Interview mit zwei Aktivist_innen aus Brasilien

10. Oktober 2013

Im Frühjahr/Sommer 2013 überraschten massive Proteste in Brasilien die Weltöffentlichkeit. Wie bereits in zahllosen anderen Ländern zuvor schienen die Massendemonstrationen, direkten Aktionen und Versammlungen aus dem Nichts gekommen zu sein. Die Welt beobachtete verwundert die Ereignisse. Am 03.08.2013 berichteten zwei brasilianische Aktivist_innen auf Einladung von La Banda Vaga in der KTS in Freiburg über die Protestbewegung in ihrem Heimatland. Im Anschluss an die Veranstaltung führten wir folgende Interview um einige Fragen noch weiter zu vertiefen:

Die Proteste in Brasilien finden zu einer Zeit statt, in der es weltweit zu einer ungewöhnlichen, vielleicht geschichtlich gar einzigartigen, Anhäufung von Protesten, Aufständen und Unruhen kommt. Die einzelnen Teile dieser „Ära der Aufstände“ scheinen aber relativ isoliert von einender abzulaufen. Wie ist das bei den Protesten bei euch? Gibt es Bezug oder Kontakt zu anderen Protesten? Wenn ja zu welchen und in wie weit?

Die weltweiten Proteste wurden von uns in Brasilien von Anfang an über das Internet verfolgt. Am bedeutendsten war es, dabei zu sehen, wie wichtig direkte Aktionen für die Proteste sind und in welchem Maß diese zunehmen. Solche direkten Aktionen schienen früher unrealistisch, besonders in Rio, da die Polizei hier, wie auch im restlichen Brasilien, äußerst gewaltsam vorgeht. Bei den aktuellen Protesten war aber genau diese Gewalt eine Wurzel des Aufbegehrens. Auch schon vor den großen Auseinandersetzungen und den letzten Unruhen in Rio war es üblich, dass von den Protestierenden die Parole „Acabou o amor, isso aqui vai virar a Tuquia“ (sinngemäß: Die Ruhe ist vorbei, es werden türkische Verhältnisse einkehren“) gesungen wurde. Insgesamt kann man sagen, dass die weltweiten Proteste, zum Beispiel in Ägypten, Griechenland und der Türkei, uns bei den Protesten sehr halfen und als Inspiration dienten.

Bei vielen dieser Proteste kam es im Vorfeld zu größeren Arbeitskämpfen, zum Beispiel in Ägypten und der Türkei. War das in Brasilien auch so? Gab es vor oder während der jetzigen Protesten qualitativ oder quantitativ hervorstechende Arbeitskämpfe?

Nein für Brasilien trifft das nicht zu. Die Arbeitskämpfe in Brasilien verbleiben immer auf der Ebene gewerkschaftlicher Kämpfe. Besonders die großen Gewerkschaften aber auch die Gewerkschaften allgemein sind mit der Regierung verknüpft, sodass es immer zu Übereinkünften zwischen diesen Konfliktparteien kommt. Die aktuellen Revolten sind von unabhängigen Gruppen getragen, besonders von jenen, die gegen die Fahrpreiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr kämpfen und den Gruppen in den Favelas, die für die Rechte der Armen und gegen die Polizeigewalt agieren.

In den deutschen Medien – teilweise auch in den linken -- werden die Proteste in Brasilien als ein Aufstand der Mittelklasse dargestellt. Stimmt das? Wie ist die soziale Zusammensetzung der Proteste?

Die ersten Demonstrationen wurden von ein paar wenigen Bewegungen und linken Parteien getragen. Später jedoch beteiligte sich die Mittelschicht, unterstützt und animiert durch die Mainstream-Medien, massiv an den Protesten. Typisch für die Sicht der Mittelschicht auf die Proteste ist, dass sie diese als Art friedliches Fest interpretieren wollte. So wurden die Protestierenden durch die Medien auch in friedliche „echte Demonstranten“ und gewalttätige Randalierer eingeteilt. Die Medien, besonders TV Globo, wollten durch die Agitation für eine größere Beteiligung der Mittelschicht die Proteste in eine bestimmte Richtung lenken. Nun sind wir aber schon wieder in einer Phase, in der die Mittelschicht die Proteste verlässt und nur noch „die Linke“ beteiligt ist. Die Unruhen sind kleiner geworden aber sehr kontinuierlich und sachlich. Das Rathaus ist weiterhin besetzt, die Lehrer streiken und es kommt, zumindest in Rio, häufig zu Riots.

Mit Dilma Vana Rousseff ist eine sozialdemokratische Präsidentin an der Macht, die aktiv im Widerstand gegen die Militärdiktatur war. Wie wirkt sich das auf die Proteste aus? Besteht die Gefahr, dass sie die Proteste instrumentalisiert und somit auch kanalisiert?

Nein, einen solchen Einfluss auf die Proteste gibt es nicht. Die Präsidentin scheint ihre Vergangenheit und damit ihren Kampf gegen die Diktatur vergessen zu haben. Sie steht nun der selben Polizei vor, die sie damals gefoltert hat und die jetzt auf Protestierende in den Favelas schießt und sie tötet. Als die Polizei 11 Menschen nach einer Demonstration in einem der größten Favelas Rios töteten, sah die Präsidentin nur zu und unternahm nichts dagegen. Die Polizei in Brasilien ist militärisch organisiert, wird immer stärker aufgerüstet und immer gewalttätiger. Obwohl es die selbe Polizei ist, die die Präsidentin folterte wird nichts gegen sie unternommen.

Oder wirkt sich dies eher Gegenteilig aus, indem es die Proteste für rechte Gruppen und Personen interessant macht, die so ihre Agitation gegen die „linke“ Regierung popularisieren könnten. So scheint es, wenn man Bilder der Proteste beobachtet, immer wieder zu einem positiven Bezug auf die brasilianische Nation zu kommen, indem Flaggen geschwenkt werden oder gegen die Korrupte Regierung geschimpft wird. Wie groß ist also der Einfluss reaktionären Gedankenguts, wie Nationalismus aber auch Sexismus und Rassismus, in den Protesten?

Von dem Moment an, an dem sich die Mittelschicht an den Demonstrationen beteiligte, nahmen rechte und extrem rechte Gruppen daran teil. Auf Demonstrationen gingen die Rechten gewalttätig gegen linke Parteien vor. In der brasilianische Bevölkerung gibt es mittlerweile eine starke Aversion gegen den Versuch von linken wie rechten Parteien die Proteste zu instrumentalisieren. Besonders in Sao Paulo hat sich die Lage zugespitzt, da dort die Rechte sehr gut organisiert ist. Sie treten zum Beispiel für eine neue Militärdiktatur ein und fordern, dass das Erwachsenenstrafrecht auch auf Minderjährige ausgedehnt wird. In Rio waren die Rechten ebenfalls präsent, allerdings nicht so stark wie in Sao Paulo. Sie besitzen hier kaum Mobilisierungskraft. Nun jedoch beteiligen sich weder die Mittelschicht noch die Rechten an den Riots. An den aktuellen Unruhen beteiligen sich aber weder die Mittelklasse noch die Rechten, sie werden von linken sozialen Bewegungen und den Armen getragen.

Natürlich sind solche Proteste nie Einheitlich und immer ein Komplex unterschiedlichster Interessen, könntet ihr dennoch versuchen herauszuarbeiten, welche Inhalte und Forderungen dominieren? Und gibt es starke Unterschiede bei den Zielen der Protestierenden abhängig von ihrer sozialen Zugehörigkeit?

Die Proteste hatten zuerst ein klares Ziel, die Verhinderung der Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr. In der zweiten Phase, als andere Gruppen, wie die Mittelschicht und Organisationen aus den Favelas, zu den Protesten stießen differenzierten sich auch die Forderungen aus. Es kamen eher abstrakte Forderungen auf, wie die nach dem Ende der Korruption, aber auch realpolitische wie die Entmilitarisierung der Polizei. Die jeweiligen Forderungen konnten klar bestimmten sozialen Schichten zugeordnet werden. Während die Mittelschicht gegen Korruption demonstrierte, forderten die Armen günstigere Fahrpreise und die Abschaffung der Militärpolizei. Die Rechten konnten sich zu keinem Zeitpunkt mit ihren Forderungen durchsetzen. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Forderungen der Mittelschicht gemäßigter waren, während jene der unteren Schichten radikaler waren.