1. Nachdem die Möglichkeit einer anderen Welt lange Jahre fast nur noch in Botschaften aus dem lakandonischen Urwald oder von Leuten behauptet wurde, die darunter kaum mehr verstehen als die Einführung einer Finanzmarktsteuer, hat sich das Bild angesichts der schweren Weltmarktgewitter seit 2008 verändert. Entwürfe einer postkapitalistischen Gesellschaft entstehen seither zuhauf und schaffen es mit etwas Glück sogar auf die Bestsellerlisten. Auch Radikale denken wieder vermehrt darüber nach, wie es anders sein könnte. Allerdings gilt für alle derzeit diskutierten Alternativen, dass sie eher am Schreibtisch ausgebrütet als auf der Straße erfunden wurden. Von den Kämpfen der vergangenen Jahre – sei es der arabische Frühling, die Occupy-Bewegung oder das Aufbegehren gegen das neue Massenelend in Südeuropa – sind sie vor allem negativ geprägt. Weniger deshalb, weil diese Kämpfe auf ganzer Linie gescheitert sind. Weitgehend außerhalb der Produktion angesiedelt und auf die Realisierung »echter Demokratie« gepolt, haben sie die Frage nach einer anderen Gesellschaft nicht wirklich aufgeworfen.
Während etwa die Massenstreikdebatte in der II. Internationale und die Rätetheorie zwar kein bloßes Abbild realer Kämpfe, aber doch auf solche bezogen waren – »Der Sowjet war keine Entdeckung der Theorie« (Guy Debord) –, scheint heute alles Nachdenken über eine neue Gesellschaft sich in Utopismus zu erschöpfen, also genau in dem, was die mit Marx beginnende kritische Theorie immer abgelehnt hat, bis hin zum vielzitierten Bilderverbot der Frankfurter Spätmarxisten. Utopien galten ihr als Kopfgeburten und Anmaßung, sollte es doch Sache der sich befreienden Menschen sein, die neuen Formen ihres Zusammenlebens zu bestimmen. Gegen ausgepinselte Entwürfe, die dem Bestehenden abstrakt entgegengehalten wurden, machte sie zu Recht eine aus bestimmten Widersprüchen hervorgehende Entwicklung geltend: Nur die Proletarier selbst könnten sich im Zuge langwieriger Klassenkämpfe zum Aufbau einer neuen Gesellschaft befähigen. Kommunismus sollte kein Ideal, sondern die wirkliche Bewegung sein.
Für alle derzeit diskutierten Alternativen gilt, dass sie eher am Schreibtisch ausgebrütet als auf der Straße erfunden wurden.
Der »wissenschaftliche Sozialismus« – der dem utopischen im Übrigen durchaus »geniale Gedankenkeime und Gedanken, die unter der phantastischen Hülle hervorbrechen«, zugestand (Engels) – nahm allerdings selbst ideologische Züge an, wo ihm der Sieg durch historische Gesetze verbürgt schien. Und dieser spätestens 1914 blamierte Geschichtsoptimismus liegt bis heute Theorien zugrunde, die unbeeindruckt von allen Katastrophen der Vergangenheit und Gegenwart entweder auf eine automatische Entfaltung der Kämpfe hoffen, durch die sich alles Weitere schon von selbst finden würde, oder die Produktivkraftentfaltung selbst zum Motor einer Geschichte erklären, die am Ende schon irgendwie gut ausgehen wird. Während die Anhänger des revolutionären Spontaneismus auf das Wachstum der Weltarbeiterklasse vertrauen, feiert das Phantasma einer von sich aus zur Befreiung treibenden Technikentwicklung heute seine Wiederauferstehung in digitalem Gewand.
Stellt man sich die Revolution dagegen nicht als das blaue Wunder vor, als etwas, das die Proletarier im Eifer des Gefechts beinahe aus Versehen machen, spontan und ohne jedes vorab gefasste Ziel, und delegiert man die menschliche Emanzipation erst recht nicht an die Maschinen, dann scheint eine Verständigung über die Grundzüge der klassenlosen Gesellschaft allemal sinnvoll. Dagegen bestehen diverse Einwände: Es gilt als verfrüht (»die Kämpfe sind noch nicht an dem Punkt«), als überflüssig (»die Leute werden es dann schon regeln«), anmaßend (»man darf das nicht vorgeben«) oder schlicht unmöglich (»man kann das gar nicht antizipieren«). Aber noch nie hat eine kontinuierliche Bewegung entschlossen gegen das Bestehende aufbegehrt, ohne wenigstens eine vage Ahnung davon zu haben, was an seine Stelle treten könnte. Die rein negative Kritik des Bestehenden, die manche Linksradikale beschwören, kann es gar nicht geben. Aus der Kritik des Privateigentums an den Produktionsmitteln etwa folgt zwingend das Ziel der »gemeinschaftlichen Produktion mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln« (Das Kapital). Gerade weil man sich darunter alles Mögliche vorstellen kann – auch Zustände, die mit Freiheit und Glück wenig zu tun haben – sollten Sozialrevolutionäre angeben, was sie wollen. Nicht, um mit Erlösungsformeln hausieren zu gehen, sondern als Beitrag zum notwendigen Streit darum, wie man die alte Welt hinter sich lassen kann. Dabei wäre die Commune nicht als das Ende aller Menschheitsprobleme zu entwerfen, sondern im Gegenteil der Tatsache Rechnung zu tragen, dass all das, was heute durch blinde Vermittlung, Herrschaft und Gewalt »gelöst« wird, der Menschheit überhaupt erst nach der vollzogenen Umwälzung der Produktionsverhältnisse als zu lösendes Problem erscheinen würde. In diesem Sinne verwahrte sich Walter Benjamin zurecht gegen den Vorwurf, den Kommunismus als »Menschheitslösung« zu verabsolutieren, und beschrieb ihn nüchtern als die Möglichkeit, durch »praktikable Erkenntnisse (...) die unfruchtbare Prätension auf Menschheitslösungen abzustellen und den Versuch zumindest zu unternehmen, den Lebenstag der Menschheit ebenso locker aufzubauen, wie ein gutausgeschlafener, vernünftiger Mensch seinen Tag antritt.«
2. Viele aktuelle Entwürfe einer nachkapitalistischen Gesellschaft frieren die soziale Phantasie auf dem Niveau des Jahres 1875 ein, als zwar schon ein paar Eisenbahnen durch die Welt tuckerten und die Arbeiterbewegung in Europa eine gewisse Stärke erreicht hatte, die Produktivkräfte aus heutiger Sicht aber noch zwergenhaft waren und im Gros der Welt die moderne Klasse der Lohnabhängigen praktisch nicht existierte; selbst Europa war weitgehend von Bauern bevölkert, Analphabetismus verbreitet. Dass Marx damals in seiner Kritik des Gothaer Programms den Kommunismus in zwei Phasen unterteilte, in deren erster die geleisteten Arbeitsstunden den Anteil des Einzelnen am gesellschaftlichen Reichtum bestimmen sollten, während das Prinzip »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen« ebenso wie das Ende des Staates der zweiten, von viel weiter entwickelten Produktivkräften gekennzeichneten, vorbehalten blieb, mag man angesichts dessen für nachvollziehbar halten oder auch nicht; dass eine »erste Phase« auch heute noch notwendig und erstrebenswert sein soll, wäre angesichts der gewaltigen Veränderungen seit 1875 jedoch zu überprüfen. Am Prinzip der Verteilung nach Arbeitsstunden halten nicht nur die Waisen des Sowjetmarxismus hartnäckig fest, sondern auch viele antiautoritäre Linke. Und selbst in betont modernen Szenarien, in denen Räte schick als Hubs firmieren, wird jeder Kommunardin selbstverständlich ein »Arbeitszeitkonto« verpasst.
Als bloße Fortsetzung der Lohnarbeit mit anderen Mitteln lässt sich das Modell nicht abtun: Das Privateigentum an Produktionsmitteln soll gesellschaftlicher Planung weichen, die Arbeitskraft keine Ware mehr sein, deren Verkauf zufällig und unter Bedingungen der Konkurrenz stattfindet. Auch soll strikte Gleichheit herrschen: Jede Arbeitsstunde zählt gleich viel, die der Hirnchirurgin nicht mehr als die des Maurers. Mit den »Muttermalen der alten Gesellschaft« ist die erste Phase des Kommunismus allerdings insofern behaftet, als die Verteilung dem Prinzip des Äquivalententauschs folgt: Jeder Arbeiter »erhält von der Gesellschaft einen Schein, dass er soundso viel Arbeit geliefert (nach Abzug seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds), und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln soviel heraus, als gleich viel Arbeit kostet.« (Marx) Der Äquivalententausch, im Kapitalismus letztlich eine Farce, wird sozialistisch wahrgemacht. Zwar bekommt nicht jeder genau das, was er beigetragen hat – ein Teil des Gesamtprodukts muss in neue Produktionsmittel, allgemeine gesellschaftliche Aufgaben und die Versorgung von Alten, Kindern und Kranken fließen –, aber die Ausbeutung hat ein Ende. Auf diesem Stand verharren heute auch die ausgetüfteltsten Modelle für einen »Sozialismus aus dem Rechner«.
Prinzipiell ließe sich einwenden, dass dort, wo Äquivalententausch herrscht, von Kommunismus keine Rede sein kann. Peter Kropotkin wies die Vorstellung, dass »alles, was der Produktion dient, Gemeineigentum werde, dass aber trotzdem individuell mit Arbeitsgutscheinen entlohnt werde«, schon 1896 als »Kompromiss zwischen Kommunismus und individueller Lohnzahlung« zurück. Marx hat das Unvollkommene dieses Zustands nicht bestritten, den er aber für zunächst »unvermeidbar« hielt, und immerhin für eine unbestimmte Zukunft eine dem engen Horizont des Tauschs entflohene Gesellschaft anvisiert. Ist das Festhalten an einem solchen Zweiphasenmodell heute, wo die »Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums« nach einer Revolution ungleich voller fließen würden, wo immer weniger Kleinbauern und immer mehr Arbeitslose mit Universitätsdiplom das Bild bestimmen, nicht anachronistisch? Das wäre die grundsätzliche Frage.
Den Gedanken einer noch auf bürgerlichen Prinzipien fußenden Übergangsgesellschaft abzulehnen, heißt jedoch nicht, von einer Commune zu träumen, die über Nacht wie aus dem Ei gepellt dasteht.
Immerhin scheinen die Szenarien eines Zwischenstadiums einen gewissen Realismus auf ihrer Seite zu haben. Anstatt eine vollendete gesellschaftliche Harmonie ab dem ersten Tag der Umwälzung zu unterstellen, gehen sie von den Menschen aus, wie sie heute eben sind, also im Zweifelsfall egoistisch: Sie nehmen zu viel und geben zu wenig. Der scheinbare Realismus des Modells fällt jedoch in sich zusammen, sobald man es zu Ende denkt. Natürlich bedarf die planvolle Produktion in der Commune grober Vorstellungen darüber, wieviel Arbeitsaufwand etwas erfordert: Um zum Beispiel einen Wohnblock zu errichten, braucht es eine bestimmte Zahl von Leuten, die eine bestimmte Zahl von Monaten daran arbeitet. Die Koppelung von individueller Konsumtion an geleistete Arbeitsstunden unterstellt aber darüber hinaus die Möglichkeit, exakt zu beziffern, wieviel Arbeitszeit in jedem einzelnen Produkt steckt. Auch bei penibelster Buchführung, die ihrerseits einen aberwitzigen Aufwand erfordern würde, ließe sich bereits bei einem vergleichsweise schlichten Produkt wie der Schrippe nur sehr schwer die darin vergegenständlichte Arbeitszeit ausrechnen, denn dazu müsste man nicht nur wissen, wie viele Stunden Arbeit der Backofen gekostet hat – der seinerseits eine lange Kette an Vorprodukten erfordert –, sondern auch, wie viele Jahre er in Gebrauch sein wird und wie viele Schrippen ihn in diesem Zeitraum verlassen werden. Je mehr zudem allgemeine Voraussetzungen wie etwa Transportmittel in ein Produkt einfließen, umso schwieriger wird das Unterfangen. Spätestens mit Einbezug der zunehmenden Verwissenschaftlichung der Produktion scheint es schlicht aussichtslos zu werden: Mit wie vielen Sekunden schlägt die Programmierung von Software zu Buche, die gleich an mehreren Stellen der Produktionskette zum Einsatz gekommen ist, welchen Stellenwert muss man dem in die Gesamtheit der Produktionsprozesse eingegangenen gesellschaftlichen Wissen zubilligen? Was bei der kleinbürgerlichen Idee der Tauschringe noch aufgehen mag – A mäht B eine Stunde lang den Rasen, B wäscht A eine Stunde lang den Polo –, stellt sich auf dem Niveau einer arbeitsteilig-hochtechnisierten gesellschaftlichen Produktion als Ding der Unmöglichkeit heraus; jeder entsprechende Versuch müsste ein engmaschiges Netz der Zeiterfassung und -kalkulation über die Gesellschaft legen und würde dennoch scheitern. Ein solcher Kommunismus wäre nie mehr als eine schlechte Imitation des kapitalistischen Marktes, auf dem sich das Gesetz der Arbeitszeit blind und regellos durchsetzt.
Das Modell setzt außerdem eine scharfe Trennung zwischen Arbeit und Nichtarbeit voraus, die nicht nur wenig attraktiv erscheint, sondern wiederum eine administrative Regelung dessen erfordern würde, was sich heute blind durchsetzt: Als Arbeit gilt, was entlohnt wird, und entlohnt wird, was Profit verspricht oder vom Staat als notwendig betrachtet wird. In ihrer »ersten Phase« müsste die Commune zwecks korrekter Zeiterfassung alles gesellschaftliche Tun also feinsäuberlich zwei Bereichen zuordnen, was allerhand Willkür mit sich bringen würde. Bierbrauen und Biertrinken lassen sich noch recht einfach als Arbeit und Vergnügen voneinander unterscheiden, schon bei geistigen Tätigkeiten würde es schwierig und spätestens im traditionell Frauen zugewiesenen Reproduktionsbereich, der ja nicht von ungefähr endlose Debatten über den Arbeitsbegriff ausgelöst hat, käme man in Teufels Küche. Bekäme jeder, der eine Stunde auf ein Kind aufpasst, dies auf seinem »Arbeitszeitkonto« gutgeschrieben, oder nur derjenige, der regelmäßig eine größere Schar von Blagen beaufsichtigt? Und wie erstrebenswert ist es überhaupt, das Leben in solche Kategorien zu zergliedern? Der von der bürgerlichen Gesellschaft geerbte Sozialcharakter, der dabei unterstellt wird, müsste zudem zu allerhand Schummeleien bei der Arbeitszeitrechnung neigen, was die Notwendigkeit sozialer Kontrolle zur Folge hätte, auch wenn die Verfechter solcher Szenarien dies ungern betonen; ein Apparat, der die Leistung aller Einzelnen überwacht, wäre unverzichtbar. Auch wenn »Arbeitszeitkonten« nicht dasselbe sind wie das Lohnsystem, stünde im Hintergrund weiter der Zwang. Und dieser Zwang steht dem erklärten Ziel einer Bewusstseinsveränderung entgegen, von der zwar nicht unbedingt im Moment der Revolution auszugehen wäre, an der sich jedoch von vornherein alle sozialrevolutionäre Tätigkeit auszurichten hätte.
Während die vermeintlich realistischen Entwürfe einer »ersten Phase« des Sozialismus sich in dem Widerspruch bewegen, einerseits zur freien Assoziation drängende Menschen vorauszusetzen, die andererseits vom alten Krämergeist beseelt sind und alle anderen zu übervorteilen suchen, hätte die soziale Revolution, wenn sie die Chance auf ein freies Gemeinwesen nicht erneut verspielen will, von Beginn an von ihren eigenen neuen Prinzipien ausgehen: von der Freiwilligkeit der Arbeit und deren weitestmöglicher Umwandlung in travail attractif, von der allgemeinen Kostenlosigkeit und der Rücknahme des Staates in die Gesellschaft. Die Idee einer »ersten Phase« des Kommunismus zählt von daher nicht zu Marx‘ bleibenden Gedanken, sondern war buchstäblich aus der Not geboren. Den Gedanken einer noch auf bürgerlichen Prinzipien fußenden Übergangsgesellschaft abzulehnen, heißt jedoch nicht, von einer Commune zu träumen, die über Nacht wie aus dem Ei gepellt dasteht. Selbstverständlich wäre die Umwälzung ein langwieriger Prozess, gekennzeichnet durch viele Widrigkeiten und Rückschläge. Anstatt ein durch die Autorität von Marx verbürgtes Modell aus dem vorletzten Jahrhundert weiterzuspinnen, sollten Sozialrevolutionäre aber besser die heutigen Ausgangsbedingungen einer Umwälzung vermessen, nicht zuletzt die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte.
3. Traditionell geht die Kritik der bestehenden Verhältnisse in kommunistischer Absicht davon aus, dass die zu Maschinerie verdinglichten technischen Produktivkräfte, die der Kapitalismus auf den Plan hat treten lassen, durch eine Umwälzung der Produktionsverhältnisse lediglich aus der Klammer des Privateigentums gelöst werden müssten, um so endlich in den Dienst einer selbstbewussten Menschheit treten zu können. Allerdings hatten Marx und Engels bereits in den 1840er Jahren bemerkt, dass innerhalb der kapitalgetriebenen Produktivkraftentwicklung eine Stufe eintritt, »auf welcher Produktionskräfte und Verkehrsmittel hervorgerufen werden, welche unter den bestehenden Verhältnissen nur Unheil anrichten, welche keine Produktionskräfte mehr sind, sondern Destruktionskräfte« (Die deutsche Ideologie). So wie Herbert Marcuse notierte, dass bestimmte »Zwecke und Interessen der Herrschaft (…) nicht erst ›nachträglich‹ und von außen der Technik oktroyiert« werden, sondern »schon in die Konstruktion des technischen Apparats selbst« eingehen, kritisierte auch der Operaist Raniereo Panzieri die existierende Technologie im Rückgriff auf Marx als Mittel zur Unterwerfung der lebendigen Arbeit unter das Kommando des Kapitals. Der Zweck der Mehrwertproduktion ist der Maschinerie nicht äußerlich, sondern durchformt sie und den gesamten Arbeitsprozess.
An diese Gedanken gilt es anzuschließen: Auf der einen Seite begründet erst die »automatische Fabrik (…) potentiell die Herrschaft der assoziierten Produzenten über den Arbeitsprozess«, stellt also die Bedingung der Möglichkeit für eine befreite Gesellschaft ohne Mangel dar. Auf der anderen Seite erscheint die Maschinerie im modernen Fabriksystem selbst als »Subjekt, und die Arbeiter sind nur als bewußte Organe seinen bewußtlosen Organen beigeordnet und mit denselben der zentralen Bewegungskraft untergeordnet« (Panzieri). Die kapitalistische Anwendung der Maschinerie erscheint so nicht als bloße Verzerrung oder Abweichung von einer »objektiven«, in sich rationalen Entwicklung, sondern sie bestimmt Gang und Richtung des technischen Fortschritts. Das gilt für Zeiten, in denen die Schornsteine noch qualmen und die Maschinerie Muskelkraft ersetzt, genauso wie für das Zeitalter der Bits und Mikrochips, in dem nun Programmcode die geistigen Potenzen der Arbeiter ersetzen soll. Unter den bestehenden Bedingungen fungieren digitale Technologie und analoge Maschinerie gleichermaßen als Mittel im Klassenkampf von oben: Ihr Zweck ist nicht die Verbesserung der Lebensumstände, sondern die möglichst effiziente Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft. Konkret bestimmen sie den Arbeitstakt und die Betriebsorganisation, sie sorgen für die Herstellung von Konformität der Beschäftigten, dienen der Zerstörung des zwischenmenschlichen Kontakts. Indem sie das tayloristische Programm eines extrem zerlegten Arbeitsablaufs in allen Bereichen der Produktion durchsetzt, trägt Technisierung in erheblichem Maß zur Entwertung der Ware Arbeitskraft und folglich zur Schwächung der Arbeitermacht bei. Neben dieser Schwächung auf dem Arbeitsmarkt beschert sie den betroffenen Lohnabhängigen heute eine Vollendung der »Despotie der Fabrik«, wie Marx sie beschrieb, da sie noch stärker zum reinen Anhängsel der – nunmehr »intelligenten« und vernetzten – Maschinerie degradiert werden. Angetrieben durch prozess-optimierende Software erleben sie vor allem Leere, Stress, Überarbeitung und werden auch noch des kleinsten Freiraums und mitunter jeglichen Produktionswissens beraubt.
Wo computeraffine Linke »Keimformen« einer neuen Produktionsweise entdecken, die sich bereits heute in der Industrie 4.0 beobachten lassen, vollzieht sich also vor allem ein Triumph des Kapitals über die Arbeit. Die Idee, dass neue, digitale »Handlungsmöglichkeiten die Verfügung der Arbeitenden über die Bedingungen ihrer Tätigkeiten« erweitern (Stefan Meretz), muss in den Ohren jeder Amazon-Arbeiterin folglich wie ein böser Scherz klingen. Diesen Umstand, wie auch die Tatsache, dass beim gegenwärtigen Stand der Destruktivkraftentwicklung im Grunde eine Handvoll entschlossener Kapitalisten genügen würde, um den Status quo zu erhalten, auch wenn die Welt dabei zugrunde ginge, registrieren insbesondere jene Strömungen der aktuellen Kritik, die die gesamte Entwicklung als einen technologischen Angriff der Eliten auf soziale Bewegungen und angeblich aufsässige Unterschichten deuten. Mag eine Schwäche derartiger Theoriebildung auch darin bestehen, dass sie nicht systematisch den kapitalistischen Gang der Dinge für die aktuellen Formen der technischen Entwicklung verantwortlich macht, sondern eine abzählbare Gruppe von Mächtigen, deren souveräne Handlungsfähigkeit überschätzt wird, auch wenn es sie und ihre Strategien zweifellos gibt, so deutet sie eine Funktion (digitaler) Technologie heute doch treffend. Die Konsequenz ist allerdings ein vorwiegend defensives, auf Sabotage und Zerstörung zielendes Programm, in dem die Potenziale neuer Technologien für eine kommunistische Gesellschaft kaum berücksichtigt werden.
Wo computeraffine Linke »Keimformen« einer neuen Produktionsweise entdecken, die sich bereits heute in der Industrie 4.0 beobachten lassen, vollzieht sich also vor allem ein Triumph des Kapitals über die Arbeit.
Dass eine revolutionäre Umwälzung der bestehenden Verhältnisse hier und da auch organisierte Maschinenstürmerei bedeuten würde, ergibt sich notwendig aus der Tatsache, dass nicht alle aktuell verfügbare Technik einem vernünftigen Zweck zugeführt werden kann, allerdings sind es eben erst und nur die im Kapitalismus entwickelten Produktivkräfte, die eine bewusst gestaltete Produktionsweise überhaupt denkbar machen. Zweifellos beinhaltet der Reichtum der gegenwärtigen Gesellschaft vieles, für das eine befreite keine Verwendung mehr hätte, und bestimmte Formen der Arbeitsorganisation, Energiegewinnung und Nahrungsmittelproduktion müssten ebenso abgeschafft werden, wie Technologien, die einzig der Überwachung, Kontrolle und Gängelung menschlicher Arbeitskraft und Bewegungsfreiheit dienen. Zu unterscheiden wäre allerdings zwischen technischen Elementen der gegenwärtigen Maschinerie und der Zusammensetzung, in der sie dem Zweck der Mehrwertproduktion gemäß erscheinen. Die Maschinerie, wie sie heute dasteht, ist mehr als die Summe ihrer Einzelteile. Zahnräder, Rollen und Bänder machen noch kein Fließband aus. Denn auch wenn der wissenschaftliche Fortschritt und die technischen Erfindungen der Moderne durchweg den Zwecken der Profitmaximierung untergeordnet sind, stehen für die Befreiung andere Formen von Wissen, Technik und Maschinerie zunächst nicht oder jedenfalls nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung. Es erscheint von daher ideologisch, zu behaupten, mit dem Maschinenpark und der Wissenschaft, wie sie der Kapitalismus hinterlässt, wäre nach der Revolution nichts, aber auch gar nichts mehr anzufangen.
Die Crux besteht also darin, dass die Folgen der Produktivkraftentwicklung für die Lohnarbeitenden heute und ihr möglicher Nutzen für die Commune auseinandertreten. Das gilt auch und gerade für die aktuellen Entwicklungen, die bei allem Misstrauen gegenüber dem aufgeblasenen Manager-Sprech von »Disruption« und »Industrie 4.0« tatsächlich als tiefgreifender Umbruch zu werten sind. Sowenig sich nämlich Rad und Riemen naturwüchsig zum industriellen Fließband formen, sowenig dient der im Mikrochip integrierte Schaltkreis per se der Überwachung Lohnabhängiger. Ein Headset, eine Kamera und ein Programmcode in Java sind als Einzeltechniken noch keine Überwachungssoftware in der Logistik, und nicht umsonst haben sich sozialistische Hoffnungen an die aufkommende Digitalisierung geknüpft. In der – oft fetischisierten – Figur des Hackers beispielsweise verkörpern sich qualitativ neue Möglichkeiten der Sabotage, wilden Einflussnahme und Zweckentfremdung von Herrschaftstechnologien. Bestimmte Waren (Betriebssysteme, Software, Musik, Texte und so weiter) lassen sich unter digitalen Bedingungen ohne größeren Aufwand und verlustfrei vervielfältigen, wodurch sie tendenziell die Warenform sprengen. Dadurch sind neue, nicht proprietäre Formen der Distribution und Zusammenarbeit denkbar geworden. Und auch das Internet nährte seiner vorwiegend militärischen Herkunft zum Trotz schon früh Ideen von einem Cybersozialismus, der Bedürfnisse weltweit und in Echtzeit zu erheben in der Lage wäre und die Produktion entsprechend gestalten könnte.
Unter dem Label internet of things, das nicht mehr bedeutet, als dass unterschiedliche Geräte (things) mit dem Internet verbunden sind und nach vorgegebenen Kriterien reagieren können, weitet sich dieses Potenzial zunehmend auf die Sphäre der handgreiflichen Produkte aus. Dabei geht es nicht allein um »intelligente« Kühlschränke oder kybernetische Wohneinheiten, die – in den Debatten oft überbetonte – Konsumentenseite also, sondern den durch vernetzte Maschinen eingeleiteten Umbruch in Produktion, Wartung und Transport. Hier werden immense Einsparpotenziale durch automatisch überwachte und bedarfsgerechte Wartungszyklen freigesetzt. Das Prinzip der Just-in-Time-Produktion kann wesentlich effizienter umgesetzt werden, als das Lagerarbeiter leisten könnten – ganz einfach deshalb, weil die Lager unter Umgehung der menschlichen Vermittlung direkt mit den Zulieferbetrieben kommunizieren können. Lagerroboter nehmen das Bestellte in Empfang, sortieren es ein und registrieren den Eingang auch direkt. Einmal in Betrieb genommen, ersetzen solche vollautomatischen Rückkopplungsschleifen eine beträchtliche Anzahl von Arbeitern, denn sie müssen ja nur noch gewartet werden. Was sich unter den bestehenden Bedingungen, wo potenzielle Muße und freie Zeit sich als Arbeitslosigkeit manifestieren, tatsächlich als technologischer Angriff auf die Arbeitermacht darstellt, ist also auch der Vorschein einer Welt, die körperliche Arbeit in nie gesehenem Ausmaß überflüssig macht. Digitalisierung von Arbeits- und Distributionsprozessen ist deshalb ein im Grunde zu begrüßender Schritt in Richtung einer tatsächlichen Aufhebung der Arbeit und einer funktionierenden Planwirtschaft. Auch wenn sie einzig der intensiveren Ausbeutung von menschlicher Arbeitskraft dient, wäre es Technikfetischismus, wenn man den technischen Fortschritt selbst für die Unbill der momentanen Situation verantwortlich machen würde: Man sieht »in der Technik« jene Kräfte am Werk, die sozialen Ursprungs sind.
Wie jede neu verwirklichte Produktivkraft weist auch die »digitale Revolution« in bestimmten Momenten über das Bestehende hinaus und gerät in Konflikt mit den gegebenen Produktions- und Eigentumsverhältnissen. Das Kapital hat darauf mit »Innovationen« reagiert, die das Potenzial einer nach wie vor stetig steigenden Rechnerleistung im Grunde beschneiden. Was die Entwicklung von Software betrifft, ist ein nicht unbeträchtlicher Teil der Forschung seit Jahren schon damit beschäftigt, die Warenform doch wieder in der Sphäre des Digitalen durchzusetzen. Und handelsübliche Computer sind längst nicht mehr »Universalmaschinen«, sondern werden durch Interfaces und Programme in ihren Möglichkeiten begrenzt, um endlich nur noch als Endbahnhöfe eines digitalisierten Kapitalismus zu fungieren. Begründet wird dies mit der »Benutzerfreundlichkeit« des Computers; wer heute einen Computer außerhalb der Forschung, Entwicklung und Produktion benutzt, soll nicht mehr verstehen, was in dem Gerät vor sich geht, sondern abhängig von digitalen Dienstleistungen sein. Die Entwicklung des Computers – und das ist charakteristisch für die Produktivkraftentwicklung innerhalb des Kapitalismus – zeichnet sich so insgesamt dadurch aus, dass sie gesamtgesellschaftlich keine den Produktivkräften angemessenen Fertigkeiten im Umgang mit ihnen ausgebildet, sondern eine umfassende Benutzbarkeit bei weitgehendem digitalen Analphabetismus ermöglicht hat. Technologischer Fortschritt ist hier zu sozialem Rückschritt geworden, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass der kulturpessimistische Verdacht, immer schlauere Telefone brächten immer dümmere Menschen mit sich, wohl nicht ganz von der Hand zu weisen ist.
Eine aufhebende Bewegung hätte darauf weder durch eine – nunmehr sozialistisch verfasste – Massenproduktion von Computern und smarten Objekten, wie sie heute sind, zu reagieren, noch mit einer blindwütigen Zerstörung der Technologien, sondern müsste auf die Verwirklichung ihrer Potenziale hinarbeiten. Das bedeutet einerseits, das notwendige Wissen im Umgang mit der verfügbaren Technologie gesellschaftlich zu verteilen und andererseits jene Elemente der Maschinerie zu identifizieren und unschädlich zu machen, die einzig dem Zweck der Mehrwertproduktion dienen. Es geht also nicht allein darum, den Eigentumstitel aufzuheben, sondern darum, die gesellschaftliche Kontrolle über die Technik (zurück) zu gewinnen, was eben auch eine tiefgreifende, an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtete Transformation der existierenden Maschinerie bedeuten würde.
4. Mangel ist heute keine Folge zu geringer Mittel der Reichtumsproduktion mehr, sondern geht einzig auf das Konto der bestehenden Eigentumsordnung. Der Gedanke einer sozialistischen Leistungsmessung erscheint vor diesem Hintergrund umso fragwürdiger. Selbstverständlich kann es trotz der immensen Produktivität, die sich die Commune aneignen wird, immer wieder zu Engpässen kommen. Diese lassen sich allerdings durch keinerlei »Arbeitszeitkonto« beseitigen. Ein derartiges Kontrollsystem würde vielmehr unnötig Energien binden und die notwendige Bewusstseinsveränderung hin zum »Verein freier Menschen« und zum »gesellschaftlichen Individuum« behindern. Von dieser Bewusstseinsveränderung allerdings dürfte der Erfolg der kommunistischen Revolution letztlich abhängen. Denn zu den Produktivkräften, die ihr Potenzial erst in einer befreiten Gesellschaft voll entfalten könnten, gehören auch die Menschen selbst. Anzuknüpfen wäre hier an den alten von Fourier bis Marcuse vertretenen Gedanken, nach dem »Leidenschaft« in einer befreiten Gesellschaft zwanglos produktiv werden könne.
Nicht die möglichst gerechte Verteilung von Arbeits- und Freizeit sollte deshalb das Ziel sein, sondern die menschenwürdige Aufhebung dieser Trennung bei größtmöglicher Automatisierung der Produktion.
Laut diverser soziologischer Studien steht heute an erster Stelle der Bedürfnisse von Beschäftigten in den wirtschaftlich und technisch entwickelten Regionen der Welt, dass ihre Arbeit interessant, sinnvoll und verantwortungsvoll sein soll. Dass der Kapitalismus dieses Bedürfnis nicht zu stillen vermag, hat zuletzt David Graeber am Phänomen der Bullshit Jobs gezeigt – Jobs, die so hirnrissig sind, dass ihre Ausübung jeden halbwegs zurechnungsfähigen Menschen nicht mit Befriedigung oder sogar Stolz, sondern mit Scham erfüllt. In der Commune würden sie entfallen. Anderes würde automatisiert. Was bleibt, wäre soweit wie möglich in travail attractif zu verwandeln; in Arbeit, die nicht unter dem Kommando eines Chefs, sondern in freier Kooperation mit anderen stattfindet, die nicht nur auf maximalen Output zielt, sondern »die Sinne, Fähigkeiten und Reflexionsvermögen« (Meinhard Creydt) der Produzierenden bildet. Durch Rotation und entsprechend kurze Ausübung schließlich könnten selbst dröge Tätigkeiten annehmbar werden.
Natürlich kann Stahlproduktion nicht umstandslos zu Spiel werden, aber auch dort herrscht dank Automatisierungsschüben schon heute bei schrumpfenden Belegschaften weltweite Überproduktion. »Leidenschaft« würde sich aber weniger in der notwendigen Überwachung weitgehend automatisierter Prozesse als produktiv erweisen, sondern vor allem dort, wo es um die Lösung kniffligerer Probleme geht. Statt ein Kontrollregime zu errichten, auf dass sich niemand vor der Arbeit drücken kann, müssten sich die Kommunarden deshalb einer egalitären, alle gesellschaftlichen Bereiche umfassenden Organisation und Vermittlung von praktischem und theoretischen Wissen, Bildung, Fertigkeiten etc. widmen. Schon heute sind qualifizierte Arbeitskräfte wesentlich produktiver als unqualifizierte, weshalb der Kommunismus weniger als jemals ein Kommunismus der Fabrikarbeiter sein kann. Vielmehr wären die Fähigkeiten aller soweit auszubilden, dass ihnen bei Interesse auch Bereiche wie Maschinenbau, Medizin, Verkehrsmittelbedienung oder Informatik offen stehen. Die möglichst rasche Auflösung der Trennung von Hand- und Kopfarbeit hätte deshalb von vornherein richtungsweisend für die sozialrevolutionäre Bewegung zu sein, wobei der auffällig hohe Anteil von Handarbeit im Hobbybereich – Bastelboom, Urban Gardening, Modellbau, Oldtimerschrauben und der ganze Käse – auf eine durchaus produktive »Leidenschaft« verweist, sich auch mit den Händen zu betätigen. Nicht die möglichst gerechte Verteilung von Arbeits- und Freizeit sollte deshalb das Ziel sein, sondern die menschenwürdige Aufhebung dieser Trennung bei größtmöglicher Automatisierung der Produktion.
5. Trotz ungekannter Möglichkeiten, stupide Jobs zu beseitigen, wird sich der alte Menschheitstraum von einer technischen Abschaffung der Arbeit allerdings auch im sogenannten digitalen Zeitalter nicht erfüllen. Skeptikerinnen verweisen meistens auf den Bereich der Pflege und Sorge, um die Grenzen der Automatisierung aufzuzeigen, aber ein vom heutigen Arbeitsaufwand her mindestens genauso gewichtiges Beispiel dafür ist die Landwirtschaft, in der die Commune zunächst etliche um einen hohen Preis erkaufte Produktivitätsfortschritte rückgängig machen müsste. Das verweist exemplarisch auf die unangenehme Tatsache, dass die Commune heute vom Kapitalismus nicht nur scifi-verdächtige Produktivkräfte, sondern auch einen Berg ungelöster Probleme erben würde. Die Kommunarden von 1871 kannten zwar noch nicht den Computer, dafür aber auch nicht die Sorge, dass der Planet unwiederbringlich zuschanden gehen könnte. An der Gesellschaftskritik im 20. Jahrhunderts lässt sich verfolgen, wie neben den Produktionsverhältnissen an sich immer stärker ins Visier rückt, was in ihnen mit welchen Folgen hergestellt wird. Vermutlich waren die Situationisten in den 1950er Jahren die ersten Revolutionäre, die der Zerstörung der Städte durch den Automobilverkehr Bedeutung beigemessen haben und für deren Programmatik die Abschaffung der »parasitären Sektoren« eine große Rolle spielte.
Die Kommunarden von 1871 kannten zwar noch nicht den Computer, dafür aber auch nicht die Sorge, dass der Planet unwiederbringlich zuschanden gehen könnte.
Für die Commune scheint die lange und länger werdende Liste sinnloser oder sogar schädlicher Tätigkeiten, die den metropolitanen Alltag unserer Tage bestimmt, zunächst ein Geschenk zu sein, übersetzt sie sich für sie doch unmittelbar in einen riesigen Zeitfonds; ganze Branchen könnten stillgelegt werden, für die Erledigung der weder automatisierbaren noch irgendwie ansprechend zu gestaltenden Aufgaben stünden viel mehr Leute bereit. Aber die Irrationalität des Kapitalismus hat im Laufe seines Fortbestehens praktisch den gesamten Stoffwechsel mit der Natur imprägniert und sich handfest im Raum materialisiert. Mehr als bloße Beispiele dafür sind das vollkommen ungelöste Energieproblem und »die Zersplitterung der Städte auf das Land« (Guy Debord), der berüchtigte urban sprawl also, dessen trostlose Nichtorte durch unvermeidlichen Autoverkehr und kleinteilige Bebauung das erstere massiv verschärfen. Die Kommunarden müssten nicht nur eine neue Energieversorgung erfinden, sondern wären vermutlich lange Zeit mit dem Rückbau solcher Nichtorte und der Sanierung von Slums im globalen Süden, mit der Umgestaltung der Landwirtschaft und der Renaturierung zerstörter Gegenden beschäftigt, ohne dabei auf nennenswerte Hilfe von Robotern zählen zu können. Das spricht nicht gegen das Ausschöpfen von Möglichkeiten der Automatisierung an anderer Stelle – die besonders in ärmeren Weltgegenden bestehen, wo billige Arbeitskraft sie bislang unattraktiv macht –, denn dadurch werden Kräfte für solche Aufräumarbeiten frei. Es dämpft aber Erwartungen, mit den neuen Technologien sei der Menschheit ein wahres Füllhorn in den Schoß gefallen, nur weil sich digitale Güter unendlich vervielfältigen lassen und der Fön neuerdings via Internet mit dem Toaster kommunizieren kann.
6. Der Reichtum der Commune dürfte angesichts dessen kaum der sein, den wir kennen, nur in anderen Verhältnissen produziert. Schon gar nicht geht es darum, dass die Metropolenbewohner noch mehr von dem bekommen, was sie heute schon haben: mehr Flugreisen, Pkws, Mobiltelefone und hässliche, schnell zerschlissene T-Shirts. Nicht, weil die entsprechenden Bedürfnisse als »künstlich« denunziert und vermeintlich natürlichen gegenübergestellt werden könnten. Wie besonders die Frankfurter Spätmarxisten gezeigt haben, lauert in einer solchen Unterscheidung autoritäre Willkür, weil sich Natur, als Trieb, und Gesellschaft in jedem Bedürfnis unauflösbar verschlingen. Als Produkte der bestehenden Klassengesellschaft sind Bedürfnisse allerdings auch nicht unschuldig und in die klassenlose zu projizieren. Adorno antwortete auf dieses Dilemma einerseits mit dem dialektischen Clou, eine Umstellung der Produktion auf die Befriedigung »auch und gerade der vom Kapitalismus produzierten« Bedürfnisse werde »die Bedürfnisse selbst entscheidend verändern« – es werde sich dann »rasch genug zeigen«, dass die Massen den ihnen heute angedrehten »Schund« nicht brauchen –, und andererseits mit dem Gedanken der Gleichheit und Solidarität: »Die Frage nach der Sofortbefriedigung des Bedürfnisses ist nicht unter den Aspekten gesellschaftlich und natürlich, primär und sekundär, richtig und falsch zu stellen, sie fällt zusammen mit der Frage nach dem Leiden der gewaltigen Mehrheit aller Menschen auf der Erde. Wird produziert, was alle Menschen jetzt, hier am dringendsten brauchen, so ist man allzu großer sozialpsychologischer Sorgen wegen der Legitimität ihrer Bedürfnisse enthoben.«
Ohne sich auf die Frage nach »richtigen« und »falschen« Bedürfnissen einzulassen und fernab von Genussfeindschaft im grünen Gewand müsste eine sozialrevolutionäre Bewegung in den Metropolen einen anderen Reichtum anvisieren als den heutigen.
Da zum Ausmaß unbefriedigter dringendster Bedürfnisse besonders auf der südlichen Halbkugel heute die Grenzen der Belastbarkeit der Natur hinzukommen, müsste eine Weltcommune vieles global umschichten. Nicht damit es hinterher überall gleich aussieht; im Gegenteil gäbe es sicher Regionen, die nach heutigen Maßstäben »zurückgeblieben«, also weniger technisch-industriell entwickelt wären. Um aber den in Armutsregionen herrschenden Mangel an praktisch allem – Wohnraum, Krankenhäuser, selbst Kanalisation – beseitigen zu können, ohne dass die Aussicht auf eine Genesung des Planeten endgültig schwindet, müsste in den alten Metropolen der Energie- und Ressourcenverbrauch drastisch sinken. Trotz einer gewissen Tendenz zur weltweiten Angleichung der proletarischen Existenzbedingungen steht selbst eine Hartz-IV-Empfängerin materiell besser da als jede Textilarbeiterin in Asien und verursacht der durchschnittliche Westeuropäer zigmal so viel Kohlenstoffdioxidausstoß wie ein Bewohner des afrikanischen Kontinents.
Ohne sich auf die Frage nach »richtigen« und »falschen« Bedürfnissen einzulassen und fernab von Genussfeindschaft im grünen Gewand müsste eine sozialrevolutionäre Bewegung in den Metropolen einen anderen Reichtum anvisieren als den heutigen. Während dieser als eine »ungeheure Warensammlung« erscheint, weniger ein gesellschaftlicher ist als die Addition individuellen, sehr ungleich verteilten Besitzes, müsste die Commune nicht nur in der Produktion, sondern auch in der Sphäre von Nutzung und Verbrauch auf maximale Vergesellschaftung setzen. Das »Recht auf Einsamkeit« (Marcuse) und auf Rückzug ins Private wäre für sie entgegen jedem Gemeinschaftskult unantastbar, aber anders als in der auf Massenabsatz und letztlich Verschleiß geeichten Profitwirtschaft wäre dieses Private nicht mehr primär der Raum, der einen beständig wachsenden Warenstrom verschlingen muss, damit die Maschine weiterläuft. Wo es Kantinen und Waschsalons gibt, die über ihre schnöde Funktion hinaus Orte einer zwanglosen Begegnung sein könnten, muss nicht mehr jede Wohnung mit Spül- und Waschmaschine ausgestattet sein. Schon durch wenige Sofortmaßnahmen könnte die Commune im Handstreich Probleme lösen, an denen sich die Technokraten heute die Zähne ausbeißen und weiter ausbeißen werden. Anstatt zum Beispiel die gemeingefährliche Idee der »E-Mobilität« weiterzuverfolgen – Elektroautos erfordern genauso viel Arbeit, Ressourcen, Straßen und Platz in den Städten wie solche mit Benzinmotor, den entfallenden Abgasen steht eine hochgiftige Batterieproduktion gegenüber –, würde sie einfach ein paar Tramschienen verlegen (wo die Blechkolonnen verschwunden sind, muss man auch nicht mehr mit irrwitzigem Aufwand Tunnel in die Erde graben). Auch den Flugverkehr könnte man, um den Planeten buchstäblich wieder zu Atem kommen zu lassen, drastisch einschränken, weil es keine gehetzten Manager und Touristen mehr gibt.
Auch die im Weltmaßstab besser gestellten Teile des Proletariats hätten durch eine Umwälzung viel zu gewinnen. Zu aktualisieren wäre der in der historischen Commune von 1871 aufgeblitzte Gedanke eines luxe communal, der damals vor allem darauf zielte, die Trennung von profaner materieller Produktion und Kunst in einem neuen Städtebau aufzuheben. Er müsste weit darüber hinaus ein Leitmotiv des neuen Gemeinwesens sein. Luxus für alle existiert heute allenfalls in Gestalt öffentlicher Bibliotheken, die der Staat betreiben muss, weil sie nicht »rentabel« sind. Je mehr die Commune ihren gemeinschaftlichen Reichtum entfaltet, umso hinfälliger wird auch die Frage nach der Bemessung des individuellen Konsums, der im selben Maß an Bedeutung verliert.
7. Aus der Irrationalität der jetzigen Ordnung einerseits, den durch sie eröffneten Möglichkeiten andererseits ergeben sich so erste Konturen eines freien Gemeinwesens: Umbau des Maschinenparks nach den Bedürfnissen der Produzentinnen; Abschaffung sinnloser, Automatisierung ermüdender und ansprechende Gestaltung immer noch notwendiger Tätigkeiten, wenn gar nichts anderes hilft: Rotation notwendiger, aber weiterhin unangenehmer Aufgaben; Ende der Lohnarbeit und jeder Kopplung von Konsum an Leistung; Entfaltung eines wirklich gesellschaftlichen Reichtums. Über die gesellschaftlichen Formen, in denen das machbar wäre, ist damit noch wenig gesagt.
Daran hängt aber alles: Egal wie handgreiflich der destruktiv-irrationale Charakter der heutigen Produktionsweise geworden ist und was auch immer an Potenzialen in der neueren Technik schlummern mag, solange das Zusammenleben von mehreren Milliarden Menschen nicht anders vorstellbar scheint als in den gegebenen Formen, wird sich nichts ändern. Genau wie ein linker Realismus, der Momente der schlechten Realität fortschreibt, ist ein Scheinradikalismus zurückzuweisen, der sich in der Feier von isolierten Revolten ergeht, maximale Zerstörung predigt und zur Frage nach einer anderen Gesellschaft nur Phrasen über die totale Freiheit des Einzelnen auf Lager hat. Es geht um eine andere gesellschaftliche Vermittlung, eine, in der sich das Ganze nicht gegen die Einzelnen wendet, sondern deren bewusstes Werk ist. Dass der doch immerhin aus der Oktoberrevolution geborene Realsozialismus das Marxsche Programm einer »Zurücknahme des Staates in die Gesellschaft« ins schaurige Gegenteil verkehrte, indem er eine Staatsmacht mit totalitären Zügen inthronisierte, unterstreicht dabei die Größe der Herausforderung, den losgelassenen Partikularismus der bürgerlichen Marktökonomie anders zu überwinden als durch staatlichen Zwang, der jedem Einzelnen seinen Platz zuweist. Ein freies Gemeinwesen müsste beides überwinden, also den heute blind-naturwüchsigen, durch Konkurrenz und Krisen sich vollziehenden materiellen Lebensprozess planvoll, kooperativ und bewusst gestalten und dabei bislang vom Staat erfüllte notwendige Funktionen so »in sich zurücknehmen«, dass dieser als ein von ihr getrennter Zwangsapparat verschwindet. Das erste ist die Bedingung des zweiten: Nur ein egalitäres, über die materiellen Grundlagen seines Lebens verfügendes Gemeinwesen kann den Staat als äußere »Zusammenfassung« (Marx) einer in sich zerrissenen Gesellschaft überflüssig machen. Die für den Kapitalismus charakteristische Trennung von Politik und Ökonomie würde dabei aufgehoben.
Es geht um eine andere gesellschaftliche Vermittlung, eine, in der sich das Ganze nicht gegen die Einzelnen wendet, sondern deren bewusstes Werk ist.
Geschichtliche Entwürfe dieser Art haben sich fernab von Utopismus auf die reale Praxis des Proletariats gestützt: Erst unter dem Eindruck der Pariser Commune nannten Marx und Engels ihr 1848 formuliertes Programm der Staatseroberung »veraltet«, während die von 1905 an wiederholt auftauchenden Arbeiterräte einen dezidiert antistaatlichen Kommunismus inspirierten. Im ersten Fall waren es vor allem die »Unterdrückung des stehenden Heeres durch das bewaffnete Volk«, die jederzeitige Absetzbarkeit der gewählten Stadträte und ihr vom Parlamentarismus unterschiedener Charakter als »eine arbeitende Körperschaft, vollziehend und gesetzgebend zugleich«, die Marx von einer »Revolution gegen den Staat« sprechen ließen. Der Aufstand der Kommunardinnen zielte darauf ab, die alte zentralistische Staatsmacht zugunsten eines Netzes von Kommunen zu zerbrechen, in denen eine lokale »Selbstregierung der Produzenten« besteht. Im späteren Rätemodell, am ausführlichsten von Anton Pannekoek dargestellt, wird der Gedanke einer »arbeitenden Körperschaft« und abwählbarer verantwortlicher Delegierter fortgeführt, aber strikt an die Produktion gebunden. Die Gesellschaft baut sich wie eine Pyramide von unten nach oben auf, die entscheidende Einheit ist der einzelne Betrieb: »Es gibt keine Trennung zwischen Politik, als der Lebensbeschäftigung einer Gruppe von Spezialisten, und Wirtschaft, als der Lebensbeschäftigung der großen Masse der Produzenten. (…) Die Räte sind keine Politiker, keine Regierung. Sie sind Boten, die die Meinungen, die Absichten und das Wollen der Arbeitergruppen vermitteln und überbringen.« Nicht einmal »die zentralen Räte haben regierungsartigen Charakter«, denn »sie besitzen keine Gewaltmittel«. Ein Staat als von der Gesellschaft getrennte Zentralgewalt existiert nicht mehr.
Die Räte blieben in der einen oder anderen Form jahrzehntelang für viele Radikale die Alternative zum östlichen Staatssozialismus. Heute ist das »bemerkenswerte Fortbestehen der realen Tendenz zur Macht der Arbeiterräte«, das die Situationisten 1969 zuversichtlich stimmte, Geschichte. In den Kämpfen der letzten Dekaden hat sich aber auch keine andere Form herausgeschält, die auf ein nicht länger staatlich verfasstes Gemeinwesen hindeuten würde. Die jüngeren Platzbesetzungen sind ein zeitgemäßes, der Fragmentierung der lohnabhängigen Klasse entsprungenes Mittel des Kampfes, aber im Unterschied zu den Räten nicht zugleich Vorschein einer neuen Einrichtung der Gesellschaft. Mit ihrer horizontalen Selbstorganisation schlossen die besetzten Plätze von Griechenland über Ägypten bis Spanien zwar in gewisser Weise an die Räte an. Sie blieben aber nicht nur von der Produktion, also dem entscheidenden Hebel zur Auflösung des Kapitalverhältnisses, getrennt, sondern hatten jenseits eines allgemeinen Unmuts überhaupt keine klar umrissene praktische Grundlage. Die Massenversammlungen auf manchen dieser Plätze, in denen sich jeder – im begründeten Misstrauen gegenüber der offiziellen Politik umso entschiedener an der eigenen Identität als Bürger festhaltend – kurzerhand selbst vertrat, erschöpften sich folgerichtig zumeist in einem ziel- und endlosen Palaver, an dem allen Beteiligten recht bald die Lust verging. Dass sich alle auf der grünen Wiese versammeln und über alles beratschlagen, ist sicher kein Modell für die Commune.
Vieles an den alten Rätekonzepten mutet heute fraglos verstaubt an. In Pannekoeks Skizze von 1947 sind alle Arbeiter fest einem Betrieb zugeordnet, ihr gesamtes Leben dreht sich um die Produktion, das gesellschaftliche Gefüge erscheint wie ein konfliktfreier Organismus. Versteht man unter einem Rat aber zunächst nur, dass die, die an einem bestimmten Ort arbeiten oder leben, über ihre gemeinsamen Angelegenheiten gemeinsam beratschlagen, sie praktisch gestalten und sich mit anderen durch jederzeit absetzbare Delegierte abstimmen, dann dürfte eine solche Form bis zur Erfindung von etwas ganz anderem das Gerüst einer neuen Commune bilden, sollte sie denn entstehen. Auf welcher Basis die Räte, Basisversammlungen – oder wie immer man es nennen mag – dann beruhen, wie sie ineinandergreifen, wäre je nach den lokalen Bedingungen unterschiedlich und würde sich gewiss immer wieder ändern – die »Unbeständigkeit der Verfassung«, so Horkheimer, »wäre der klassenlosen Gesellschaft eigentümlich. Die Formen der freien Assoziation schließen sich nicht zum System zusammen.« Heute würden vielleicht territoriale Räte neben solchen in der Produktion eine größere Rolle spielen.
Das Verschwinden des Staates würde also nicht in einen amorphen Zustand münden, sondern im Gegenteil eine hochentwickelte gesellschaftliche Selbstorganisation erfordern.
Die Voraussetzungen für eine solche freie Assoziation haben sich vor allem im globalen Norden im Verlauf der letzten hundert Jahre in mehrerer Hinsicht deutlich verbessert. Die erste besteht in freier Zeit. Nur wer nicht übermäßig vom Reich der Notwendigkeit beansprucht wird, kann überhaupt an den öffentlichen Angelegenheiten teilnehmen. Zweitens ist das allgemeine Bildungsniveau heute höher als zu den Zeiten, in denen die ersten Räte entstanden. Viel mehr Menschen können nicht nur lesen und schreiben, sondern beherrschen Fremdsprachen, sind ein bisschen in der Welt herumgekommen, konnten neben der Lohnarbeit ihren Interessen nachgehen. Drittens schließlich eröffnen sich mit der Informationstechnik völlig neue Möglichkeiten, die Produktion ohne zentrale Planungsbehörde zu koordinieren und auf die Bedürfnisse abzustimmen. Was gebraucht wird, dürfte sich mittels Computer und Netz viel einfacher ermitteln lassen als per Post und Kommissar; wo Not am Mann, der Frau oder anderen Menschen ist, ebenfalls. So wie sich Menschen heute auf elektronischem Wege zu »Events« verabreden, könnten beispielsweise Landkommunen bekanntgeben, wann Erntehilfe willkommen wäre, und jeder könnte verfolgen, ob er noch gebraucht wird oder nicht. Produktionsstätten könnten weltweit ihre Auslastung aufeinander abstimmen, den stofflichen Verkehr unter sich regeln und Erfahrungswissen austauschen. An allen Knotenpunkten müsste es verantwortliche Teams geben, gleichzeitig wäre je nach Bedarf und Neigung viel Wechsel zwischen Tätigkeiten in verschiedenen Bereichen möglich. Es würden auch nicht mehr wie im Realsozialismus irgendwo Güter vergammeln, die andernorts gebraucht werden. Nicht nur Produktion und Verteilung, auch die mit Rücksicht auf die Natur angezeigte gemeinsame Nutzung von Dingen, die heute als Sharing Economy ein Dasein als kapitalistischer Geschäftszweig fristet, würde enorm erleichtert. Alle Vorgänge wären für jeden, den es interessiert, einsehbar; die Transparenz des Ganzen, die sich Pannekoek von der Abschaffung des Einzelbetriebs versprach – »Jetzt liegt die Struktur des gesellschaftlichen Prozesses wie ein offenes Buch vor den Augen der Menschen« –, würde in einem Maß wahr, von dem er 1947 noch nichts ahnen konnte. Ebenso ist der »Reichtum der Fernmeldetechnik«, den der Situationist Raoul Vaneigem zwanzig Jahre später für »die laufende Kontrolle der Delegierten durch die Basis« in der Rätedemokratie in Dienst nehmen wollte, seitdem immens gewachsen. Weil einem die Soziologen heute mit Modewörtern wie »Kommunikation«, »Netzwerk«, »Wissensgesellschaft« etc. pp. in den Ohren liegen, schämt man sich solcher Gedankenspiele fast. Sie drängen sich aber auf, und an den vielfältigen Möglichkeiten, die die digitale Technik einem freien Gemeinwesen bietet, lässt sich die Borniertheit derjenigen ermessen, für die sie nur die endlich entdeckte Form einer perfektionierten Arbeitszeitmessung darstellt.
In einer heutigen Commune wären die Räte oder Basisversammlungen dadurch von vielen banalen Aufgaben entlastet. Was bliebe, ist das Problem bestimmter Entscheidungen, die viele betreffen und weder auf lokaler Ebene noch durch rein technische Koordination zu klären sind. Dezentralisierung, wie im Programm der Kommunardinnen von 1871 angestrebt und auch heute im Sinne der Überschaubarkeit anzustreben, stößt an Grenzen. Es ist zum Beispiel nicht sinnvoll und in vielen Fällen nicht machbar, alles vor Ort herzustellen. In einer weltweiten oder fürs erste auch nur größere Regionen umfassenden Commune würden sich unweigerlich Fragen etwa nach der Verwendung begrenzter Ressourcen ergeben, die nur zentral entschieden werden können. Daraus folgt, geht man von einer antiautoritären Struktur aus, deren zentrale Organe nur auf Anweisung »von unten« arbeiten, möglicherweise eine Überforderung. Dass alle über alles entscheiden, scheint im schlechten Sinne utopisch. Mit solchen Grenzen müsste bewusst umgegangen werden, um zu verhindern, dass sich erneut eine von Spezialisten bevölkerte politische Sphäre verselbständigt.
Das Verschwinden des Staates würde also nicht in einen amorphen Zustand münden, sondern im Gegenteil eine hochentwickelte gesellschaftliche Selbstorganisation erfordern. Die »Rücknahme des Staates in die Gesellschaft« müsste auch einen ganz anderen Umgang mit den Problemen einschließen, für die heute Recht, Strafjustiz und Gefängnisse zuständig sind. Vieles oder sogar das meiste, was heute als Kriminalität verfolgt wird, ist aus materieller Not geboren und würde zusammen mit ihr verschwinden – etwa Eigentumsdelikte –, anderes nicht. Anzuknüpfen wäre an die Kritik des sowjetischen Rechtsgelehrten Eugen Paschukanis, der das »Strafrecht, wie das Recht überhaupt« als »eine Form des Verkehrs zwischen egoistischen isolierten Subjekten« fasste, die auf dem bürgerlichen Prinzip der Äquivalenz beruht. An die Stelle der Vergeltung müsste eine Praxis der Veränderung treten, die »Gerichtsprozess und Gerichtsurteil überhaupt überflüssig macht«. Anstatt Gefängnisse – ein »gesellschaftliches Verbrechen und Versagen« (Emma Goldmann) – zu errichten und ihre Zeit mit dem heute völlig ausgeuferten Rechtswesen zu vertrödeln, müssten die Kommunardinnen an anderen Formen von Konfliktbewältigung arbeiten und etwa auf gewalttätige Individuen »bessernd« einwirken, was durchaus Momente von Zwang umfassen könnte. Grundsätzlich bestünde die Herausforderung, sicherzustellen, dass die Auflösung der abstrakten Rechtsbeziehungen nicht einem Rückfall hinter den Status quo gleichkommt, in dem das Recht gerade in seiner Abstraktheit idealiter auch Schutz vor staatlicher Willkür bieten soll. Die »Rücknahme des Staates in die Gesellschaft« darf nicht bedeuten, dass die Einzelne den zufälligen Launen ihrer nächsten Mitmenschen ausgeliefert ist und an die Stelle der von Abstraktionen beherrschten bürgerlichen Gesellschaft die Unmittelbarkeit kleiner Gemeinschaften tritt. Eine Gewähr dafür gibt es nicht. Es wäre eine der vielen gewaltigen, aber nicht unlösbaren Aufgaben, die sich den Menschen stellen würden.
8. Die hier skizzierten Veränderungen würden die Geschlechterordnung in mehrfacher Hinsicht berühren, ohne die heute mit ihr verbundene Misere, von der Arbeitsteilung über Rollenklischees bis zu Gewalt gegen Frauen, zwangsläufig aus der Welt zu schaffen. Sie dürfte zwar schon in den Klassenkämpfen, aus denen die Commune hervorgeht, von zentraler Bedeutung sein und sicherlich würden die Kommunardinnen auf konkreten und sofortigen Veränderungen bestehen. Die vollständige Auflösung der etablierten Geschlechterordnung dürfte dennoch für mehrere Generationen eine Aufgabe bleiben und würde bedeuten, dass in der Commune nicht sofort Harmonie einkehrt, sondern Kämpfe an der Geschlechterfront erst richtig Schwung bekommen, so wie bislang in allen modernen sozialen Erschütterungen – 1871, 1917 ff., 1936/37, 1968 – zu beobachten. Bei allen Verschränkungen gehen Geschlechterordnung und kapitalistische Produktionsweise nicht ineinander auf. Deshalb können viele Feministinnen heute auf Kapitalismuskritik pfeifen und deshalb könnte es umgekehrt männliche Kommunarden geben, die auf traditionellen Rollen beharren und denen auch nach der Abschaffung der Lohnarbeit das Programmieren von Software näher liegt als das Wickeln von Säuglingen. Immerhin fänden Bemühungen, die alte Welt auch in dieser Hinsicht zu verlassen, einen wesentlich günstigeren Rahmen vor.
Erstens würde mit dem Ende der Lohnarbeit ein Faktor entfallen, der die heutige seltsame Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern zwar nicht zwingend nach sich zieht, aber doch dazu beigetragen hat, dass sie sich trotz aller Erosionstendenzen des klassischen Patriarchats noch immer wacker hält. Wie wir an anderer Stelle geschrieben haben: »Die Gebärfähigkeit ist, vollkommen unabhängig davon, ob Frauen Kinder bekommen wollen oder nicht, prinzipiell ein Nachteil auf dem Arbeitsmarkt; kommt dann tatsächlich ein Kind ins Spiel, sind es mit einer gewissen Folgerichtigkeit dann meistens die weniger verdienenden Frauen, die sich um es kümmern.« Wenn an die Stelle des Arbeitsmarkts eine bewusste Verteilung aller gesellschaftlichen Aufgaben tritt, stünden die Chancen für eine Überwindung dieses Archaismus etwas besser. Wo alles Sache gemeinsamer Beratung wird, müssten sich Männer zumindest ein paar gute Gründe dafür einfallen lassen, warum sie sich mit profanen Dingen wie Kinderbetreuung und Hausarbeit nicht abgeben mögen.
Die unselige Verquickung von materiellen Interessen und engsten menschlichen Beziehungen würde aufgelöst.
Zweitens könnten viele der heute weitestgehend Frauen aufgehalsten Tätigkeiten gemeinschaftlich erledigt werden. In dieser Hinsicht bräuchte die nächste revolutionäre Bewegung wenig erfinden; der Gedanke ist so alt wie entsprechende praktische Versuche, man denke nur an Alexandra Kollontais Eintreten für kollektive Wohnformen und gemeinsame Kinderbetreuung in der frühen Sowjetunion. Auch mit dem Kapitalismus ist das nicht prinzipiell unvereinbar: Wo die Mobilisierung von Frauen für die Lohnarbeit erwünscht ist, kümmern sich manchmal staatliche Einrichtungen um die Kinder. Aber dieses Interesse scheint angesichts grassierender Massenarbeitslosigkeit heute in den meisten Gegenden der Welt begrenzt und selbst dort, wo es besteht, bleibt die Sorge für die Kinder zumeist Privatsache und dann letztlich an Großeltern oder Nachbarinnen hängen (in China gibt es ganze Dörfer, in denen nur Alte und Kinder leben). Das kostet weniger. Von der Tyrannei der Finanzierbarkeit befreit, könnte eine Commune all das, was heute als unproduktive Aufgabe vernachlässigt wird, ganz anders, nämlich nach Maßgabe der gegebenen Bedürfnisse gestalten.
Drittens würden Ehe und Familie zwar nicht unbedingt als Lebensform, aber als wirtschaftliche Einheit verschwinden, weil es kein Privatvermögen mehr gibt – kein Konto, kein Häuschen, kein Acker, kein Erbe. Die unselige Verquickung von materiellen Interessen und engsten menschlichen Beziehungen würde aufgelöst. Das müsste heilsame Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern wie auch zwischen den Geschlechtern haben. Keine Frau müsste zum Beispiel den Wunsch nach einer Trennung unterdrücken, weil sie ohne das Einkommen des Gatten in die Armut abrutscht oder ohne das gemeinsame Dach überm Kopf im Regen steht. Darüber hinaus würden Privates und Gesellschaftliches dadurch, dass sie in ein anderes Verhältnis treten, grundsätzlich ihren Charakter verändern. Was heute an Glücksversprechen in die Familie gelegt wird, nur um zumeist bitterböse enttäuscht zu werden, ist weitgehend Reflex auf inhumane Verhältnisse, die heimelige Existenz im biologischen Kleinverbund der Gegenpol zu einer Gesellschaft, in der sich mit Grund niemand zuhause fühlt. Sofern Menschen auch nach der Revolution Kleinfamilien bilden wollen, würde ihnen das selbstverständlich niemand verbieten, aber der Drang danach dürfte abnehmen und sofern vorhanden weniger traurige Resultate haben als heute, da die Individuen ganz anders in der Gesellschaft aufgehoben wären und die ökonomische Seite der Familie vollständig wegfiele.
Grundsätzlich würde eine soziale Revolution der Emanzipation aus den heutigen Geschlechterverhältnissen insoweit entgegenkommen, wie diese noch immer mit einer bestimmten Polarität von Lohn- und Hausarbeit inklusive Kinderbetreuung amalgamiert sind. Eine Gewähr für irgendeinen Fortschritt wäre sie für sich genommen nicht. Auch die vernünftig-gesellschaftlich geregelte Kinderbetreuung zum Beispiel könnte an den Frauen hängen bleiben und noch weniger würde all das an den Geschlechterverhältnissen von allein verschwinden, was nicht in einer bestimmten Arbeitsteilung aufgeht. So sehr den klassischen, in den spätkapitalistisch-liberalen Ländern bereits verflüssigten, aber durchaus noch existierenden Geschlechtscharakteren ihr historischer Zusammenhang mit der Spaltung des gesellschaftlichen Lebensprozesses in Marktökonomie und private Reproduktion ins Gesicht geschrieben steht – sorgend-subaltern die einen, aktiv, durchsetzungsfähig, abgehärtet die anderen –, so sehr haben sie sich bis in die letzten Winkel des Seelenlebens eingenistet und treiben bis heute als Identifikationsangebote ihr Unwesen. Schon weil sie weithin unbewusst ausgebildet und gelebt werden, wird ihre vollständige Auflösung Zeit in Anspruch nehmen: »Während sich besonders die Zerschlagung der Staatsmaschinerie als ein konzentriertes ›Umwerfen‹ derselben vorstellen lässt, lässt sich die notwendige Veränderung und Selbstveränderung der (eigenen) geschlechtlichen Subjektivität und des Geschlechterverhältnisses kaum anders denken denn als ein langwieriger, kulturrevolutionärer Prozess, der sich von Zeit zu Zeit auch eruptiv, insgesamt aber eher peu à peu in den zwischenmenschlichen Beziehungen des Alltagslebens und einer neuartigen kulturellen Produktion vollziehen wird.« (Lux et al.)
9. Der Übergang in die Commune ist weder durch Staatseroberung noch durch allmähliche Ausweitung einer angeblich schon aufkeimenden anderen Produktionslogik denkbar und auch nicht als Kombination von beidem, als Gemeinschaftsunternehmen linker Regierungen und alternativer Praktiken an der Basis. Über das marxistisch-leninistische Revolutionskonzept – Eroberung der politischen Macht, Verstaatlichung der Wirtschaft, geduldiges Warten auf das »Absterben des Staates« – braucht man heute nicht mehr viel Worte verlieren. In der Abwendung von ihm ist aber häufig die Notwendigkeit eines Bruchs zugunsten eines alternativen Gradualismus aus dem Blick geraten, sei es unter den Stichwörtern Commons, Keimform oder auch »Wertkritik«, einer vermeintlich grundstürzenden Erneuerung des marxistischen Denkens, die nach ihrem Abschied vom Proletariat recht nahe an die grün-alternative Ideologie der 1970er Jahre gerückt ist: Aufgebürstet zur »Entkoppelung vom Ware-Geld-System« sollen Inseln eines anderen Lebens und Wirtschaftens im Bestehenden geschaffen werden, um dieses Schritt für Schritt zu untergraben. Soweit es möglich ist, sich schon heute Lebensgrundlagen jenseits des Marktes zu verschaffen, lässt sich dagegen nichts einwenden, aber furchtbar viel ist ohne Bruch mit dem Eigentum eben nicht möglich, verstanden nicht nur – was zunächst die entscheidende Konfrontation wäre – als Enteignung derer, die die Verfügungsmacht über die Betriebe haben, sondern auch als Ende der Trennung zwischen den Betrieben, die als solche aufgehoben würden und nur noch Knotenpunkte im Fluss der gesellschaftlichen Produktion wären. Weder sind ohne eine sozialrevolutionäre Massenbewegung nennenswerte Ressourcen für ein anderes Leben zu bekommen, noch könnten sie, wären sie denn verfügbar, auf Dauer dem stahlharten Gehäuse der Marktbeziehungen entzogen bleiben.
Vorstellbar ist der Übergang in die Commune daher nur als wilde Bewegung der Besetzungen, die sich allem bemächtigt, was für sie von Nutzen ist – Wohnraum, öffentliche Gebäude, Betriebe, Ländereien, Transportmittel –, oder aber blockiert und sabotiert, was stillgelegt werden muss. Entscheidend wäre, das Eroberte sofort zur Ausweitung der Bewegung zu nutzen, ohne die alles wieder in sich zusammenfallen würde. Güter müssten einfach verteilt, Dienste wie medizinische Versorgung und öffentlicher Verkehr ebenfalls kostenlos bereitstehen; das Geld würde nicht wie im sowjetischen Kriegskommunismus per Dekret »abgeschafft«, sondern überflüssig, zumal es in einer schweren sozialen Krise vermutlich ohnehin entwertet wäre. Ein schwacher Vorschein dieser Praxis lässt sich in größeren Erhebungen entdecken, wo das gemeinsame Ziel die kleinliche Frage nach Mein und Dein gegenstandslos macht; im Mai 1968 schafften Bauern die Früchte ihrer Äcker zu den Besetzern in Paris, bei vielen Platzbesetzungen der letzten Jahre wurden Nahrungsmittel gratis ausgegeben, Verletzte versorgt, anstehende Aufgaben zwanglos verteilt.
Was die Lohnabhängigen nicht mehr aufrechterhalten, können auch Panzer nicht retten.
Die kaum zu überschätzende Herausforderung besteht jedoch darin, über Beschlagnahmung und Verteilung von Gütern hinaus die Produktion auf neuer Grundlage wieder in Gang zu setzen. Wie der eigene Betrieb funktioniert, das wissen noch am ehesten die dort Beschäftigten, ohne deren Kooperation auch im Hightech-Zeitalter gar nichts läuft; mit Unterstützung aller daran Interessierten könnten sie sofort damit beginnen, die Abläufe ihren Bedürfnissen anzupassen, die Produktion sofern nötig auf die Erfordernisse der Bewegung umzustellen und ihre Erzeugnisse der embryonalen Commune zu schenken. Schon die soziale Revolution in Spanien 1936/37 stand jedoch vor dem Problem der wirtschaftlichen Abhängigkeit von anderen, nicht in Umwälzung begriffenen Regionen, und die heutige weltweite Arbeitsteilung verurteilt jeden lokal begrenzten Ausbruchsversuch erst Recht zu einem schnellen Ende. Das heißt nicht, dass die Revolution am selben Tag auf der ganzen Welt ausbrechen müsste, aber ohne zügige Ausdehnung über größere Gebiete, die wenigstens das Notwendigste bereithalten, wäre alles verloren. Als Katalysator einer solchen Ausdehnung könnte sich eine schwere Krise erweisen, die eine ganze Reihe von Ländern gleichzeitig erfasst.
Welchen Verlauf eine solche Bewegung nehmen würde, hinge natürlich in entscheidendem Maße von der Reaktion der Mächtigen ab. Ob sie versuchen, die Aufstandszentren in einem Remake der Blutwoche von 1871 militärisch auszulöschen, oder aber, wie die greisen Bürokraten im Osten anno 1989, müde und resigniert abdanken, wäre selbstredend ein Unterschied ums Ganze. Hier käme es darauf an, »die Streitkräfte entlang der Klassenlinien zu spalten« und den Militärapparat durch »Verweigerung wichtiger Güter und Dienstleistungen« zu schwächen (Angry Workers of the World). Auch wenn das Eroberte vermutlich mit Gewalt verteidigt werden müsste, läge die entscheidende Kraft der umwälzenden Bewegung in ihrer Fähigkeit, materielle Bedürfnisse zu befriedigen und bereits im Moment der Erhebung andere menschliche Beziehungen aufscheinen zu lassen, beides so zu vereinen, dass es Massen von Leuten trotz aller Risiken auf einmal selbstverständlich scheint, aus der bestehenden Ordnung zu desertieren. Was die Lohnabhängigen nicht mehr aufrechterhalten, können auch Panzer nicht retten.
Die Crux besteht darin, dass der heutige weltumspannende Produktionsapparat, welche Potenziale auch in ihm liegen mögen, in seiner zunächst gegebenen Gestalt ein furchtbar ungünstiger Ausgangspunkt für die Umwälzung ist. Zwischen dem Ist-Zustand und der möglichen Commune tut sich ein riesiger Abgrund auf und der hier skizzierte Sprung über diesen Abgrund hat unbestreitbar gewisse abenteuerliche Züge. Politisch schlägt sich diese Situation einerseits in der erwähnten Hinwendung zu lokalen Commons und in einem Neoanarchismus nieder, der in »der Infrastruktur« den Feind ausmacht und ziellos Bahnstrecken sabotiert, andererseits im Postulat einer Unverzichtbarkeit des Staates: Die Welt sei so komplex geworden, dass man auf ihn als großen Steuermann beim Übergang in die postkapitalistische Gesellschaft nicht verzichten könne. Das Falsche der beiden Extrempositionen zu zeigen fällt nicht schwer – die erste kapituliert kurzerhand vor der großen Aufgabe der Wiederaneignung, die zweite täuscht sich über die Steuerbarkeit der kapitalistischen Ökonomie –, die Ausarbeitung eines Gegenentwurfs, der nicht spinnert-weltfremd erscheint, umso schwerer. Gerade weil die Commune im objektiven Gang der Geschichte nicht vorgezeichnet ist, muss über ihre Umrisse schon heute gesprochen werden. Je mehr sich die Lohnabhängigen darüber international verständigen, je klarer sich das ganz Andere vor ihren Augen abzeichnet, desto besser die Chancen, dass doch noch eine umwälzende Bewegung zustande kommt.
Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft
Kommentierte Literaturhinweise
»Die Vergesellschaftung des Erkennens«, schreibt Johannes Agnoli 1975, »hat einen derart hohen Grad erreicht, daß ›Autoren‹ in Wirklichkeit kollektiv erarbeitete Materialien, Informationen und Reflexionen sowie kollektiv erfahrene Ergebnisse der Praxis lediglich registrieren und redigieren.« (Einleitung zu Überlegungen zum bürgerlichen Staat, Berlin 1975). In diesem Sinn erheben wir keinen Anspruch auf Originalität. Anstatt neue »Ansätze«, »Paradigmen« oder »Theorieschulen« auszurufen, versuchen wir lieber, mit dem Gedankenreichtum aus circa zwei Jahrhunderten moderner Klassenkämpfe etwas anzufangen; fast alles ist längst gesagt, wir sagen es in der heutigen Situation nur ein bisschen anders. Im Einzelnen:
1. Zitat von Guy Debord aus Die Gesellschaft des Spektakels (Berlin 1995), Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (MEW 19), Marx: Das Kapital (MEW 23); Benjamin: Brief an Werner Kraft vom 26. Juli 1934 (Gesammelte Briefe IV). Die verbreiteten Einwände gegen die Frage, was Kommunismus sein soll, hat die Gruppe Paeris widerlegt: »Spinner, Utopisten, Antikommunisten. Gegen das Festhalten am Bilderverbot und für eine Verständigung über Kommunismus« (im Netz). Die Frankfurter selbst waren in puncto Bilderverbot übrigens keine Pedanten. Horkheimer meinte, das Bewusstsein, dass nicht versprengte Theoretiker, sondern nur die sich befreienden Menschen selbst über die neue Gesellschaft entscheiden können, werde »keinen, der zur Möglichkeit der veränderten Welt steht, davon abhalten, zu überlegen, wie die Menschen am raschesten ohne Bevölkerungspolitik und Strafjustiz, ohne Musterbetriebe und unterdrückte Minoritäten leben können« (»Autoritärer Staat«, In: Max Horkheimer. Gesammelte Schriften, Bd. 5. Frankfurt/M. 1987) Adorno notierte: »Das Verbot auszudenken, wie es sein solle, die Verwissenschaftlichung des Sozialismus, ist diesem nicht nur zum Guten angeschlagen.« (»Vorwort zur deutschen Übertragung der Quatre Mouvements von Charles Fourier«, Gesammelte Schriften, Bd. 20.2). Erschütternde Beispiele für linkes Technikvertrauen bieten aktuell Paul Mason, Postkapitalismus (Berlin 2016), und die »Akzelerationisten« (Nick Srnicek/Lex Williams, Die Zukunft erfinden, Berlin 2017), die mit ihrem Eintreten für die Schimäre »Grundeinkommen« vor allem den Verfall von Klassenbewusstsein »akzelerationieren«. Eine vernichtende Kritik an Mason hat Rainer Fischbach vorgelegt, komischerweise ein Linkskeynesianer: Die schöne Utopie. Paul Mason, der Postkapitalismus und der Traum vom grenzenlosen Überfluss (Köln 2017).
2. An Marx‘ Zwei-Phasen-Modell (Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, im Übrigen eine hellsichtige Kritik an der Staatsvergötterung der deutschen Sozialdemokratie) und die darin enthaltene Kopplung von geleisteter Arbeit und Konsumtion schließen aktuell unter anderem an: der Neoleninist Dietmar Dath mit seinen »Arbeitszeitkonten« (Klassenkampf im Dunkeln, Hamburg 2014), der antiautoritäre Marxist Peter Hudis (Marx‘s Concept of the Alternative to Capitalism, Leiden 2012), W. Paul Cockshott und Allin Cottrell (Alternativen aus dem Rechner. Für sozialistische Planung und direkte Demokratie, Köln 2012) und viel zu viele andere. Unsere Kritik daran folgt über weite Strecken dem exzellenten Beitrag von Raoul Victor, »The Economy in the Transition to a Communist Society«, Internationalist Perspective 61 (2016; im Netz). Zitat von Kropotkin aus Der Anarchismus (1896, im Netz).
3. Zitat von Marx/Engels: Die deutsche Ideologie, MEW 3; Zitat von Marcuse: Kultur und Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt/M. 1965. Eine immer noch brillante Kritik der Maschinerie in Anlehnung an Marx‘ Maschinenkapitel liefert der italienische Operaist Raniero Panzieri: »Über die kapitalistische Anwendung der Maschinerie im Spätkapitalismus«, in: Spätkapitalismus und Klassenkampf. Eine Auswahl aus den Quaderni Rossi, Frankfurt/M. 1972. Für die Diskussion innerhalb der Kritischen Theorie finden sich wichtige Anregungen bei Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch, Darmstadt/Neuwied 1967, sowie bei Hans-Dieter Bahr, Kritik der »politischen Technologie«, Frankfurt/M. 1970. Die Keimform-Theorie lässt sich in diversen Texten auf dem gleichnamigen Blog nachvollziehen. Eine Darstellung der neuen Technologien gibt es – selbstverständlich nicht ohne ein Plädoyer für das Grundeinkommen – bei den beiden Sprecherinnen des Chaos Computer Club Frank Rieger und Constanze Kurz (Arbeitsfrei. Eine Entdeckungsreise zu den Maschinen, die uns ersetzen, München 2013). Wesentlich kritischer und unter Einbeziehung der Arbeitsbedingungen: Matthias Becker (Automatisierung und Ausbeutung: Was wird aus der Arbeit im digitalen Kapitalismus?, Wien 2017). Des Weiteren eine gelungene Darstellung einer Arbeiteruntersuchung bei Amazon (Georg Barthel/Jan Rottenbach, »Reelle Subsumtion und Insubordination im Zeitalter der digitalen Maschinerie. Mit-Untersuchung der Streikenden bei Amazon in Leipzig«, PROKLA 187) und eine lesenswerte akademische Untersuchung zur Roboterisierung in China (Yu Huang/Naubahar Sharif, »From ›Labour Dividend‹ to ›Robot Dividend‹. Technological Change and Labour Power in South China«, 2017, im Netz).
4. Vgl. David Graeber, »On the Phenomenon of Bullshit Jobs« (im Netz); Zitat von Meinhard Creydt: 46 Fragen zur nachkapitalistischen Zukunft. Erfahrungen, Analysen, Vorschläge, Münster 2016.
5. In »Ratschläge für die Zivilisierten, die generalisierte Selbstverwaltung betreffend« (Internationale Situationniste 12, 1969, im Netz), einem immer noch lesenswerten Revolutionsszenario, nennt Raoul Vaneigem als Beispiele für die »parasitären Sektoren, die auf Beschluss der Versammlungen einfach abgeschafft werden«, etwas ungenau »Verwaltung, Büros, Produktionsstätten des Spektakels und der reinen Ware«. Wer heute in einer spätkapitalistischen Dienstleistungsmetropole wie Berlin lebt, fragt sich, was außer den Krankenhäusern und Verkehrsbetrieben eigentlich nicht in diese Kategorie fällt. Zu den suburbanen Nichtorten: Debord, Gesellschaft des Spektakels, Kapitel VII. Zum ungelösten Energieproblem: Rainer Fischbach (Mensch – Natur – Stoffwechsel, Köln 2016) zeigt, dass die erneuerbaren Quellen hoffnungslos überschätzt werden und eine drastische Absenkung des Energieverbrauchs angezeigt ist, um den bereits spürbaren Klimawandel wenigstens einzudämmen. Den grünalternativen Fetisch der kleinteilig-lokalen Produktion greift er mit Blick sowohl auf Energieversorgung wie Industrie an (nur ein großräumiges Energienetz kann die Schwankungen erneuerbarer Energiequellen ausgleichen und standardisierte Massenproduktion verbraucht am wenigsten Energie, Ressourcen und Arbeitskraft; darauf beziehen wir uns in Punkt 7, eher widerwillig, weil uns auch ohne grünalternative Neigungen Dezentralisierung eigentlich vorteilhaft scheint).
6. Adornos »Thesen über Bedürfnis« (1942, Gesammelte Schriften, Bd. 8) sind ein Revolutionsprogramm auf nur viereinhalb Seiten. Zum »Recht auf Einsamkeit«: Marcuse, Über Revolte, Anarchismus und Einsamkeit (Zürich 1969). Zum luxe communal: Kristin Ross, Communal Luxury. The Political Imaginary of the Paris Commune (London/New York 2015). Ross legt Momente der Pariser Commune von ungemeiner Aktualität frei: Schon 1871 wurden die Trennung von Kopf- und Handarbeit, das hierarchische Geschlechterverhältnis, die Kunst als vom Alltagsleben getrenntes Luxusgut, der Staat und die Nation praktisch infrage gestellt. Wenn wir im vorliegenden Text häufiger von der Commune als von Kommunismus reden, dann nicht nur aufgrund der vielleicht unwiderruflichen Kontaminierung des letzteren Begriffs mit der Geschichte der staatsozialistischen, nicht selten massenmörderischen Regime des 20. Jahrhunderts, sondern auch zur Kenntlichmachung eines verborgenen Fadens der Subversion, der vom noch vorindustriellen Paris des Jahres 1871 in die Gegenwart des High-Tech-Kapitalismus führt.
7. Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich (MEW 17); Anton Pannekoek, Arbeiterräte, Fernwald 2008. Überraschend gut dazu: Alex Demirovic, »Rätedemokratie oder das Ende der Politik« (PROKLA 155), der vor allem das restlose Aufgehen von Politik in Wirtschaft problematisiert. Zur Rechtskritik: Eugen Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus (1924), Freiburg 1991. Zu Gefängnissen: Emma Goldman, »Prisons: A Social Crime and Failure«, in: Anarchism and Other Essays, Stilwell 2008.
8. Zitat aus Kat Lux/Johannes Hauer/Marco Bonavena, »Der halbierte Blick. Gedanken zum Geschlechterverhältnis im Kommenden Aufprall«, diskus 216 (2017).
9. Der bis heute programmatische »wertkritische« Text zur Aufhebungsfrage ist Robert Kurz, »Antiökonomie und Antipolitik«, krisis 1997. War bei Kurz noch eine vage Ahnung von den Grenzen evolutionärer Veränderung vorhanden, trauen Wertkritiker heute Parteien »wie Syriza und Podemos, die ja aus den sozialen Protestbewegungen hervorgegangen sind, durchaus eine wichtige Funktion« für die Aufhebung der Warengesellschaft zu (Norbert Trenkle, »Gesellschaftliche Emanzipation in der Krise« (2015), im Netz). Dem Beitrag »Insurrection and Production« (2016, im Netz) der Angry Workers of the World (London) ist breite Diskussion zu wünschen. Sie überlegen am Beispiel des britischen Inselreichs ungewöhnlich konkret, wie eine proletarische Revolution heute verlaufen könnte. Wir hoffen, dass der von ihnen angepeilte 9-Stunden-Tag wirklich nur in der Anfangszeit gilt.