Sergio Lopez
Wie ist es um den Sozialismus des XXI Jahrhunderts bestellt?
In den vergangenen zwei Jahren, seit Erscheinen des Artikels "Der Präsident Chávez ist ein Instrument Gottes" im letzten Kosmoprolet, hat sich in Venezuela auf politischer Ebene einiges bewegt. Drei Wahlen haben seitdem stattgefunden, bei denen die begeisterte Unterstützung Chávez durch die Bevölkerung nachgelassen hat, die aber seine Macht nicht ernsthaft gefährdet haben. Allerdings bleiben die wirtschaftliche Abhängigkeit des Landes vom Erdöl und die im Artikel erwähnten Tendenzen ungebrochen. Von einer ernsthaften autonomen Bewegung der Arbeiter, die durch ihre Aktionen die Fundamente der kapitalistischen Verhältnisse in Frage stellen würden, kann weiterhin nicht die Rede sein. Und das gilt noch weniger für andere soziale Schichten, wie die Bauern oder die marginale Bevölkerung, die immerhin 50 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen und außerhalb formal-juristischer Verhältnisse in selbst zusammen gezimmerten Vierteln leben und durch allerlei Geschäfte (oft am Rande der Kriminalität) ein völlig zufälliges Einkommen erzielen.
Nachdem die internationalen Erdölpreise bis etwa August 2008 kräftig stiegen und ein Barrel Öl die Schwindel erregende Marke von ca. 150 US-Dollar erreichte, lässt nun die Weltwirtschaftskrise grüßen. Mit ca. 50 US-Dollar entspricht zwar der jetzige Preis immerhin noch dem des Jahres 2005, aber Staat und Wirtschaft hatten sich schnell an mehr verfügbares "Kleingeld" gewöhnt und die nun eingetretene Baisse verursacht Entzugserscheinungen.
Gleich nach seiner erfolgreichen Wiederwahl im Dezember 2006 wurden die "fünf Motoren" auf dem Weg zum "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" verkündet. Es handelt sich dabei um a) die Veränderung der unter Chávez 1999 verabschiedeten bolivarischen Verfassung, b) Ermächtigungsgesetze, die es dem Präsidenten erlauben, 18 Monate lang in strategischen Bereichen per Dekret und ohne parlamentarische Zustimmung zu regieren, c) großflächige Erziehungskampagnen, d) die geographische Neuaufteilung der öffentlichen Verwaltung und schließlich e) die Ausweitung und Ermächtigung der "Gemeinderäte" (eher Kiezräte ) die die Regierung gegen die bisher existierenden staatlichen Institutionen auf lokaler Ebene ins Leben gerufen hat - siehe Kosmoprolet Heft 1, S. 76-77).
Die Parole "Vaterland, Sozialismus oder Tod!" wurde quasi zur rhetorischen Pflicht bei jedem offiziellen oder politischen Akt.
Danach begann sofort die neue Wahlkampagne zur geplanten Verfassungsänderung. Diese beinhaltete insbesondere die Möglichkeit einer unbeschränkten Wiederwahl des Präsidenten, die Umorganisierung des Territoriums teilweise auf der Basis der neu gegründeten Gemeinderäte, das Ende der Unabhängigkeit der Zentralbank und als Zuckerbrot eine Wochenarbeitszeitverkürzung auf 36 Stunden. Das übergeordnete Ziel sei der Aufbau einer sozialistischen Wirtschaft, hieß es. Die Parole "Vaterland, Sozialismus oder Tod!" wurde quasi zur rhetorischen Pflicht bei jedem offiziellen oder politischen Akt. Der Aufbau der neuen politischen Partei der Anhänger des Präsidenten, der PSUV, wurde unter anderem mittels Druckausübung auf die Staatsangestellten und die Beteiligten der "Misiones" durchgeboxt. Kurz vor dem Referendum um die Verfassungsänderung soll die PSUV laut Parteiquellen 5 Millionen Mitglieder erreicht haben. Diese Zahlen sind zwar wahrscheinlich übertrieben, aber trotzdem keine willkürlichen Phantasiezahlen eines Propagandaapparates; monatelang standen auf den Bürgersteigen des ganzen Landes Zelte, wo man sich eintragen konnte - und nicht selten bildeten sich Schlangen.
Dass das Referendum (Dezember 2007) dem "Comandante" die erste Wahlniederlage bereitete, liegt nicht so sehr daran, dass die Opposition stärker geworden war - sie konnte nur minimal ihre Stimmen erhöhen. Eher lag dies an dem mangelnden Enthusiasmus eines Teils der traditionellen Chávez-Befürworterinnen. Die etwa 1,5 Millionen fehlenden Stimmen zeugen angesichts der angeblichen Zahl der Parteimitglieder davon, dass der ärmere Teil der Bevölkerung andere alltägliche Sorgen hatte (und teilweise noch hat): von der damals besonders kritischen Lebensmittelversorgung über die marode Infrastruktur; von der noch bis heute ineffizienten Müllentsorgung bis zur grassierenden und Angst einjagenden Kriminalität. Das Lager des Chavismus wies immer mehr Risse auf, da aber die Regierung selbst nicht gefährdet war, zeigte die "Erpressung" mit der Gefahr einer Machtübernahme durch die Opposition kaum Wirkung. Schon damals deutete sich an, dass die marginale Bevölkerung in den Städten kein chavistisches Bollwerk mehr ist (dazu hat sicher auch die permanente Spannung zwischen lokalen Behörden und Straßenverkäuferinnen um die Nutzung des Straßenraums in den Innenstädten beigetragen).
Nachdem der erste Motor ins Stocken geraten war, wurde es leiser um die anderen vier. Dafür kam die Kampagne der drei "R"s ("Revisión, Rectificación, Reimpulso" - Revision, Korrektur, Neuer Impuls), um in die nächsten Wahlen (dieses Mal Regionalwahlen) aufzubrechen. Es blieben die Ermächtigungsgesetze, die im Prinzip der Regierung freie Hand gaben, um die Vorhaben der gescheiterten Verfassungsänderung durchzusetzen. Es wurden zwar in letzter Minute (am Ende der Laufzeit von 18 Monaten und kurz vor den Regionalwahlen) etliche Dekrete erlassen, die aber folgenlos blieben - und von der Durchsetzung der 36-Stunden-Woche war überhaupt keine Rede mehr.
Bei den Regionalwahlen (November 2008) siegte der Chavismus in absoluten Zahlen und in den meisten Regionen. Dennoch gewann die Opposition in den größeren Städten (darunter in der Hauptstadt Caracas) und in den drei wirtschaftlich wichtigsten Regionen. Daraufhin wurde kurzfristig ein neues Referendum einberufen, um die offensichtlich zentrale Frage der erneuten Wählbarkeit in der Verfassung zu verankern. Dieses Mal (Februar 2009) war der Versuch erfolgreich. Der permanente Wahlzirkus scheint nun vorläufig zu Ende, aber wer weiß…
Inzwischen mehren sich Schikanen gegen Persönlichkeiten der alten und der "neuen" Opposition und einige werden sogar kriminalisiert. Von Seiten der Zentralregierung wird alles getan, um die Macht der von der Opposition regierten Regionen zu schwächen. So wurden öffentliche Gebäude nicht übergeben oder wenn, dann ohne Unterlagen und Mobiliar, die Bereitstellung finanzieller Mittel verzögert, und vor allem wurde kurzerhand beschlossen, dass Häfen und Autobahnen direkt der Zentral- und nicht der jeweiligen Regionalregierung unterstellt werden.
Demonstrationen und Werktorbesetzungen finden immer wieder statt. Bis jetzt vergeblich.
Von Zeit zu Zeit werden mit viel Getöse Verstaatlichungen und Enteignungen angekündigt, während Joint Ventures im Erdölsektor gegründet werden. Immerhin reißen die Enteignungen ein Loch von ca. 9 Milliarden Dollar in die Staatskasse. Bei der Abwicklung der Verstaatlichung verschleppen sich die Entschädigungszahlungen an die noch formalen Besitzer, wobei die Situation der Arbeiter sich kaum verändert. Beispielhaft ist der Fall des größten Stahlunternehmens des Landes (Sidor): Nachdem die Tarifverhandlungen in einen Arbeitskonflikt größeren Ausmaßes zu münden drohten, wurde das Unternehmen im Mai 2008 verstaatlicht. Der Jubel war groß, auch bei den Beschäftigten. Eine der ursprünglichen Forderungen war die Wiedereinstellung der etwa 9.000 Leiharbeiter als Festangestellte. Ein Jahr später beharren noch immer etwa 8.000 Leiharbeiter darauf, dass dies endlich geschehe. Demonstrationen und Werktorbesetzungen finden immer wieder statt. Bis jetzt vergeblich.
Dies ist nicht der einzige Fall bei dem die Kluft zwischen der Regierung und den Arbeiterinnen manifest wird. Nicht umsonst wird gerade nochmals versucht, einen regierungstreuen Gewerkschaftsdachverband auf die Beine zu stellen, nachdem der erste Versuch durch Richtungskämpfe und Zersplitterung de facto gescheitert ist. Die Tarifverhandlungen im öffentlichen Sektor werden laufend vertagt, was zu immer neuen Konflikten führt. Als die Angestellten der U-Bahn Anfang dieses Jahres einen Streik begonnen, wurde ihnen klar gemacht, dass Gemeinderäte und andere "Volks"- Organisationen sie ihre Wut über den Streik spüren lassen würden. Diese Botschaft haben die Angestellten ernst genommen und den Streik beendet. Was dies über die Autonomie der so genannten Basisorganisationen aussagt, kann sich jeder selbst ausmalen. Aber auch mehr oder weniger tolerierte paramilitärische Gruppen lässt die Regierung die schmutzige Arbeit verrichten (so vermutlich beim Überfall auf eine Synagoge im Januar 2009, wo zumindest einzelne Wache stehende Polizisten passiv geblieben sind). Wird die öffentliche Empörung allerdings zu groß, dann werden diese Gruppen plötzlich als "Agenten des Imperiums" denunziert.
Inzwischen kommt es bei Arbeitskonflikten sogar zum Einsatz von Schusswaffen. Erste Tote sind zu beklagen. Hier die kurze Mail eines Genossen, der sich gerade im Lande aufhielt:
"Während beim Weltsozialforum in Brasilien die Präsidenten der 'Achse der Hoffnung' (Venezuela, Bolivien, Paraguay, Ecuador) vor einem ergebenen Publikum radikale Reden gegen den Kapitalismus hielten, erschossen Spezialtruppen der Polizei in Barcelona im Nordwesten Venezuelas bei der Räumung des seit zehn Tagen besetzten Mitsubishi/Hyundai-Montagewerks am 29. Januar 2009 zwei der Besetzer. Die 1.600 Arbeiter des Montagewerks hatten die Auszahlung ausstehender Löhne sowie die Festanstellung von 135 Zeitarbeitern gefordert und seit dem 20. Januar die Fabrik lahm gelegt. Nachdem zwei Gerichte in Barcelona im Schnellverfahren zugunsten des japanischen Autounternehmens entschieden hatten, ordnete eine Richterin am Haupttor die Öffnung der besetzten Fabrik an. Dabei wurden die beiden Arbeiter erschossen, weitere sechs schwer verletzt."
Erste Tote sind zu beklagen.
Verwunderlich ist dies nicht, schließlich hat Chávez selbst im Januar dieses Jahres aufgrund immer wiederkehrender Straßenproteste erklärt: "Von nun an sollte jeder, der einen Hund (sic!) oder Bäume in Flammen setzt, der eine Straße sperrt, spüren, wie gut unser Gas ist und dann festgenommen werden. Ich werde jeden verantwortlichen Beamten feuern, wenn er diese Vorgabe nicht erfüllt." Er drohte sogar, persönlich diese Aktionen zu leiten, wenn Polizeichefs oder Minister "versagen".
Die Kooperativen sind inzwischen auch in Regierungskreisen in Misskredit geraten: sie "tendieren zu kapitalistischen Werten" (Chávez). Die "Misiones" existieren weiterhin, haben aber an Schwung verloren. Sie werden auch zunehmend mit finanziellen Problemen konfrontiert. Denn es sind nun magere Zeiten angebrochen. In den Jahren des Erdölbooms stiegen die Einnahmen der staatlichen Erdölgesellschaft PDVSA - und damit auch die staatlichen Ausgaben: von 2005 bis 2008 wuchsen letztere um mehr als 50 Prozent! Der gültige Haushalt für das Jahr 2009 wurde auf der Basis von 60 US-Dollar pro Barrel konzipiert (nachdem er gegenüber dem ersten Entwurf schon um 20 Prozent reduziert wurde), der real erzielte Preis für Venezuela liegt aber wegen der Weltwirtschaftskrise in den ersten Monaten des Jahres bei gerade noch 38 US-Dollar! Die PDVSA hat in diesem Jahr noch kein Geld in die Staatskassen abgeführt und zahlt ihre Zulieferer auch nicht aus. Man muss sich vorstellen, dass ihre gesamte Verschuldung 18 Milliarden Dollar erreicht hat und dass davon fast die Hälfte auf die Zulieferer anfällt. Unmittelbare Hilfe soll aus der Emission von neuen Anleihen in Höhe von 3 Milliarden kommen. Ähnliches geschieht bei der staatlichen Holding für Bergbau und Primärindustrie (CVG), wo insbesondere die Aluminiumindustrie permanent rote Zahlen schreibt. Auch hier wird über eine Emission neuer Anleihen in Höhe von etwa 5 Milliarden Dollar nachgedacht. Als offizielle Garantien sollen zukünftige Fördermengen an Gold gelten. Die weitere Finanzierung der sozialen Programme steht auf wackligen Beinen. Der Popularitätsverlust der Regierung schreitet langsam voran.
Trotz kräftig angewachsener Währungsreserven vonknapp 120 Milliarden Dollar stiegen gleichzeitigallein die Staatsschulden im Ausland in den letzten zwei Jahren um 70 Prozent auf bis zu 46 Milliarden Dollar (darunter sind 8 Milliarden aus China und 3,5 Milliarden aus Japan). Darüber hinaus wird voraussichtlich eine staatliche Bank aus Brasilien dem venezolanischen Staat mehr als 4 Milliarden Dollar zur Verfügung stellen, um den Handel zu unterstützen und in die Infrastruktur zu investieren. Dieses Mal gelten die Fördermengen an Öl als Garantien. Die Mehrwertsteuer, die vor einem Jahr gesenkt wurde, ist für dieses Jahr wieder angehoben worden. Die Inflation stieg von 17 Prozent im Jahre 2006 auf 30 Prozent im Jahre 2008… und der Mindestlohn hinkt hinterher (heutzutage sind zwei Mindestlöhne nötig, um einen durchschnittlichen Haushalt von zwei Erwachsenen und drei Kindern halbwegs über Wasser halten zu können). Die traditionelle Erhöhung des Mindestlohns, immer wieder am 1. Mai durch Chávez höchstpersönlich verkündet, wird wohl dieses Jahr mager ausfallen (vielleicht 10 Prozent bei einer Inflation von weiterhin ca. 30 Prozent).
Bleibt der durchschnittliche jährliche Erdölpreis weiterhin unter der Grenze von 60 US-Dollar, dann droht der venezolanischen Wirtschaft ein Kollaps mit nicht vorhersehbaren Konsequenzen. Andernfalls werden die autoritären Tendenzen des "Sozialismus des XXI Jahrhunderts" ihren bisherigen Weg fortsetzen, was sich im internationalen Rahmen in der uneingeschränkten Solidarität mit dem iranischen Regime und seinem brutalen Vorgehen gegen wahrscheinlich bloß "demokratisch" gesinnte Reformbewegte ausdrückt. Wie in Iran werden in Venezuela neue oppositionelle Kräfte innerhalb der neuen bolivarischen Oberschicht (bekannt als "Bolibourgeoisie") entstehen und die sozialen Konflikte sich in absehbarer Zeit weiter zuspitzen. Diese werden dennoch weiterhin gesellschaftlich isoliert bleiben und an der Überwindung einer staatlichen Perspektive scheitern.
Sergio Lopez
Juni 2009
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