1. Im Herbst letzten Jahres schien es, als würden wir Zeugen einer politischen Zäsur. Die Massenbewegung flüchtender Menschen zeigte der Festung Europa ihre Grenzen auf. Allerdings hatte dies jenseits der wörtlichen Bedeutung wenig mit einer Bewegung gemein, geschweige denn mit einer erwachenden »Multitude«, die auf die Grundfesten der herrschenden Ordnung zielen würde. Die Geflüchteten forderten zunächst nichts außer dem Recht auf Anwesenheit, das sie temporär bereits durchgesetzt hatten; mit ihrer Raumeinnahme schufen sie kurzerhand Fakten. Obwohl es vor allem die »Willkommenskultur« war, die das staatliche Versagen durch praktische Hilfe auffing, wurde der Zusammenbruch des Grenzregimes von der radikalen Linken begrüßt und teilweise als »Selbstermächtigung« und »Autonomie der Migration« gefeiert. Andere witterten hinter Angela Merkels zeitweiliger Politik der Grenzöffnung einen Masterplan des Kapitals, den Arbeitsmarkt durch billige und willige Neuankömmlinge aufzufrischen. Manche Linke sehen darin eher eine Bedrohung und sind spätestens nach den Übergriffen in der Silvesternacht in Köln auf einen Abschottungskurs eingeschwenkt. Angesichts des Deals mit der Türkei und geplanter Internierungslager in Libyen scheinen inzwischen beide Deutungen fragwürdig. Kurzzeitig überrumpelt, sind die Herrschenden wieder am Zug, und ihr Interesse an billigen Arbeitskräften scheint begrenzt. Vielmehr zeugt das Geschehen von den Herkunftsländern bis nach Europa von einem erdrückenden globalen Überschuss an Arbeitskraft, den wir Surplus-Proletariat nennen. Durch ihn wird die Klasse der Lohnabhängigen in immer stärkere Konkurrenz gesetzt; er wirkt als Treibsatz von Abstiegsangst, Chauvinismus, Spaltung. Die handliche Losung Das Problem heißt Rassismus geht daran vorbei.
2. Ein linker Autor bemerkt, dass erst die Turbulenzen des sogenannten Arabischen Frühlings die Risse im Grenzregime Nordafrikas möglich machten, und deutet die darauf folgende Massenmigration als Teil der Revolte: »Beispielhaft haben die Bewegungen der Flucht und Migration der Rebellion eine neue Perspektive eröffnet, von der in Europa niemand zu träumen gewagt hat« (Helmut Dieterich, »Analyse & Kritik«, 12/15).
Es stimmt, dass dort, wo bis 2011 die örtlichen Despoten in einer unheiligen Allianz mit der europäischen Grenzschutzagentur Frontex für Abschottung gesorgt hatten – auch durch Folter, faktische Versklavung von »gestrandeten« Migranten und regelmäßige Schusswaffeneinsätze gegen Flüchtlingsboote –, nun Schlepper beinahe unbehelligt die Überfahrt von zehntausenden Ausreisewilligen organisierten. Aber bietet das eine »neue Perspektive«?
Der Massenexodus ist nicht Resultat eines Sieges des »Arabischen Frühlings«, sondern seiner Niederlage.
Mit dieser Auffassung steht der Autor nicht allein. Seit einigen Jahren ist unter Linken und kritischen Forschern viel von einer »Autonomie der Migration« die Rede. Gemeint ist damit zunächst, dass Migranten mitunter erfolgreich staatliche Regulationsversuche unterlaufen, was sicher zutrifft: Die massenhafte illegale Grenzüberschreitung stellt den Status quo, der auch durch das Migrationsregime aufrechterhalten wird, in Frage. An die operaistische Perspektive anknüpfend, die Kämpfe als Motor der Geschichte hervorhebt, nehmen die Vertreter dieser These die Migranten als eigenständige Akteure in den Fokus, die durch die Einwanderung in ein anderes Land zum Kollektiv werden und für ein besseres Leben kämpfen.
Angesichts der gegenwärtigen Situation erscheint diese Erklärung allerdings zynisch, besonders für die Flüchtenden aus dem syrisch-irakischen Kriegselend. Der »Arabische Frühling« hat für sie keine »neue Perspektive« eröffnet, die Vertriebenen werden nicht zu subversiven Akteuren, indem sie ein Schlauchboot an der türkischen Mittelmeerküste besteigen, und ihre zweifelsohne bemerkenswerten grenzüberschreitenden Märsche auf der Balkan-Route sind kein selbstbestimmter Sturm auf die Festung Europa, sondern Ausdruck nackter Verzweiflung. Wo nicht Terror und Bürgerkrieg die Migrationsbewegungen lostreten, folgt die Entscheidung zur Auswanderung dem Zwang, seine Ware Arbeitskraft an den Mann zu bringen. Der Massenexodus ist nicht Resultat eines Sieges des »Arabischen Frühlings«, sondern seiner Niederlage.
Bei allen Unterschieden zwischen den einzelnen Ländern bildete nicht zuletzt ein wachsendes Heer von Überflüssigen den Hintergrund der Unruhen, die sich ab 2011 ausgehend von Tunesien wie ein Lauffeuer über die Region ausbreiteten, um »Brot und Freiheit« zu erkämpfen. Die dabei zu Fall gebrachten Regierungen wurden jedoch zügig durch nicht minder brutale ersetzt, wie in Ägypten, oder die Aufstände mündeten schon früh in Bürger- und Bandenkriege, wie in Syrien und Libyen. Das vorläufige Ergebnis des »Arabischen Frühlings« ist eine Barbarisierung in Form von Krieg, Massenverhaftungen Oppositioneller, Folter und islamistischen Terrorherrschaften – und die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage, auf die die Bewegungen gehofft hatten, ist nirgends in Sicht.
Auch wenn die allermeisten unmittelbar vor dem Krieg in Syrien und Irak fliehen, nicht vor Arbeitslosigkeit, hat dieser Krieg seinerseits viel mit dem erwähnten Überschuss an Arbeitskraft zu tun: Wo das Überleben auf Lohnarbeit beruht, Lohnarbeit aber knapp wird, haben die Herrschenden ein Problem und die Jihadisten leichtes Spiel.1 Die Flucht aus der daraus erwachsenden Hölle zur »Autonomie« zu stilisieren, scheint uns eher ein Antidepressivum für Linke zu sein, als dessen Nebenwirkung Realitätsverlust droht.2
Das andere Extrem bildet ein kruder Ökonomismus, einfach gestrickt und nahe an Verschwörungstheorien gebaut, der in den aktuellen Migrationsbewegungen eine Angriffsstrategie gegen die »antiimperialistische Achse« und den deutschen Arbeiter ausmacht. Für Arnold Schölzel etwa, Chefredakteur der »Jungen Welt«, ist die Lage klar: Der Imperialismus bringe seit seinem Aufkommen Ein- und Auswanderungswellen hervor, indem er Krieg und Krise globalisiere. Diese »Extrazuwanderung« ergebe dann einen »Extraprofit«, schwadroniert Schölzel, um zu suggerieren, bei den Flüchtenden handele es sich um potentielle Streikbrecher, deren »Ein- und Ausfuhr (…) zu verhindern« sei, wie er zustimmend den Kongress der II. Internationale von 1907 zitiert (»JW«, 6.4.16). Der Nationalbolschewist ist keine Ausnahme im linksnationalen Gruselkabinett, das Migranten nur als Manövriermasse des Kapitals gegen das einheimische Proletariat sieht. In der gleichen Zeitung schlug auch Werner Rügemer in die verschwörungstheoretische Kerbe und erklärte den Flüchtlingstreck aus Syrien zum Bestandteil einer »Nato-geförderten Arbeitsmarktpolitik«, die Assad schwächen und die hiesigen Arbeitsbedingungen angreifen soll (»JW«, 22.9.15).
Auch wenn es grundsätzlich stimmt, dass durchlässige Grenzen weniger für das Kapital als für die Lohnabhängigen ein Schreckbild darstellen, spricht in diesem Fall nichts dafür, dass ein etwaiges Interesse an neuen billigen Arbeitskräften die Triebkraft hinter Merkels Pfortenöffnung war. Noch vor wenigen Jahren legte die deutsche Regierung ein schroffes Veto ein, als das von Massenarbeitslosigkeit geplagte Italien vorschlug, die an seinen Küsten eintreffenden Neuankömmlinge europaweit umzuverteilen. Und die Zukunft derer, die 2015 hier angekommen sind, scheint zumindest auf etliche Jahre ganz überwiegend auf den Sozialämtern zu liegen.
Seit die Zeiten vorbei sind, in denen Arbeitslose einfach in der Gosse landeten, müssen die Kapitalvertreter eine knifflige Abwägung treffen: Vollbeschäftigung kann die Arbeiter auf dumme Gedanken bringen, aber dass Scharen von Arbeitslosen den Mehrwert verfuttern, ist auch keine schöne Aussicht. Trotz allen Geredes über einen Arbeitskräftemangel in Deutschland hat bislang nur ein sehr kleiner Teil der hierher Geflüchteten einen Job gefunden.3 Wenn drei Viertel der befragten Vertreter der Wirtschaftselite auch langfristig kaum Chancen sehen, dass sich das ändert, und sie daher nicht betrübt, sondern schwer erleichtert sind über das Versiegen der Neuzuwanderung, erweist sich die Annahme einer »Nato-geförderten Arbeitsmarktpolitik« als Phantasma.4 Das Bild ist heute ein völlig anderes als in den Nachkriegsdekaden, als die westeuropäischen Ökonomien etliche Millionen Arbeitskräfte aus den ehemaligen Kolonien absorbierten und aktiv um »Gastarbeiter« warben.
3. Wenn es sich bei den Flüchtenden nicht um Arbeitskräfte handelt, auf die die Sachwalter der hiesigen Ökonomie gewartet haben, dann bleibt die Frage, was die Bundesregierung im Sommer 2015 dazu getrieben hat, das Dublin-II-Abkommen zu suspendieren, nach dem das Ersteinreiseland für Asylbewerber zuständig ist, und die Grenzen zu öffnen. Offenbar handelte es sich um einen Stabilisierungsversuch angesichts von ausuferndem Chaos: Unter dem Druck der sich an den EU-Binnengrenzen hauptsächlich im Osten zurückstauenden Migration drohten osteuropäische Staaten offen, mit der deutschen Politik zu brechen, während Griechenland weder willens noch in der Lage war, das europäische Grenzregime durchzusetzen.
Der Grund für das Durcheinander bestand vor allem darin, dass die herrschenden Klassen ihre Steuerungsmöglichkeiten neuer Fluchtbewegungen über- beziehungsweise die Entschlossenheit der Flüchtenden unterschätzten – so viel ist an der These einer »Autonomie der Migration« richtig. Wie zuvor schon Italien stellte die griechische Syriza-Regierung im Sommer 2015 die systematische Registrierung von Flüchtlingen weitgehend ein und schleuste sie weiter in Richtung Mazedonien. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass gerade Griechenland, nach den von deutscher Seite verordneten harten Sparprogrammen, damit wieder seine nationale Souveränität geltend machte.5
Dieser doppelbödige Kurs einer Kombination aus Utilitarismus, verbalem Humanismus und faktischer Härte hat sich durchgesetzt.
Innenpolitisch folgte Merkels Vorgehen einer sinnstiftenden Legitimationsstrategie, die das Ausmaß des politischen Kontrollverlusts überdecken und die anstehende Integration einer unerwartet großen Anzahl von Migranten in ein positives Licht rücken sollte. Doch während Deutschland für seine vorbildliche »Willkommenskultur« international Lorbeeren einheimste, werkelten die Staatsvertreter bereits mit voller Kraft an einer erneuerten Abschottungspolitik, gipfelnd im Deal mit der Türkei, der das individuelle Recht auf Asyl in Europa faktisch abschafft und dafür sorgt, dass erst Menschen ihr Leben riskieren müssen, damit andere in Europa Aufnahme finden können. Dieser doppelbödige Kurs einer Kombination aus Utilitarismus, verbalem Humanismus und faktischer Härte hat sich durchgesetzt, da er die Zahl der in Deutschland Ankommenden gegenwärtig erfolgreich reduziert.
Nach dem Türkei-Deal geht Merkel in Bezug auf die Aufrechterhaltung des kapitalfunktionalen Normalzustands scheinbar als Siegerin aus den ersten Runden hervor, sie hat den deutschen Führungsanspruch in Europa vorerst gesichert und die Renationalisierung in Europa gebremst, die nicht im Interesse des Kapitals liegt. Gerade für die deutsche Exportwirtschaft war und ist die Aufrechterhaltung des Schengener Abkommens, das innerhalb Europas offene Grenzen garantiert, zentral.
»Faire Verteilung in Europa, bessere Sicherung der europäischen Außengrenzen, Stabilisierung der Peripherie. Das hatte wenig mit Romantik oder Gefühlsduselei zu tun«, resümiert Professor Herfried Münkler zustimmend diesen Pragmatismus (http://www.zeit.de/2016/07/grenzsicherung-fluechtlinge-peter-sloterdijk…). Dessen offene Flanke besteht jedoch darin, dass er die nationalchauvinistischen Ressentiments und das Identitätsbedürfnis des konservativen Lagers nicht zu bedienen vermag. Denn das hat sich weitgehend unfähig erwiesen, Merkels subtile Härte zu erkennen, und daraus mit großem Geschrei gar den Untergang ihres so erfolgreichen Regierungssystems abgeleitet.
4. Anfang 2012 begannen in Deutschland neue Flüchtlingsproteste, vor allem gegen die Residenz- und Lagerpflicht, die Lagerbedingungen, das Sachleistungsprinzip, Abschiebungen und generell gegen das Grenzregime. Sicherlich auch unter dem Eindruck der Occupy-Bewegung setzten selbstorganisierte Flüchtlinge und Unterstützer aus dem radikalen Spektrum auf die Form der Platzbesetzung und errichteten in mehreren Städten kleinere Protestcamps. Im Herbst 2012 starteten Flüchtlinge von Würzburg aus einen Marsch nach Berlin, der in der Besetzung des Kreuzberger Oranienplatzes mündete. Es entstand ein Protestcamp, das 18 Monate lang immer wieder den Ausgangspunkt für Aktionen bildete. Spätestens mit der Besetzung der ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin und breiten Protesten in Hamburg, wo eine seltene Allianz aus Fußballvereinen, Kirchen, linken Parteien und Autonomen bis zu 15.000 Leute auf die Straße brachte, entstand bei nicht wenigen der Eindruck, dass die Migrationsdynamik seit 2011 einen neuen Kampfzyklus lostreten könnte.
Doch diese Hoffnungen zerschlugen sich. Ohne Anbindung an den Arbeitsmarkt und eine dauerhafte öffentliche Solidarisierung fehlte den protestierenden Flüchtlingen letzten Endes ein Druckmittel zur Durchsetzung ihrer Interessen. Auch darin zeigt sich die Surplus-Problematik.
Entsprechend griffen sie zu extremen Mitteln wie Hungerstreiks, die Schwäche bezeugen. Als Adressat von Forderungen blieb nur der Staat, der die Proteste letztlich spalten und befrieden konnte; sinnbildlich dafür steht der Abriss des Camps auf dem Oranienplatz im April 2014, an dem sich einige ehemalige Besetzer tatkräftig beteiligten, weil die Bezirksregierung ihnen vage Versprechungen gemacht hatte.
Die Ausgangssituation für Kämpfe hat sich mit der massenhaften Migration von 2015 nicht verbessert, sondern eher verschlechtert. Unterbringung in Lagern, Sachleistungen statt Geld und auch die Wiedereinführung der Residenzpflicht, die durch die Kämpfe der vergangenen Jahre in vielen Bundesländern faktisch abgeschafft worden war, sind für Hunderttausende wieder Alltag. Dagegen gibt es punktuell Proteste, aber bislang keine größere Bewegung.
Die Hilfeleistung von Teilen der hiesigen Bevölkerung im vergangenen Jahr war für die, die noch die Schrecken der neunziger Jahre in den Gliedern hatten, überraschend. Die Beweggründe für diese Hilfe reichen von christlicher Nächstenliebe bis zur Staatsfeindlichkeit. Als Lohnabhängige zu stupiden Tätigkeiten verdammt, genießen es einige vermutlich auch, ausnahmsweise einmal etwas Sinnvolles zu tun; vielleicht liegt darin der schwache Vorschein von etwas Besserem. Tausende Freiwillige haben Spenden gesammelt, Essen ausgegeben, Aktivitäten in Lagern organisiert, mit »Schleppertrecks« auf Grenzschließungen reagiert, bei Behördengängen geholfen oder Flüchtlinge bei sich zu Hause aufgenommen und damit einen Kontrapunkt zu rassistischer Hetze, Anschlägen und Mobilisierungen gegen Flüchtlingsunterkünfte gebildet. Diese »Willkommenskultur« war in der Hauptsache humanitär, auch wenn es insbesondere in den Großstädten zugleich Versuche gab und nur sehr vereinzelt noch gibt, selbstermächtigende Strukturen aufzubauen und den offenen Konflikt mit dem Staat zu suchen.
Spricht man mit Freiwilligen, die sich in Unterstützungsinitiativen engagieren, dann ist die Wut über das Verhalten des Staates unüberhörbar. Die Feststellung, dass der Staat die Notlage der ankommenden Flüchtlinge mindestens ignoriert, meist aber schlicht nicht willens ist, selbst rudimentäre Infrastruktur zur Verfügung zu stellen, ist bei den Unterstützerinnen und Unterstützern keine Minderheitenposition. Die praktische »Willkommenskultur« springt ein, wo der Staat sich verweigert, und läuft Gefahr, auf sozialarbeiterische Einzelfallhilfe zurückgeworfen zu werden. Das ist ein alter Hut und kann den Unterstützern nicht zum Vorwurf gemacht werden. Doch wir müssen uns fragen, inwiefern es unter diesen Voraussetzungen überhaupt noch möglich ist, wirklich auf eine kollektive Selbstermächtigung hinzuarbeiten.
Flüchtlinge haben kein naturwüchsiges Interesse am Aufstand, für die allermeisten wird der Grenzübertritt der erste und letzte subversive Akt gewesen sein.
Unter den gegebenen Verhältnissen ist uns nicht klar, wie neuer Schwung in die Bewegung kommen kann, zumal das Interesse an Konflikten mit dem Staat unter den Flüchtlingen verständlicherweise eher marginal zu sein scheint. Viele sind froh, es überhaupt noch rechtzeitig nach Deutschland geschafft zu haben, bevor die Grenzen wieder geschlossen wurden. Dass die an die Ränder der Gesellschaft Gedrängten, da es ihnen am dreckigsten geht, auch am ehesten zum Aufstand neigen, ist ein Mythos der Neuen Linken. Flüchtlinge haben kein naturwüchsiges Interesse am Aufstand, für die allermeisten wird der Grenzübertritt der erste und letzte subversive Akt gewesen sein. Das ist verständlich, denn wer erst noch Zutritt zum System will, dessen Perspektive richtet sich naheliegenderweise eher auf Anpassung. Was auf dem Weg in Richtung Zielland angesichts der Grenzen und ihrer bewaffneten Hüter offensiv sein muss, setzt sich nach der geglückten Ankunft meist individualisiert und geräuschlos fort. Der Flüchtlingstreck zerfällt und damit auch die Kollektivität. Nun geht es nicht mehr um gemeinsamen Druck auf das Grenzregime, sondern um Anerkennung, Teilhabe, Legalität, Arbeit und eine gute Unterbringung. Die Erwartung vieler Linker, die Kämpfe entlang der Fluchtroute würden in Deutschland ungemindert fortgeführt, haben sich nicht erfüllt.
5. »Wildcat« schreibt treffend, bloßer »Kulturkampf« reiche trotz der Notwendigkeit einer »antifaschistischen Kante« nicht aus; man müsse »aus dem sozialen Antagonismus heraus weitergehende Handlungsperspektiven entwickeln«. Inwiefern die Chancen dafür durch die jüngste Massenmigration besser geworden sein sollten, ist uns allerdings schleierhaft. Wir sehen gerade nicht, dass die Flüchtlinge »Themen wie Lohn, Arbeitsbedingungen, Wohnungsfrage ... zu öffentlichen Themen gemacht« haben (siehe »Wildcat« 99, Winter 2015, www.wildcat-www.de) – oder allenfalls nur insofern, als sie mit Blick auf solche Themen eine gewisse Unruhe unter den hiesigen Lohnabhängigen auslösen. Dass diese in den neuen Nachbarn vor allem unliebsame Konkurrenz auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt sehen, scheint unter den gegebenen Verhältnissen fast logisch. Die in der Parole »Refugees Welcome« umschiffte Klassenfrage kehrt nationalistisch entstellt wieder, in Gestalt der Scharfmacher von Pegida und AfD, die sich mit chauvinistischem Feldgeschrei als Anwalt des kleinen Mannes in Szene setzen.
Darauf verstehen sich die Spießbürger und Fackelträger des gesunden Menschenverstands derzeit bestens. »Bramarbasierend ... prätentiös-derb im Angriff, gegen fremde Derbheit hysterisch empfindsam ... beständig Sitte predigend, beständig die Sitte verletzend; pathetisch und gemein in komischster Verstrickung« (Karl Marx) – so unappetitlich und unter aller Kritik dies ist, gelingt es den mutigen Zeugen der Wahrheit und ihrer Partei doch, die als Ängste vorgestellten Ressentiments der potentiell oder real Abgehängten zu kanalisieren, auch wenn das stramm neoliberale Programm der AfD für ihre proletarischen Wähler wenig Schönes in petto hat.
Bar jeden Selbstbewusstseins, überall Komplotte witternd, stets zu kurz gekommen: In den Fremden, die ein undurchsichtiger Weltenlauf auf ihrer Scholle abgeladen hat, erblicken die Subalternen auch einen verschwommenen Vorschein eigener Integrationsdefizite innerhalb des laufenden Betriebs. Umso mehr müssen Grenzen gezogen werden, um auch das letzte bisschen Identifikation mit den verlorenen Fremden noch abzuwehren. Kann sich die konformistische Masse vordergründig auf das Siegel von Volk und Nation einigen, zerfällt sie im Inneren in Tausende egomane Querulanten, denen die ganze Welt zu viel ist und die sich an der »Autorität der eigenen subjektiven Offenbarung« (Hegel) berauschen. Als Kanzel dienen ihnen Foren im Internet, angefüllt mit wirren bis wüsten Sentenzen, die sich gegen jede Art von Kommunikation abdichten. In einer verqueren Travestie wird hier beständig zwischen den Rollen »einsamer Rufer in der Wüste« und »Fußsoldat der entfesselten Volksmassen« gewechselt; Verschwörungstheorien schießen ins Kraut. Diente die Religion in Zeiten revolutionären Aufbruchs als Opium des Volkes, ist die Verschwörungstheorie in der Epoche der Hoffnungslosigkeit sein Crack.
Wenn Linke nun dazu aufrufen, den Delirierenden eine Entziehungskur zu verpassen und die eigenen Kräfte in antifaschistischen Abwehrkämpfen gegen AfD & Co. zu bündeln, machen sie sich, gewollt oder ungewollt, zum bewaffneten Arm der Bundeszentrale für politische Bildung. Ein Teil des veröffentlichten Establishments schließt die Reihen gegen die neuen Rechten, was deren pseudorebellisches Image nur stärkt; Sozialrevolutionäre haben in solchen Allianzen, inklusive »Bild« und Margot Käßmann, nichts verloren und noch weniger zu gewinnen. Antifaschistische Aufrufe, dem »Pack« Einhalt zu gebieten, versprechen Abenteuer, bieten aber keine Antwort auf die entscheidende Frage, wie die nationalistische Spaltung des Proletariats überwunden werden könnte – die im Übrigen auch ohne Rassismus auskommen kann, wie die durchaus verbreitete Einwandererfeindschaft unter Arbeitern mit Migrationshintergrund illustriert.
Die systematisch erzeugte Frontstellung zwischen überflüssigen und potentiell überflüssigen Proletariern bestimmt heute rund um den Globus die politische Großwetterlage: White Trash und Bluecollars an der Seite von Donald Trump gegen Mexikaner in den USA, nordfranzösische Arbeiter mit Marine Le Pen gegen Banlieusards, postkommunistische Bergleute aus Sibirien gegen kaukasische Zuwanderer in Russland, die FPÖ als erste Partei der österreichischen Arbeiterschaft – überall fürchten die, die noch schuften dürfen, dass ihnen die, die nur ihr nacktes Leben haben, den Arbeitsoverall vom Leib reißen. Wo der rasende Produktivitätsfortschritt beständig Surplus-Proletariat produziert, wo die Belegschaften eher auf die Konkurrenz in der eigenen Klasse schielen als den gemeinsamen Feind ins Visier zu nehmen und vor allem hoffen, weiterhin einen Abnehmer für ihre Arbeitskraft zu finden, bleiben Sozialrevolutionäre zunächst ratlos zurück.
Die systematisch erzeugte Frontstellung zwischen überflüssigen und potentiell überflüssigen Proletariern bestimmt heute rund um den Globus die politische Großwetterlage.
Was könnte es heißen, angesichts dieser Spaltung »die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats hervor[zu]heben und zur Geltung [zu] bringen« (Manifest der kommunistischen Partei)? Kommunistische Kritik erschöpfte sich dem eigenen Anspruch nach nie im Proklamieren eines bloßen Sollens, sondern versuchte im Rückgriff auf die »unmittelbar vorliegenden Zwecke und Interessen der Arbeiterklasse« das »Interesse der Gesamtbewegung« und die schon heute vorhandenen Potentiale einer befreiten Gesellschaft in den Blick zu nehmen.
Hoffnungen auf die Flüchtlinge als Speerspitze neuer Klassenkämpfe sind aber so unbegründet wie die Suche nach einem unmittelbaren gemeinsamen Klasseninteresse vergeblich. Denen, die sich an ihren deutschen Pass klammern und anderen das Leben schwermachen, wird man ein solches Interesse kaum aufschwatzen können. Man kann ihnen nur mitteilen, dass ihr Wunsch, der Grenzschutz möge ihnen – wenn nötig mit Schusswaffeneinsatz – das Elend einer völlig aus den Fugen geratenen Welt vom Leib halten, sich auf Dauer nicht erfüllen wird. Abstrakt bleibt bis auf weiteres auch der materialistische Gedanke, dass als Kehrseite der Angst vor der Überflüssigkeit das Versprechen einer Welt ohne Plackerei lockt wie nie zuvor, dass also die zunehmende Knappheit an Jobs auf früher utopische Möglichkeiten deutet. Nicht auszuschließen, dass der gewiss anhaltende Zuzug aus den verwüsteten Zonen des Weltmarkts dazu beiträgt, die Notwendigkeit einer praktischen Umwälzung, die dieses Versprechen einlöst, doch noch ins allgemeine Bewusstsein zu heben.
Zuerst erschienen unter dem Titel »Subtile Härte« in »konkret« 10 und 11/2016.
Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft, September 2016
- 1. Wie wir 2012 geschrieben haben: »In Syrien schwelt dieselbe soziale Krise wie in Nordafrika. Fast die Hälfte der Bevölkerung ist unter 15 Jahre alt; jedes Jahr strömen 250.000 bis 300.000 Menschen neu auf den Arbeitsmarkt, doch im traditionell wichtigen Staatssektor herrscht seit einiger Zeit faktisch ein Einstellungsstopp. Bereits vor ein paar Jahren erkannte ein deutscher Think-Tank ›das politisch potentiell gefährlichste‹ Problem des Landes im ›Wachsen der Armutsgürtel um die syrischen Großstädte (…). Dort kommen täglich syrische Familien an, die ihren Lebensunterhalt auf dem Land nicht mehr erarbeiten können.‹ (Germany Trade and Invest)«. Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft, Postskriptum zu »Arabischer Frühling im Herbst des Kapitals« (online unter kosmoprolet.org).
- 2. Ein ähnlicher, ebenfalls aus Romantisierung der Migration erwachsender Realitätsverlust sprach aus den meisten linken Reaktionen auf die Vorfälle in der Silvesternacht in Köln. Aus begründeter Angst vor einer rassistischen Vorverurteilung aller Flüchtlinge wurde gebetsmühlenartig die wenig hilfreiche Banalität rezitiert, dass auch Deutsche Sexisten und alle Sexisten Arschlöcher sind. Über die völlig anders gearteten Geschlechterverhältnisse in westeuropäischen und nordafrikanisch-arabischen Gesellschaften konnte man sich dergestalt genauso bequem ausschweigen wie darüber, dass die Übergriffe in Köln – entgegen dem vielfach bemühten Verweis auf das Münchner Oktoberfest – in der Tat außergewöhnlich waren.
- 3. Die neuesten Zahlen zeigen das deutlich. 30.000 Asylbewerber haben seit April 2015 hierzulande Arbeit gefunden, der Großteil in den unteren Lohnsegmenten sowie Minijobs. Dagegen beziehen bereits 130.000 Flüchtlinge die Grundsicherung, was ungefähr Hartz IV entspricht. Rechnet man die mehr als eine Million Menschen dazu, die noch in Verfahren stecken und von Staatsgeldern leben, ergibt sich ein dickes Minus. Vgl. »Zehntausende finden Arbeit in Deutschland« (spiegel.de).
- 4. Die Ergebnisse einer Befragung von über 500 »Entscheidungsträgern« der deutschen Wirtschaft und Politik fasst die »FAZ« so zusammen: »Mehr als zwei Drittel der Spitzenkräfte aus der Wirtschaft sehen wenige oder gar keine Chance, die Flüchtlinge in die Gesellschaft einzugliedern, drei Viertel glauben auch nicht an eine Integration in den deutschen Arbeitsmarkt. Hingegen hält eine Mehrheit der Spitzenkräfte der Politik (56 Prozent) zumindest die Eingliederungschancen in die Gesellschaft für gut oder sehr gut, an den Arbeitsmarktchancen zweifelt sie freilich auch.« - (»Eliten befürchten neue Flüchtlingswelle«, »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, 19.7.2016.)
- 5. Vor dem großen Sommer der Migration, von 2006 bis 2015, kamen mehr als 1,8 Millionen Flüchtlinge über die Grenze nach Griechenland, die meisten blieben aber vor Ort. Erst mit der Verschärfung der Wirtschaftskrise wurde Griechenland zunehmend ein Transitland. Siehe den Text der griechischen Gruppe Antithesi, Vogelfrei. »Migration, deportations, capital and its state«, Juli 2016 (online unter cominsitu.wordpress.com).