdammten dieser Erde" von Elend und Unterdrückung. Doch der kurze Sommer der Staatskritik scheint schon wieder vorüber; umtriebige Ex-Autonome schätzen sich glücklich, dem venezolanischen Präsidenten Chávez die Hand zu schütteln, so wie es überhaupt die imposante Riege neuer Linksregierungen in Lateinamerika ist, an der sich der ramponierte linke Etatismus wieder aufrichtet. Und so bekennt man heute freimütig: "John Holloway, der davon spricht, die Welt zu verändern, ohne die Macht zu übernehmen, scheint in Venezuela gründlich widerlegt. Erst die Übernahme des Staatsapparates und die Verfügung über die Öleinnahmen hat dort nämlich die Ausbreitung der Basisnetzwerke ermöglicht und Perspektiven jenseits der politischen und sozialen Marginalität eröffnet." (Raul Zelik)
Klassenanalyse ist gewiss keine Stärke des Textes.
Diesem Mythos vom Staat als Freund und Helfer der Basisautonomie, mit dem sich bereits die erste Ausgabe von Kosmoprolet befasste, wollen wir keineswegs einen Mythos der reinen Revolte entgegenhalten, wenn wir im Folgenden eine Analyse des Aufstands veröffentlichen, der 2006 im südmexikanischen Oaxaca ausbrach. Jede Beschwörung einer reinen Revolte würde sich daran vorbeimogeln, dass der linke Etatismus noch nie etwas war, das sich allein in den luftigen Höhen des Staates abgespielt hätte, und es in Bolivien wie in Ecuador, in Argentinien wie in Venezuela gerade Massenaufstände und Basisbewegungen waren, die die Linke an die Macht gespült und dergestalt den Staat erneuert haben. Barrikaden schien uns vielmehr einer erneuten Veröffentlichung wert, weil die Autoren gerade die miteinander ringenden Tendenzen innerhalb der Rebellion auszuleuchten bemüht sind - halbprofessioneller Politiker einerseits, die auf den plattgewalzten Barrikaden neue Partei- und Wahlprojekte begründen wollen, und antiautoritärer Linker andererseits, die, teils unter Rückgriff auf den in Oaxaca geborenen Anarchokommunisten Flores Magón (1873-1922), die Selbstorganisation und radikale Ablehnung des Staates aufrechtzuerhalten versuchen, die Oaxaca für einige Monate in ein Experimentierfeld der menschlichen Beziehungen verwandelten.
Klassenanalyse ist gewiss keine Stärke des Textes. Zu Recht sprechen sich die Autoren gegen einen verknöcherten Linkskommunismus aus, der aus bestimmten geschichtlichen Konstellationen scheinbar zeitlose Maßstäbe destilliert, um die Kämpfe der Gegenwart an ihnen zu messen und dann verächtlich beiseite zu wischen. Tatsächlich kündet die Rebellion in Oaxaca so wenig wie die Revolte, die im Herbst 2005 die französischen Banlieues erschütterte, von der Wiederkehr einer Arbeiterklasse, die wie ehedem ihre Macht und Einheit am Ort der Produktion gewinnt und gegen die Herrschaft des Kapitals zu richten vermag. Doch das kann kein Grund sein, es wie in Barrikadenbei der Floskel zu belassen, dass "die Klassenfrage […] in einer Zeit, in der so viele feste soziale Kategorien aufgelöst und neu zusammengesetzt werden, ohnehin neu gestellt werden" müsse, und darüber zu witzeln, dass "das viel gepriesene ,moderne Proletariat', das den Situationisten und anderen so am Herzen gelegen ist, seine Verabredung mit der Geschichte noch vor sich hat." Vielmehr wäre dem Paradoxon nachzugehen, dass das moderne Proletariat sich vielerorts - nämlich abseits der voll entwickelten Zentren des Weltkapitalismus - gerade durch das Weiterbestehen vormoderner Züge auszeichnet, oder anders gesagt: dass hier der Proletarisierung, anders als in den kapitalistischen Zentren, nicht als zweiter Schritt die Vergesellschaftung der Proletarisierten als Arbeiterklasse folgt.
Beim Gros der Aufständischen hingegen handelt es sich um Leute, die nur zeitweilig Lohnarbeit verrichten, der unterbeschäftigten Elendsbevölkerung angehören und oftmals noch Bindungen an das Land haben
In einer Analyse der zapatistischen Bewegung in Chiapas schreibt die britische Gruppe Aufheben über die Klassenlage der dortigen Indigenen, was auch für große Teile der Landbevölkerung im benachbarten Oaxaca gilt: "Die Erfahrungen mit Lohnarbeit, die die Indigenen gemacht haben, umfassen unter anderem: Arbeit auf Farmen, Saisonarbeit auf einer Finca […], voll integrierte Lohnarbeit beim Bau von Staudämmen oder auf den Ölfeldern im Nordosten. Alle diese Arbeiten sind saisonal oder nur zeitweilig - wenn sie vorbei sind, muss der campesino in sein Dorf zurück und notdürftig von der Bearbeitung des Bodens leben. […] Insgesamt wurden die indigenen Frauen nie in das System der Lohnarbeit integriert, wenngleich sie mit der Warenökonomie in Berührung gekommen sein mögen, während die Männer nur teilweise und temporär integriert wurden. Sie stellen ein Segment der Bevölkerung dar, welches das Kapital nicht vollständig proletarisiert hat, weil es ihre Arbeitskraft nicht braucht." 1 Die Lehrerinnen und Lehrer Oaxacas, deren Streik für höhere Löhne und eine bessere Essensversorgung der Schulkinder im Frühjahr 2006 schließlich zum Massenaufstand eskalieren sollte, scheinen noch am ehesten dem Begriff der Arbeiterklasse zu entsprechen: Sie leben vom Verkauf ihrer Arbeitskraft und erfahren als "Produzenten" eine gewisse Vergesellschaftung, die sich direkt in Kämpfe ummünzen lässt. Beim Gros der Aufständischen hingegen handelt es sich um Leute, die nur zeitweilig Lohnarbeit verrichten, der unterbeschäftigten Elendsbevölkerung angehören und oftmals noch Bindungen an das Land haben - für den Reformismus der Gewerkschaften so wenig ein Nährboden wie für den Radikalismus der Arbeiterräte. Die teils vollständig, teils nur partiell Proletarisierten in Oaxaca und anderswo sind weder im Geiste der Randgruppentheorie zu romantisieren und der vermeintlich "integrierten" oder gar "privilegierten" Arbeiterklasse entgegenzustellen, noch können sie umgekehrt als ohnmächtige "Lumpen" abgetan werden. Die radikal demokratische Form der Versammlung, die sich die Aufständischen von Oaxaca mit der Asamblea Popular de los Pueblos de Oaxaca (APPO) gegeben haben, hat es ermöglicht, die verschiedenen Segmente der Revolte zusammenzufassen und den Aufstand und die Selbstorganisation auf immer weitere Aspekte des alltäglichen Überlebens und größere Bereiche des Territoriums auszudehnen. Im Namen der Versammlung selbst, als Versammlung "der Völker Oaxacas", spiegelt sich die gesellschaftliche Realität in dem mexikanischen Bundesstaat. Die Homogenisierung der Bevölkerung durch Staat und Warenproduktion ist noch so wenig vorangeschritten, dass nicht einmal ein vereinheitlichtes pueblo, das Staatsvolk als bürgerlicher Souverän, von dem alle Macht ausginge und das aus dieser Souveränität den lokalen Tyrannen stürzen will, als Subjekt der Versammlung gilt - vielmehr sollen es die Völker im Plural sein, was die Anerkennung der Zersplittertheit der Produktion in den indigenen Gemeinschaften und zugleich ihrer Traditionen in sich birgt. Was aber soll das "Volk" der Lehrer mit ihrer kampfstarken, jedoch von stalinistischen Leadern durchsetzten Gewerkschaft, das "Volk" der proletarisierten städtischen Jugendlichen, das "Volk" der gegen die drückenden Verhältnisse rebellierenden Frauen sein? Sollen die urbanen, also modernen Komponenten der aufständischen Bewegung als "Völker" begriffen werden? Und das, wo doch gerade die Stadt das Zentrum und der Ausgangspunkt der Rebellion war?
Die Stärke von Barrikaden liegt insbesondere darin, den Mythos der guten Indigena-Gemeinschaft zu zerpflücken.
Was viele - nicht nur im Süden Mexikos - vor dem Schicksal einer vollständigen Proletarisierung bewahrt, ist die fortdauernde Bindung ans Land. Die Hoffnung aber, auf dem Land ein nicht-entfremdetes Gemeinwesen, eine Art ursprünglichen Kommunismus der Indigenen zu entdecken, ist vollständigunbegründet. Bereits der erwähnte Magón, der die Losung Land und Freiheit in die mexikanische Revolution trug, spekulierte zwar auf die revolutionäre Sprengkraft bestimmter indigener Traditionen gemeinschaftlichen Lebens, aber der Kommunismus galt ihm als etwas erst noch Herzustellendes und nicht als etwas, das bereits - oder noch - auf dem Land existieren würde. Dem kargen Landleben, das metropolitane Linke aus der Ferne oft zur Idylle verklären, hielt er einen luxuriösen Kommunismus entgegen - "Alle verfügen über Heiß- und Kaltwasserhähne, elektrisches Licht, Bäder, Toiletten, bequeme Möbel, Vorhänge, Klavier und gut gefüllte Speisekammern […] Keiner arbeitet mehr für Lohn. Alle sind Besitzer von allem." - und dem ebenfalls von metropolitanen Linken verkitschten Kleinbauerntum erteilte er eine radikale Absage: "Da das Streben jeden menschlichen Wesens darauf ausgerichtet ist, so viele Befriedigungen wie möglich mit dem kleinsten Aufwand zu erlangen, wäre die am besten geeignete Maßnahme, um dieses Ziel zu erreichen, die gemeinsame Arbeit auf den Feldern und in den Fabriken. Wenn das Land aufgeteilt wird, und jede Familie ein Stück erhält, laufen wir die große Gefahr, wieder in das kapitalistische System zu verfallen […] Außer dieser großen Gefahr ist es eine Tatsache, dass eine Familie, die ein Stück Land bearbeitet, dann genau so viel oder sogar mehr als heute unter dem System des Privateigentums arbeitet, um das gleiche jämmerliche Ergebnis wie heute zu erhalten. Doch wenn das Land zusammengefasst wird und die Bauern es gemeinsam bestellen, werden sie weniger arbeiten und mehr produzieren."2 Die Stärke von Barrikaden liegt insbesondere darin, den Mythos der guten Indigena-Gemeinschaft zu zerpflücken. In der Revolte selbst wurde dieser Mythos praktisch kritisiert: von den zigtausend Frauen vor allem, die gegen ihre untergeordnete Rolle in der traditionellen Dorfgemeinschaft rebelliert haben und dies auch ausdrücklich so verstanden wissen wollten. Bedauerlich ist hingegen, dass die Autoren sich offenbar gegen den populären Vorwurf des "Eurozentrismus" abzusichern suchen, indem sie unter der Hand selbst den Universalismus aufweichen und postmoderner Identitätspolitik Vorschub leisten. Wenn sie etwa "eine gewisse Unfähigkeit des außenstehenden Betrachters [anerkennen], die Wirklichkeit der indigenen Gesellschaften zu begreifen, die Welt auf dieselbe Weise zu sehen, wie jemand, der sie mit autochthonen Augen sieht", dann ist dies zugleich banal und leichtfertig: Jeder sieht die Welt auf eine Weise, die bestimmten kulturellen Prägungen entspringt, doch der Wahrheitsanspruch der kritischen Vernunft gründet sich gerade auf ihre Fähigkeit, ihre eigenen Voraussetzungen zu reflektieren und über derartige Partikularitäten hinauszugehen. Vollkommen treffend heißt es, dass "die Forderung nach indigener ,Autonomie' eher der Ruf nach einer Art radikalen Autarkie zu sein [scheint] als nach einer irgendwie gearteten allgemeinen revolutionären Transformation der Gesellschaft." Doch die Autoren geraten selbst gefährlich nahe an die Beschwörung einer solchen Autarkie, wenn sie schreiben: "Wer sonst als die Indigenen kann für eingeborene Kulturen eintreten, statt bloß in ihrem Namen zu sprechen?" - als würde es darum gehen, für irgendwelche "Kulturen" zu sprechen. So schwankt der Text unentschieden zwischen einer postmodernen Absage an den Universalismus und einer kritischen Auseinandersetzung mit den Geschehnissen, die ohne diesen Universalismus ein Ding der Unmöglichkeit wäre.
Die Rebellion von Oaxaca konnte in ihrer Isolation unterdrückt werden.
Die gesellschaftliche Entwicklung jedenfalls stellt die als statisch vorgestellte "einheimische Kultur" in Frage, weil auch in Oaxaca immer mehr cash cropsfür den Weltmarkt produziert werden: Marihuana beispielsweise. Keine mythisierte indigene Gemeinschaft wird diese neue Form der Produktion unbeschadet überstehen. Und die Schockwellen des Drogenkrieges, der Mexiko nach der Revolte von Oaxaca erfasst hat und sich - mit Tausenden von Toten - zwischen den verschiedenen Rackets der Drogenindustrie und des Staats abspielt, treffen auch auf die vermeintlich stabilen "traditionellen Bauernstrukturen" und krempeln sie um.
Die Rebellion von Oaxaca konnte in ihrer Isolation unterdrückt werden. Wie der folgende Text beschreibt, haben die inneren Auseinandersetzungen um selbsternannteLeader zu ihrer Niederlage beigetragen. Die Kräfte der Tradition und ihrer Mythisierung haben ebenfalls dazu beigetragen, weil sie wie ein Alp auf den Gehirnen der Revoltierenden lasten.
- 1. A Commune in Chiapas?, in: Aufheben Nr. 9, Herbst 2000, vgl. http://libcom.org/library/commune-chiapas-zapatista-mexico
- 2. Manifest vom 23. September 1911, zit. nach Ricardo Flores Magón, Tierra y Libertad, Münster 2005, S. 105 f.
Dieser Artikel bezieht sich auf: