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Die PKK, Rojava und der Islamische Staat

27. Januar 2018

Aktuell bedroht die mit deutschen Waffen unterstützte Militäroperation der Türkei die kurdischen Gebiete um Afrin. Nicht mehr der IS stellt demnach eine existenzielle Gefahr für die dort lebenden Kurdinnen und Kurden dar, sondern die türkische Armee, die unterstützt wird durch eigene und syrische islamofaschistische Kämpfer. Seit 2014 gehört der Kanton Afrin der „Demokratischen Föderation Nordsyrien“ an, die von der Partei der Demokratischen Union (PYD) ausgerufen und gegründet wurde. Sogenannte Volksverteidigungseinheiten der YPG/YPJ kontrollieren die Region und sind eng verschwistert mit der türkischen PKK. Waren diese in Syrien beheimateten Verbände im Kampf gegen den IS verbündet mit den USA, so scheinen diese in der nächsten Runde des „großen Spiels“ um Vorherrschaft und Dominanz nicht mehr gebraucht zu werden.

Möglicherweise haben die kurdischen Verbände als Bodentruppen im Kampf gegen den IS für die USA ausgedient. Auch Russland hat wie die Türkei kein Interesse an einem veränderten Status Quo, ist doch die Sicherheit und der Erhalt der syrischen Territorialität erklärtes Ziel ihres militärischen Eintretens in der Region. Das kurdische Projekt einer territorialen Konsolidierung, sei sie national oder konföderativ, hat also wenig Fürsprecher bei den großen imperialen und imperialistischen Akteuren, obwohl die PYD und ihre Verbände eine taktische Anlehnung besonders an die USA vornahmen. Gleichzeitig wird durch die aktuelle Entwicklung ein Projekt angegriffen, dass in seiner Selbstdarstellung emanzipatorische Absichten verfolgt: Frauenemanzipation, föderative Demokratie, gar von Räten und libertären Strukturen ist die Rede, wenn es um die „Demokratische Föderation Nordsyrien“ geht.

Im folgenden publizieren wir einen Text, den ein Freund der klassenlosen Gesellschaft in Auseinandersetzung mit linkskommunistischen Kritiken an der PKK geschrieben hat. Unabhängig von der Einschätzung der kurdischen Selbstverwaltungsversuche, muss sich eine radikale Linke im Rüstungsexportland Deutschland die Frage stellen, was Antimilitarismus und Solidarität unter aktuellen Bedingungen heißen kann.

Ein Freund der klassenlosen Gesellschaft

 

Die PKK, Rojava und der Islamische Staat

Eine kritische Perspektive - Rezensionsessay

Viele nationale Befreiungsbewegungen, die sich vormals marxistisch-leninistisch positionierten, haben sich im Zuge des langanhaltenden Kampfes gegen „Fremdherrschaft“ zu autoritär regierenden Staatsparteien transformiert, nicht wenige beuten nun in Zusammenarbeit mit dem globalen Kapital die eigene Arbeiterklasse aus, deren Befreiung man einst propagiert hatte. Einige haben sich einer Parlamentarisierung unterzogen, andere wurden blutig geschlagen oder sind schlicht verschwunden.

Von den Bolschewiki über die Maoisten in China bis zur neueren antikolonialen Geschichte in Vietnam oder Algerien: Die Ansätze der Selbstorganisation, eigenständige Bauernbewegungen oder Arbeiterräte wurden einer „nachholenden Entwicklung“ und Staatenbildung geopfert, auch wenn die Strategie breiter Bündnisse und flexibler Koalitionen als notwendiger Kampf gegen die Konterrevolution oder zur Sicherung von Territorium und politischer Macht ausgegeben wurde. Dies und den klassenübergreifenden Charakter des Antiimperialismus, der die Arbeiterklasse in ein Bündnis nicht nur mit den Bauern, sondern auch mit „unterdrückten Völkern“ führen wollte, kritisierten bereits recht früh Vertreter des Rätekommunismus. Bereits Rosa Luxemburg kritisierte die Parole des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“, das die Bolschewiki ausgaben. Für die Rätekommunisten war das nationale Bündnis von Arbeitern, Bauern und „unterdrückten Völkern“ ein Beweis für den durchweg bürgerlichen Charakter der russischen Revolution. In dieser Traditionslinie stehen die nicht unbedeutenden Schriften zur Kritik der Vietcong-Begeisterung der globalen Neuen Linken von Bob Potter und ein Text der Situationistischen Internationale.1

Dennoch, so betont die marxistische Arbeitssoziologin Beverly Silver, konnten aufgrund des starken nationalen Befreiungskampfes Chinas Textilarbeiterinnen die nationale Bewegung genauso für die Umsetzung eigener Arbeiterziele nutzen wie die schwarzen Automobilarbeiter in Südafrika.2

Hintergrund dieses Antiimperialismus in seiner Epoche war der Aufstand der „Kolonialvölker“, der schließlich in der Entkolonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg mündete. In ihnen artikulierten sich starke Arbeiter- und Bauernkämpfe in sprachlich, kulturell, politisch oder wirtschaftlich abgehängten oder ausgebeuteten Regionen. Sie hatten schließlich der Kalten-Kriegs-Ordnung Rechnung zu tragen mit der Aussicht von der Sowjetunion oder dem noch sozialistischen China unterstützt zu werden.

Eine klassische, mittels Guerillakampf operierende nationale Befreiungsbewegung ist nach wie vor aktiv, hat aber eine erklärungsbedürftige Wandlung durchlaufen: die Rede ist von der PKK, der Arbeiterpartei Kurdistans. Nach der 1999 erfolgten Gefangennahme ihres Führers Öcalan, der eine Kult-, Führer- und Mythos-Figur gleichermaßen darstellt, streifte die Partei zumindest offiziell ihre stalinistische Vergangenheit ab. Die Gefängnisschriften Öcalans verneigen sich vor der anarchistischen Tradition und scheinen viel dem Ökoanarchismus der US-Amerikaner Murray Bookchin und Janet Biehl zu entlehnen. Vom Projekt der nationalen Befreiung und der Staatlichkeit habe man sich verabschiedet, stattdessen, so die Proklamationen, verfolge man einen „demokratischen Konföderalismus“ und den Aufbau basisdemokratischer Strukturen. Einen brauchbaren Überblick über die Veränderungen der PKK auf der Ebene ihrer Proklamationen und Erklärungen liefert die linke Journalistin Meredith Tax. In ihrem Buch wird auch nicht mit drastischen Darstellungen gespart, die zeigen, wie sehr die PKK besonders in den 80ern einer stalinistischen Logik der Liquidierung von Abweichlern gehorchte. Leider kann dieses informative Buch die Gründe, Motive und die Glaubwürdigkeit eines Übergangs zu libertären Ideen innerhalb der PKK nicht plausibel nachzeichnen.3

Die Proklamationen und Verlautbarungen der „neuen“ PKK und ihres syrischen Ablegers erteilen dem Konzept der nationalen Befreiung eine Absage.

Das Wirken der PKK strahlt bis in den Norden Syriens aus, wo inmitten des Syrischen Krieges ab 2011 eine Selbstverwaltungsstruktur ausgebaut wurde, in der der syrische Ableger der in Türkei-Kurdistan beheimateten PKK, die PYD, die führende Rolle übernommen hat. Die Gebiete dort heißen Rojava und genossen 2014 recht viel Medienaufmerksamkeit, als sie kurz davor standen, von den Dschihadisten des Islamischen Staates (IS) überrollt zu werden. Kämpfer und Kämpferinnen der PYD stellten sich dem Ansturm entgegen und es gelang ihnen auch Jesidinnen und Jesiden, Angehörige einer dort angesiedelten Religionsgemeinschaft, vor der Vernichtung oder Versklavung durch den IS zu retten. Doch nicht allein diese Rettungs- und Selbstverteidigungsaktionen fanden bei der westlichen radikalen Linken begeisterte Aufnahme: Die Proklamationen und Verlautbarungen der „neuen“ PKK und ihres syrischen Ablegers erteilen den Schriften Öcalan folgend dem Konzept der nationalen Befreiung eine Absage. Sie wollen Autonomiestatus, nicht Eigenstaatlichkeit, geben sich multiethnisch und multireligiös. Vielen linken Beobachtern macht ihre Existenz in düsteren Zeiten Hoffnung, vergleichbar mit dem Auftauchen der Zapatistas, die den Neoliberalismus ohne Rückgriff auf ML-Diktion attackierten. Seit 1994 haben diese sich im Bundesstaat Chiapas in Mexiko ebenfalls der territorialen Autonomie verschrieben.4 Die kurdischen Kräfte erscheinen als „EZLN des Mittleren Ostens“, wie das linksradikale Kollektiv Il Lato Cattivo schreibt. Von ihm stammt ein Text von insgesamt dreien zu Rojava aus dem linksradikalen Milieu der Kommunisierer, die von dem Wiener Verlag Bahoe Books veröffentlicht wurde. Dieser Verlag brachte auch einen Essay heraus, in dem sich ein weiterer Autor aus dieser linkskommunistischen Szene mit dem Islamischen Staat auseinander setzt, worauf noch später eingegangen wird.

PKK in der Kritik von linkskommunistischen GenossInnen

Der Rückgriff auf Murray Bookchins ökologisch, feministisch und lokal ausgerichteten Anarchismus durch die PKK ist für das linksradikale Kollektiv Il Lato Cattivo taktischer Art, weil die Guerilla mit ihrer Partei eine schwere Niederlage im Kampf um nationale Befreiung erlitten habe. Von der Idee der leninistischen Kaderpartei musste demnach abgerückt werden, um überhaupt wieder erfolgreich operieren zu können.

Das habe mit den materiellen Veränderungen in den 30 letzten Jahren zu tun: Zu Beginn der 80er Jahre formierte sich die PKK aus jungen Studenten, Intellektuellen der städtischen Mittelklasse, Hauptunterstützer ab Mitte der 80er waren die armen Bauern und die PKK hatte damit einen vorwiegend ländlichen Charakter. Il Lato Cattivo führt die Entstehung der PKK auf das Jahr 1979 zurück, in dem ihres Erachtens zwei doch recht unterschiedlich zu bewertende Ereignisse das Ende des ML-Entwicklungs-Antiimperialismus angedeutet haben sollen: der Bankrott des arabischen Sozialismus durch die Anerkennung Israels durch Sadat und die iranische Revolution, die ausgehend von Fabriken, Quartieren und Märkten in einer Mullahherrschaft terminierte: „In dieser finsteren Landschaft, in welcher die Kohärenz einer anti-imperialistischen Front, welche bis dahin noch eine gewisse Einheit vorgeben konnte, schmolz wie Schnee an der Sonne (vollständig zu Gunsten des politischen Islams), entwickelte sich die kurdische Frage innerhalb der Konflikte jener Staaten, welche sich das kurdische Gebiet teilten; von Spannungen zwischen der Türkei und Syrien bis zum iranisch-irakischen Krieg.“ Die PKK breitete sich so in von Armut geprägten und gehaltenen Zonen aus. So liegt der Armutsanteil in der Bevölkerung des Südostens zwischen 85 und 90% und die Arbeitslosenrate ist laut Il Lato Cattivo mit 18 % viel höher als im Rest der Türkei. Die PKK habe zwischenzeitlich versucht, sich der Europäischen Union anzudienen, doch Öcalans in diese Richtung gehende Avancen lange vor seiner Verhaftung wurde eine Absage erteilt. Ab 2000 seien verschiedene Faktoren wirksam geworden: die allgemeine Tendenz zur Entnationalisierung des Staates, wie das Kollektiv unter Bezugnahme auf die linke Politologin Saskia Sassen formuliert, das definitive Ende der Blockbildung und der Notwendigkeit flexibler Bündnisse, ein angebliches Verschwinden und Anachronistisch-Werden eines „Nationalismus von unten“5, das Scheitern der Guerilla-Strategie und nicht zuletzt die gesellschaftlichen Veränderungen im historischen Kurdistan in den letzten 25 Jahren. Kurdische Proteste spielten sich mittlerweile in einer weitgehend urbanisierten Zone ab. Das italienische Kollektiv zitiert Hamit Bozarslans Studie zum Kurdenkonflikt von 2009: „Popsänger oder Ingenieure, Restaurantbesitzer oder unqualifizierte Arbeiter pflegen nach wie vor eine pro-kurdische Loyalität, die Kontrolle einer politischen Organisation über ihr alltägliches Leben akzeptieren sie jedoch nicht mehr.“ Il Lato Cattivo bilanziert, dass die „libertäre Wende“ der PKK eine Antwort auf spezifische Probleme sei, nämlich: „(1) ein Problem der 'historischen Legitimität', verbunden mit dem Niedergang traditioneller marxistisch-leninistischer Guerillas oder Modelle für die Dritte Welt; (2) eine Frage der 'ideologischen Rechtfertigung' in Anbetracht einer eindeutigen historischen Niederlage; (3) eine Frage der 'kulturellen Anpassung' an einen neuen gesellschaftlichen Kontext.“ Deshalb versuche die PKK nun an die Bewegung gegen die Globalisierung anzuschließen. Dabei sei sie keineswegs von alten Zielen abgerückt, sondern sie tendiere „eher zum Aufbau von proto-staatlichen Strukturen (…) welche, unter besonderen Umständen, künftig die Grundlage eines unabhängigen kurdischen Staates sein könnten.“

Dieser Übergangssituation, so legt das italienische Kollektiv nahe, trägt einfach nur den Namen „demokratischer Konföderalismus“. Demnach würde ein (neo-)anarchistischer Begriff das besorgen, was lange Zeit die ML-Ideologie versuchte: zu kaschieren, dass es schlicht um Staatsbildungsprozesse und nachholende Modernisierung ginge.

Musste sich der historische ML-Befreiungsnationalismus hauptsächlich gegen Interventionen der USA behaupten, könne die aktuelle Strategie nun im Gleichklang mit deren Interessen handeln. Die kurdischen Akteure folgen selbst tatsächlich keiner fundamentalen Kritik des US-Imperialismus, die im Zentrum des alten Antiimperialismus seit dem Vietnamkrieg stand, sie akzeptierten sogar die Bombardierungen von Stellungen des IS durch US-Bomber. Wenn alte Staatslinke also wieder „Antiimperialismus“ stark machen, und eine „Hauptfeind USA“-Linie ausgeben wollen, müssten sie sich Rechenschaft ablegen, wo denn die Subjekte ihres „Antiimperialismus“ stehen und was diese artikulieren; die PKK haben sie nicht auf ihrer Seite. Vielmehr drohe dem kurdischen Autonomie- oder Staatsprojekt künftig in eine starke Abhängigkeit zu den USA zu geraten. Die irakisch-kurdische DPK unter Masud Barzani bewegte sich bereits recht früh, wie Il Lato Cattivo schreibt, „in einem pro-amerikanischen Dunstkreis“, sorgte für einige Krisen der nominell marxistischen PKK, weil „nicht wenige hoff(t)en, dass ein solches Bündnis schließlich mit diplomatischen Mitteln erreicht, was die PKK durch Guerillakampf und 'Marxismus' nie erlangen konnte.“ Zur Untermauerung einer US-amerikanischen Option, einen Kurdenstaat Wirklichkeit werden zu lassen, schließen Il Lato Cattivo ihren Text mit einem Anhang aus dem Armed Forces Journal von 2006, in dem ein Leutnant namens Ralph Peters die Weigerung der „Demokratien dieser Welt“ sich für die kurdische Unabhängigkeit auszusprechen als „Menschenrechtssünde“ bezeichnet und erklärt: „Ein freies Kurdistan, das von Diyarbakir bis Tabriz reichen würde, wäre der pro-westlichste Staat zwischen Bulgarien und Japan.“

Wenn alte Staatslinke also wieder „Antiimperialismus“ stark machen, und eine „Hauptfeind USA“-Linie ausgeben wollen, müssten sie sich Rechenschaft ablegen, wo denn die Subjekte ihres „Antiimperialismus“ stehen.

In die gleiche Kerbe haut der Linkskommunist Gilles Dauvé, dessen Text „Rojava: Realität und Rhetorik“ ebenfalls in der Textsammlung abgedruckt ist. Er sieht Rojava in großer Abhängigkeit von westlicher Politik: die wahrscheinlichste Option sei, dass Rojava mit westlicher Unterstützung die Festung gegen den IS halten kann. Und polemisch hält er fest: „Im besten Fall (…) gibt es relativ freie Wahlen, wenig Korruption, einen gewissen Respekt für die Menschenrechte, lokale Selbstverwaltung für lokale Angelegenheiten, ein besseres Gesundheitssystem als in Nachbarländern, moderat repressive Polizei, eine progressive Bildung, eine freie Presse (solange sie frei von Gotteslästerung bleibt), einen toleranten Islam und natürlich Geschlechtergleichheit, vielleicht mit einer Vizepräsidentin. Mehr nicht.“

Der Text Dauvés richtet sich in erster Linie an das antiautoritäre, linksradikale Milieu. Anlass ist die aktuell zu beobachtende unkritische Haltung zu den Prozessen in Rojava durch Solidaritätszusammenhänge. Diese wird als Revolutionsromantik kritisiert. Dauvé macht auf die Kriegssituation aufmerksam, vor deren Hintergrund „die Kurden (...) gezwungen sind, ihre eigene Geschichte unter Bedingungen zu machen, welche sie nur im Sog eines internationalisierten Bürgerkrieges beeinflussen können – eine alles andere als ideale Situation für die Emanzipation.“ Dazu gehört, dass der Kampf um Kobané nur mit Hilfe der Luftwaffe der US Army gewonnen werden konnte, als auch, dass die Entwicklung der Bewegung in Rojava nicht zuletzt von geostrategischen Entscheidungen und Interessen der globalen und regionalen Großmächte abhängig sein wird. Auch entstand erst durch den Bürgerkrieg das Machtvakuum und der Zerfall der alten baathistisch-syrischen Ordnung, wobei – hier zitiert Dauvé den Text von Il Lato Cattivo zustimmend – das syrische Regime Rojava und den dort operierenden Kurden eine gewisse Autonomie einräumt. Dauvé stellt die drängende Frage, inwieweit die (Bürger-)Kriegssituation jeden denkbaren sozialrevolutionären Prozess selbst überformt und letzten Endes hemmt.

Zentral für Dauvé ist die Kritik an den euphorischen Berichten von vielen Anarchistinnen und Anarchisten, die prominentesten sind David Graeber und Janet Biehl, die Rojava schon mit der sozialen Revolution in Spanien 1936 vergleichen. Dauvé erinnert daran, dass man nie etwas von Kollektivierungsexperimenten hört und dass selbst aus den vollends begeisterten Reiseberichten hervorgehe, dass Rojava mit seinen Ladenbesitzern, Geschäftsmännern und Marktleuten eine Klassengesellschaft darstellt. Der französische Linkskommunist formuliert die richtigen Fragen an die immer wieder hochgehaltene Basisdemokratie in Rojava: „Was wird debattiert? Entscheiden die Volksräte über unbedeutende oder bedeutende Dingen?“ Merkwürdig ist allerdings, dass Dauvé der Auseinandersetzung mit dem Gesellschaftsvertrag von Rojava einen recht breiten Raum schenkt, und nicht so sehr praktische Politik der Selbstorganisation in Rojava untersucht. „Das ist Rousseau und nicht Bakunin“, schreibt er und weist auf den durchgehend bürgerlichen Rahmen hin. So garantiert der Artikel 41 das Recht auf Eigentum und Privateigentum: „Es gibt keinen Platz für eine Anerkennung des Klassenkampfes in einem Text, der auf nichts anderes als eine demokratische Verfassung hinausläuft.“

Fernab dieser richtigen Bemerkungen zeigt sich Dauvé recht desinteressiert und uninformiert über die realen Prozesse. So polemisiert er gegen den Rojava-unterstützenden Anarchisten David Graeber und kolportiert, dieser erfreue „sich an der Tatsache, dass die Leute in Kurdistan nun womöglich Judith Butler lesen“. Doch wird tatsächlich in Kurdistan Butler gelesen? An anderer Stelle behauptet Dauvé die PKK habe „zweifellos den Marxismus durch den Postmodernismus ersetzt.“ Dass die Frauen- und Emanzipationsfrage eine zentrale Stellung hat, dürfte bekannt sein, gelesen wird jedoch eher Rosa Luxemburg, Emma Goldman und Janet Biehl – definitiv keine postmodernen Autorinnen. Emanzipations- und sexualpolitisch wären an die PKK ganz andere Fragen zu stellen, anstatt sie vor die Kulisse des eher universitären Dekonstruktivismus zu schieben. So verstören sehr viel mehr Berichte über eine bis in die jüngste Zeit ausgeübte repressive Sexualpolitik innerhalb der PKK-Guerilla. In der Öcalan-Ideologie wird nicht nur die Ehe als unterdrückerisch abgelehnt, sondern auch die Sexualität. Daraus folgend werde für das Leben als PKK-KämpferIn sexuelle Enthaltsamkeit gepredigt und das Zölibat zum obersten Gebot erhoben. Die Mitglieder der PKK-Guerilla lebten in scheinbar harmonischer Distanz zum Körperlichen wie christliche Nonnen und Mönche, nur mit M-16 oder AK-47 und Panzerfäusten ausgestattet. Die PKK-Führung wolle damit garantieren, dass die 'Familienehre' nicht aufs Spiel gesetzt wird, wenn junge Frauen der Guerilla beitreten. Damit werde einer patriarchalen Kultur affirmativ Rechnung getragen, es werde sogar die patriarchale Herrschaft über Frauen modernisiert und ein neuer Ehrenkodex konstruiert. Die Frauen verlassen demnach ihre Häuser und patriarchalen Dörfer, unterliegen nun aber einer neuen patriarchalen Kontrolle in der öffentlichen Sphäre. Besucherinnen aus Rojava berichten, dass Bücher, die Sex zwischen Jugendlichen vor der Ehe propagieren, nicht veröffentlicht und gelesen werden dürfen. Die kurdische Guerilla erscheint einigen als neue Familie, die das Sexuelle tabuisiert.6

Diese Beschreibungen stehen in einem Kontrast zu den begeisterten Berichten, wonach sich besonders das Mann-Frau-Verhältnis in einem riesigen Umbruch befindet. Auch Dauvé geht von einem solchen aus: „Die vermutlich am häufigsten festgestellte Veränderung betrifft das Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Gemischte Schulen sind die Norm. Die Frauen bleiben nicht mehr den ganzen Tag zu Hause. Versammlungen weisen eine Frauenbeteiligung von mindestens 40 % auf. Alle Gremien sind weiblich und männlich geleitet. Eine Weltsicht der Frauen wird ermutigt, und sogar ein neues Wissensfeld, die Jinologie ('Wissenschaft der Frauen'). Obwohl der Feminismus in der kurdischen Frauenbewegung schon lange stark war, sind diese Veränderungen im Mittleren Osten beträchtlich, und in gewissen Bereichen scheint die Gleichheit der Geschlechter in Rojava weiter fortgeschritten als in Europa.“

Für Dauvé stellen die kurdischen Frauen mit Gewehren keine Emanzipation an sich dar.

Es ist erstaunlich, dass Dauvé vor dem Hintergrund seines ansonsten kritischen Blicks zu so einer weitreichenden Aussage kommt. Gleichzeitig will Dauvé diese zugestandenen positiven Prozesse nicht der PKK und der PYD zu Gute halten. Wo viele glühende Rojava-Bewunderer angesichts der Bilder bewaffneter Frauen bereits feuchte Augen bekommen, verweist Dauvé in der Tradition des Antimilitarismus darauf, dass der „subversive Charakter einer Bewegung oder Organisation (..) nicht anhand des Anteils bewaffneter Frauen gemessen werden“ kann. Schließlich scheint er der Erzählung nicht zu trauen, wonach ein wirklicher Bruch mit den patriarchalen Geschlechterverhältnissen auch wirklich stattfindet. Er vergleicht Rojava mit den frühen zionistischen Gemeinschaften in Palästina, wo die Frauen ihren Anteil an den landwirtschaftlichen und militärischen Tätigkeiten hatten, sie also „von ihren 'weiblichen' Pflichten befreit“ wurden, und deswegen auch die Kinder kollektiv erzogen werden sollten. Für eine andere Form der Kindererziehung jenseits klassischer Rollenverteilung gebe es keine Anzeichen in Rojava. Für Dauvé stellen die kurdischen Frauen mit Gewehren bei der PKK-PYD keine Emanzipation an sich dar, sondern er führt dies lediglich auf den „maoistischen Ursprung der Partei“ zurück.

Während auf der einen Seite Dauvé die PKK als „wahre Profis“ kennzeichnet, von sich selbst ein positives Bild zu zeigen, welches die Außenstehenden sehen wollen, und den Kader der PKK zutraut, Streiks und Proteste ebenso wie „Landeigentümer oder Chefs (zu) unterstützen“, weil diese in der Region einflussreich sind, um ihre Machtbasis zu vergrößern, relativiert er auf der anderen Seite immer wieder seine Fundamentalkritik: Die Selbstverteidigung ist nicht kritisierbar. Wenn die Leute sich um ihre Angelegenheiten kümmern, um zu überleben, eröffne sich die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Veränderung und „Selbstorganisation verbessert tatsächlich das alltägliche Leben einer zuvor vernachlässigten und unterdrückten Bevölkerung“. Gegen Ende weiß er von „echten Bemühungen kurdischer Proletarier“ zu berichten, „die Angelegenheiten in eigne Hände zu nehmen.“ Doch dieses proletarisch-selbsttätige Subjekt ohne PKK/PYD-Anbindung scheint mehr eine Behauptung des Autors zu sein als der Wirklichkeit Rojavas zu entspringen. Die jungen Proletarier und Surplus-Proletarier auf den Barrikaden in Türkisch-Kurdistan führen alltägliche Kämpfe und organisieren ihre Leben selbst, sind aber bei weitem nicht getrennt von der PKK oder gefeit vor einem Mythos Öcalan, zuweilen werden ihre Kämpfe sogar von diesen Mythen befeuert.7

Dieses Festhalten an einer „kurdischen Identität“ markiert sicherlich eine große Grenze einer möglichen Ausweitung der Kämpfe. Und auch der Kult um „Apo“ Öcalan verträgt sich nicht mit dem antiautoritären Impetus des Anarchismus, dem die PKK angeblich nun folgen würde. Dies wird auch von anderen Kritikern betont wie den Anarchisten und libertären Marxisten Zafer Onat oder Shiar Neyo.8 Dauvés Skepsis ist also mehr als angebracht, sie bleibt auch ohne die Konstruktion eines reinen proletarischen Subjekts bestehen. Doch Dauvés Widersprüchlichkeiten machen auf die Schwierigkeiten von empirielosen Ferndiagnosen aufmerksam: ist manch einem glühenden Rojava-Unterstützer die ferne Region Projektionsfläche eigener Revolutionssehnsüchte, so ist für Dauvé diese unbekannte Region Illustrationsobjekt linkskommunistischer Kritik. Darüber hinaus machen die aufgezeigten Widersprüchlichkeiten auch auf die Problematik eines bestimmten Kritikmusters aufmerksam: Dauvé steht schließlich mit seiner Kritik der Rojava-Euphorie in der Marx-Engelschen Tradition der Polemik gegen die Mythen und Mythenmacher im eigenen Lager. Ihn wäre mit Karl Korsch zu fragen, ob Mythenbildung auch dann zu verabschieden ist, wenn sie Aktivismus und Handlungsfähigkeit der Arbeiterklasse hervorruft. In Bezug auf die Rojava-Solidaritätsszene: Motiviert der „Mythos Rojava“ zu einem Austausch und einer globalen Zirkulation von Kampferfahrungen? Und wenn dies so ist, was wäre an dieser Praxis kritikabel? Die Praxis, nicht die Proklamation und die Gedankenwelten der Akteure sollten schließlich im Mittelpunkt stehen.

Das Festhalten an einer „kurdischen Identität“ markiert eine große Grenze einer möglichen Ausweitung der Kämpfe.

Auf der anderen Seite vertritt Dauvé einen unhistorischen Maximalismus, den Marx und Engels (besonders in Restaurationsperioden) radikal angegriffen und abgelehnt hätten. Bekanntermaßen haben die beiden ja zuerst die utopischen Erzählungen von einem irgendwo oder irgendwann existierenden Paradies und die (Handwerker-)proletarischen Mythen von einer Hier und Jetzt erreichbaren neuen Gemeinschaft zerstört, um sich dann in pro-bürgerliche Bündniskonstellationen zu begeben. Nicht soziale Revolution, sondern Auflösung des Feudalismus und Zerschlagung der Reaktion stünden zuerst an. Einiges spräche also dafür, dass Marx und Engels etwaige bürgerlich-emanzipatorischen Prozesse in Rojava (wenn es denn solche sind), gar nicht so negativ beäugen würden.

Im Vergleich zu Dauvés Ferndiagnose kommen verschiedene Reiseberichte, selbst von Beobachterinnen, die sich über Täuschungsmöglichkeiten und die linkssolidarische Lust daran, getäuscht zu werden, kritisch Rechenschaft ablegen, zu wohlwollenderen Einschätzungen der Prozesse in Syrisch-Kurdistan. So reflektiert auch eine mit der Selbstverwaltung in Rojava sympathisierende Journalistin wie Meredith Tax auf die vielfältigen Täuschungen, denen linke ausländische Beobachter seit den ersten Besuchen der Sowjetunion über die Mao-Begeisterung bis zu Kambodscha und Nicaragua erlagen: Sie verweist auf kritische Stimmen: „Rojava sei ein einziges großes Potemkinsches Dorf. Sie erinnern die Welt, dass naive Besucher*innen schon in der Vergangenheit gerne vorschnell Revolutionen bejubelt haben und dass Revolutionstourismus mindestens so alt ist wie John Reed - dumme überprivilegierte Amerikaner*innen, die völlig verrückt sind, dass das Arbeiterparadies in Russland oder Albanien, China oder Vietnam, Nicaragua oder Peru, Indien, Nepal, Tansania oder Zimbabwe endlich Wirklichkeit geworden ist“ Trotz dieser Kritik an Revolutionstourismus und dem systematischen Ausschluss von Zweifeln, stimmt sie David Graeber zu, wonach es in Rojava eine „echte Revolution“ gäbe.9 Der konkreten Anschauung folgt auch ein kurzer dritter Text aus dem Milieu des Linkskommunismus, von 'Becky', einem Mitglied der linkskommunistischen Zeitschrift SIC; dieser ist nicht nur recht konkret, schließlich entstand er auch nach einer Reise in das Gebiet Ende 2014 – sondern sympathisiert auch deutlicher mit den Prozessen in Rojava. Trotz vieler Kritikpunkte hält sie fest, dass „das alltägliche Leben sich am meisten für die Frauen verändert hat“, die ihre eigenen Bildungsstrukturen und lokalen Räte aufgebaut haben. Sie legt auch nahe, dass die libertäre Wende Öcalans nicht unbedingt parteitaktischer Art sei, sondern „auf einen Aufenthalt in dieser Region folgte“, womöglich also Verlangen und Praxis der Leute aus Rojava und dort bereits länger vorhandene und tradierte kollektiv-basisdemokratischen Strukturen widerspiegelt. Die Veränderung in Rojava basiere zwar „auf einer radikalen kurdischen Identität und auf einem beträchtlichen Anteil der Mittelklasse, welche, trotz ihrer radikalen Rhetorik, immer ein gewisses Interesse an der Kontinuität von Kapital und Staat haben“, folglich handele es sich nicht um „Kommunisierung“ in Rojava. „Doch es ist eine wirkliche Bewegung gegen die staatliche Plünderung und den staatlichen Zwang“, die Kämpfe in Rojava markierten die Grenzen der Kämpfe überall, wo das Verhältnis zwischen Arbeitskraft und Kapital zu einer Angelegenheit der Repression geworden ist (…) Es ist ein weiterer Kampf, der weit entfernt von den Hochburgen der Reproduktion des Kapitals stattfindet.“ Und die Autorin und Aktivistin endet mit einigen Fragen: „Was interessant sein wird in Rojava, gegenwärtig weitgehend abgeschnitten von der Macht des globalen Kapitals, sind die kommenden Kämpfe in Verbindung mit Ausbeutungsverhältnissen – (z.B.) Landverteilung (…) Welche Veränderungen der Eigentums- und Produktionsverhältnisse werden die Frauen fordern, wenn sie aus ihrem Einsatz in den Milizen zurückkommen?“

Hier deutet sich eine Sichtweise an, die stärker auf den Prozesscharakter und die Dynamik der Ausgestaltung sozialer Verhältnisse abstellt als diejenige von Dauvé, für den Rojava im Kern ein bürgerliches Staatsprojekt darstellt. Und die Fragen von Becky dürften auch nicht die Fragen von Il Lato Cattivo sein, die am Ende ihres Textes behaupten, dass man in Hinblick auf die Revolution sich ohnehin für die jetzigen Prozesse und Kämpfe kaum zu interessieren habe, weil „keine organisatorische Kontinuität zwischen gegenwärtigen Kämpfen und der Revolution (…) vorstellbar (ist), aus dem einfachen Grund, dass das zu organisierende Subjekt nicht gleich sein wird.“ Das ist entweder eine Binsenweisheit (auch die revolutionären Matrosen von 1917 waren mental, affektiv und praktisch nicht die gleichen, wie die wenige Jahre davor rebellierenden Arbeiter und Bauern, auch wenn es die selben waren) oder Münchhausen-Kommunismus. Zu befürchten ist letzteres.

Der Pro-Feminismus der kurdischen Frauenguerilla YPG ist ein Unterschied ums Ganze.

Es mag schon stimmen, dass die linke und anarchistische Solidarität mit Rojava, die im Zentrum aller drei Kritiken steht, sich darstellt als eine Politik der Bekämpfung des größeren Übels und dass dieser „Internationalismus des kleiner Übels“ einer Logik des „banalen Anti-IS-Frontismus“ gehorcht (Il Lato Cattivo). Auch die voll begeisterten Beobachter der Prozesse von Rojava stellten immer den notwendigen und existenziellen Kampf gegen die Barbarei des IS in den Mittelpunkt. Phantasieren sie wirklich wie David Graeber Ähnlichkeiten zu Spanien 1936 herbei, trifft sie die vollkommen richtige Kritik Dauvés. Dass keine fundamentalen Impulse zur klassenlosen Gesellschaft oder zur Aufhebung des Eigentums von den kurdischen Provinzen ausgehen, ist den meisten sympathisierenden Beobachtern jedoch klar und sie weisen auch darauf hin, betonen allerdings nicht nur die in der Verfassung festgehaltene Struktur der basisdemokratischen Entscheidungsfindung (die in der Realität, vor allem vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs, anders aussehen mag), sondern auch die konkreten Errungenschaften und Lernprozesse.

Wer wie Gilles Dauvé lediglich das große Ganze, also den Kapitalismus in Rojava nicht bekämpft sieht, um sich dann desinteressiert abzuwenden, legt sich nicht Rechenschaft darüber ab, in welcher welthistorischen Situation wir uns befinden.

Angesichts der brutalen patriarchalen Herrschaft, die vom Islamischen Staat ausgeht, ist der Pro-Feminismus der kurdischen Frauenguerilla YPG, der Frauen größere Handlungs- und Spielräume offeriert, ein Unterschied ums Ganze. Denn dass die Selbstverwaltungsgebiete vor allem im Vergleich zu ihrer Umgebung einen Fortschritt darstellen, wird deutlich, blickt man genauer auf den Antipoden des kurdisch-syrischen Kampfes von 2014 bis 2016.

Der IS in der Darstellung eines linkskommunistischen Genossen

Der Islamische Staat könnte als der düstere Wiedergänger des alten Antiimperialismus und Panarabismus erscheinen, schließlich tritt er antikolonial auf: Für Il Lato Cattivo stellt der IS als „entnationalisierte(r) Staat“ eine wankende Größe im Nahen Osten dar. „Vom ideologischen Standpunkt aus wird die Restauration des Kalifats und die Wiedereroberung Jerusalems als glaubwürdige Antwort präsentiert, als ein in jeder Hinsicht würdiger Nachfolger der 'arabischen Nation' als gesellschaftlicher und geopolitischer Akteur.“ So will der IS gleich die gesamte territoriale Nationalstaatlichkeit, wie sie nach dem Ende des ersten Weltkriegs durch die Kolonial- und Mandatsmächte festgelegt wurde, zu Gunsten eines glorreichen Kalifats zerschlagen. Nicht ohne Grund sprengten die Kämpfer des IS 2014 einen vermeintlich bedeutungslosen Kontrollposten in der Wüste und führten in einem Video den Sinn des ganzen Unterfangensaus: „Die Grenze zwischen Syrien und Irak hat keinen Bestand mehr. Das islamische Reich wird die Grenzen von Sykes-Picot zerstören“, womit die 1916 durch den britische Unterhausabgeordneten Mark Sykes und den französische Diplomaten François Georges-Picot am Verhandlungstisch gezogene Grenzlinie gemeint war, mit der Frankreich und England die arabischen Provinzen des zerfallenden Osmanischen Reichs untereinander aufteilten. Doch während die Eliten des antiimperialistischen Kampfes ab den 50ern oftmals vom Westen geprägte Intellektuelle waren, die einen ambivalenten Blick auf den kapitalistischen Fortschritt der modernen Welt geworfen hatten, so vertritt der IS in seiner Verwerfung aller mit dem „Westen“ verbundener Phänomene (Säkularisierung, Religionskritik, Frauenemanzipation) einen extremen antiwestlichen Kurs mit einer Mischung aus identitärer Gewaltaffirmation, religiösem Wahn und Nihilismus.10 Während das Entwicklungsparadigma des klassischen nationalen Befreiungsbewegungen Alphabetisierung, Landreform und Umverteilung zugunsten der Arbeiter- und Bauernklasse vorsah, spitzt der Islamische Staat den räuberischen Zugriff auf Ressourcen und Menschen zu und legitimiert seine eigenen imperialen Ansprüche religiös als Kalifatsherrschaft. In seinem anti-westlichen Furor und seiner partikularen Kritik an dominierenden Staaten erinnert er so auch eher an die gegen Frankreich, England und die USA gerichtete „antiplutokratische“ Politik nationalistisch-rechter Kreise der Zwischenkriegszeit, die ebenfalls ein eigenes imperiales Projekt gegen die vorherrschende Dominanz etablierter Mächte durchsetzen wollte, als an den links kodierten Befreiungsnationalismus vergangener Zeiten. Auch die Feindbestimmungen, die gegen „den dekadenten Westen“ und die „Kreuzfahrernationen und Juden“ gerichtet sind, ähneln faschistischer und nationalsozialistischer Ideologie.

Doch wie funktioniert der Islamische Staat? Wie ist seine politische Ökonomie beschaffen? Kann er Staatsbürgerbewußtsein und Loyalitäten hervorbringen?

Tristan Leoni versucht in seinem Pamphlet „Kalifat und Barbarei. Wie funktioniert der Islamische Staat?“ darzustellen, wie die Kalifatswirtschaft funktioniert. Ökonomisch bedient sich der IS teilweise archaischer Mittel (Sklaverei, Entführungen), teilweise zieht er Profit aus der vergleichsweise modernen Öl-Produktion und weiß auch in den von (Bürger)kriegen und sozialen wie wirtschaftlichen Krisen gebeutelten Ländern des Nahen Ostens eine soziale Infrastruktur zu errichten, um die unterworfene Bevölkerung zumindest nicht gegen sich aufzuwiegeln. Leoni bezieht sich mehrfach auf das fragwürdige Buch von Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus von 2005 um in einer Analogiebildung zu zeigen, dass der IS-Staat ebenso wie der NS-Staat mit Terror, Vernichtung und 'Bestechung' und sozialer Besserstellung der deutschen 'Volksgenossen' Stabilität und Loyalität erreichen würde und könnte.

Im Zentrum der Ökonomie befindet sich das Erdöl.

Neben einem System von Abgaben, Strafen für Regelverstöße (Alkohol und Zigaretten) und einem einfachen Steuerwesen gibt es private Spenden aus den Golfstaaten. Dazu gesellen sich kriminelle Ressourcen wie der Rückkauf von Geiseln und Sklaven. Doch: „Die Vorliebe der Jihadisten für Sklaven bringt sie trotzdem nicht dazu, eine 'auf der Sklaverei basierende Produktionsweise' (wieder)aufzubauen, und die Lohnarbeit herrscht in Mosul genauso wie in Mailand.“ Wenn die Gerüchte stimmen, dass auf Schwarzmärkten der IS auch mit Zigaretten und Drogen handelt, so wäre dies ein eklatanter Verstoß gegen die genussfeindlich-religiöse Ideologie.

Der IS hat sich mit einer Staatsbank und einer offiziellen Währung ausgestattet – Geldstücke aus Geld, Silber und Kupfer. Der IS kontrolliert auf seinem Territorium mehrere Dutzend Finanzinstitute, von denen einige eine Zeit lang ganz normal ihre Transaktionen abwickelten.

Bis zu 20 % stammen die Einnahmen des IS aus der Landwirtschaft der fruchtbaren Tigris- und Euphrattäler, irakische syrische Getreidefelder wurden zwischenzeitlich okkupiert. Ein Fünftel der T-Shirts Made in Turkey sollen unter dem Kalifat produziert worden sein. Einige Getreidefelder wurden brach liegen gelassen und doch ist die Kontrolle über Getreide wichtig, „denn sie erlaubt dem Regime, den Preis des Mehls und somit des Brotes als Grundlage der Ernährung festzulegen“.

Im Zentrum der Ökonomie befindet sich jedoch das Erdöl, über das der IS zwischenzeitlich verfügen konnte:

„Der IS kontrolliert 60% des syrischen und 10-15% des irakischen Öls.“ Wobei diese Zahlen vor dem Herbst 2017 erhoben wurden. Obwohl das Öl deutlich unter dem Marktpreis verkauft wurde, konnte es 1 Million Dollar pro Tag einbringen. Damit stellte es die Haupteinnahmequelle dar, für die der IS auch kompetentes Personal wie Trader, Techniker, Ingenieure aus Syrien und dem Irak, gut bezahlt, gewinnen konnte. Die Zeit zwischen Sommer 2014 und 2015 kann als kurze Blütezeit des Kalifats mit seiner größten Expansion gelten. Diese Periode sei abgeschlossen und der Prozess gehe – nicht zuletzt wegen der Bombardierungen der Anti-IS-Koalitionen – nun in die andere Richtung, hält Tristan Leoni fest. Im Zentrum seiner Betrachtung steht , dass die zwischenzeitliche Stärke des Kalifats darin bestand, in einer von Krieg, Chaos, ethnizistischer Konkurrenz und Bandenherrschaft geprägten Region autoritäre Stabilität und Ansätze eines „Wohlfahrtsstaates“ ähnlich dem des Volksfürsorge gewährenden Raubstaates der Nazis verwirklicht zu haben. Doch mehr noch: „das Kalifat ist auch mehr als lediglich ein banaler Staat. Er begnügt sich nicht mit Verwaltung, sondern beabsichtigt, die Welt zu verändern, ein neues Zeitalter einzuleiten oder dies vorzubereiten. Ein Zeitalter, in welchem es für den IS natürlich nicht darum ginge, die Lohnarbeit oder die Warengesellschaft abzuschaffen, sondern nur darum, sie nach seiner Weise umzubauen. 'Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, dass sich alles verändert', die Oberfläche, die Sitten, Gebräuche usw. Natürlich, doch heutzutage heißt die Hoffnung für Millionen von Einwohnern des Iraks und Syriens und darüber hinaus Kalifat. Und Zehntausende Jugendliche, besonders viele Proletarier, überqueren den Planeten, um dort zu leben oder zu sterben, und viele andere träumen davon.“

Dass die Zukunft nicht besser sein wird als die Gegenwart, dürfte im Zeitalter des Surplus-Proletariats zu einer Alltagsideologie geworden sein.

Abschließend geht der Autor der „Utopie“ und den negativen Helden Kalifats nach und möchte somit die Faszination erklären, die der IS auf manche Konvertiten oder andere gescheiterte Existenzen der westlichen Gesellschaften ausübt. Dass eine Mehrheit der im Irak und den anderen IS-Gebieten lebenden sunnitischen Araber den IS mehr erträgt als unterstützt, und die Sicherheit und Stabilität trotz Repression und Strafen schätzt, davon geht der Autor aus. Den ausländischen Kämpfern des IS (nicht wenige kommen aus dem Heimatland des Autors, Frankreich) gesteht er ein „tiefes Gefühl der sozialen Ungerechtigkeit“ und ein Bewusstwerden von Machtverhältnissen, aber nicht ihres Klassencharakters zu. „Die Antworten des IS sind nicht nur radikal bezüglich ihrer Stigmatisierung des dekadenten Westens, der korrupten Golfstaaten und des Zionismus, sie stützen sich auch auf eine konkrete Praxis und die Möglichkeit unmittelbarer Lösungen. Das Kalifat präsentiert sich als militärische Festung gegen die Grausamkeiten des Assad-Regimes, als Beistand für die Bevölkerung (soziale Verbesserungen, Spitäler, Waisenhäuser usw.) und als Werkzeug des göttlichen Willens, dem man sich nur anschließen muss, um die Welt zu verändern. Und falls nötig, wird das Flugticket bezahlt.“ Dabei stößt der Kämpfer auf eine „Religion des Bruchs“ mit allen normativen Lockerungen und Liberalisierungserscheinungen, in die man recht rasch konvertieren kann. Er findet ebenso eine neue Gemeinschaft vor, die „antirassistisch“ und multiethnisch strukturiert ist und in der er sich wirklich aufgenommen fühlen kann. Der Populismus des Kalifates besteht darin, Klassenunterschiede zu negieren und sich auf die Seite der Guten gegen die verdorbenen und korrupten Bösen zu schlagen. „Die vom Jihad geborene 'romantische Exotik' unterscheidet sich stark von ihren linken und auf die Dritte Welt bezogenen Präzedenzfällen. Das 21. Jahrhundert fällt zeitlich mit der Entstehung einer ersten Generation zusammen, die glaubt, dass die Zukunft nicht besser sein wird als die Gegenwart, wahrscheinlich eher schlimmer, und dass die Politik daran nichts ändern kann. Wenn sich jegliches kollektives politisches Projekt verflüchtigt, das Träger von Hoffnung ist, ist die Bühne frei für den schwarzen Helden (die Farbe der Piraten, der Anarchisten, der Faschisten und der Jihadisten), den Extremisten, der die Gesellschaft in Angst und Schrecken versetzt, eine absolut hassenswerte Figur. Und somit besonders faszinierend.“ Über diese Vergleiche mag man stolpern, denn selbst die nihilistischsten Anarchistendiebe wie die französische Bonnot-Bande lösten sich nicht derart von humanen Praktiken wie die Kopfabschneider des IS. Die Flagge des IS ist darüber hinaus ein panmuslimisches Signal und beinhaltet außer der Schwärze in arabischen Schriftzeichen die Schahada, also das muslimische Glaubensbekenntnis, wonach es keinen Gott außer Allah gebe und Mohammed der Gesandte Gottes sei. Doch die Frage stellt sich tatsächlich, ob der IS mit seiner kalkuliert exekutierten Praxis eine Faszination des Schreckens ausübt, die Ähnlichkeiten aufweist zu allerhand anderen Gewaltexzessen, die vielleicht bei ähnlich mental und psychisch veranlagten Gewaltclowns jeder möglichen politischen Richtung Anklang finden. Dass die Zukunft nicht besser sein wird als die Gegenwart, dürfte im Zeitalter des Surplus-Proletariats zu einer Alltagsideologie geworden sein.

Die konterrevolutionären Formen konnten sich nicht längerfristig als Staat konsolidieren.

Der Autor schließt: „Als utopisches Projekt zum Aufbau eines Staates auf komplett neuer Grundlage bedeutet der IS weniger eine Radikalisierung als die Islamisierung einer Revolte, als Echo auf eine aktive Konfessionalisierung mehr oder weniger überall, von der konservativen amerikanischen Rechten bis in die französischen Banlieus. Seine Gewalt hat nicht viel mit einem dem Islam eigenen Extremismus zu tun, sondern eher mit der Tatsache, dass sich der religiöse Fanatismus in einem Kontext des Bürgerkrieges und der ausländischen Interventionen entfesselt. Es wäre sehr schade (und schädlich) wenn der soziale Protest in nächster Zeit jene Formen annähme, welche der IS heute skizziert. Hoffen wir, dass das nur ein schlechter Entwurf ist, der im Papierkorb landet. Jede Epoche sondert eine Art der Konterrevolution ab, die ihr eigen ist. In der Regel zerquetscht sie die Revolte der proletarischen Massen und leitet sie um, außer sie drückt die Grenzen der Bewegung selbst aus. Am Anfang dieses 21. Jahrhunderts muss man anerkennen, dass die konterrevolutionären Formen auf dramatische Art und Weise präventiv sind.“

Diese konterrevolutionären Formen konnten sich nicht längerfristig als Staat konsolidieren, Raqqa und Mossul sind für den IS verloren, das Territorium des IS weitgehend zusammengeschrumpft (Stand: Ende 2017). Auch aufgrund des raschen Kollabierens als Staat sind die Behauptungen Leonis, der IS sei lediglich ein Staat unter vielen und übe normale Staatsaufgaben aus, anzuzweifeln. Welchen Erkenntnisgewinn stellt es dar, wenn man den Behemoth des nationalsozialistischen imperialistischen Monopolkapitalismus, das wohlfahrsstaatliche Schweden der 80er und das durch bewaffnete Tugendwächter auf Jeeps zusammengehaltene Territorium einer religiösen Bande unter den Begriff „Staat“ subsumiert? Vor dem Hintergrund fehlender Akkumulationsmöglichkeiten, einem endemischen Surplusproletariat und Staatszerfall ist dem IS noch nicht einmal die Möglichkeit gegeben, die der Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 immerhin 12 Jahre zu nutzen versuchte: Eine Mischung aus expansiver Kriegsökonomie, Modernisierung und Mobilisierung, Terror, Vernichtung, Sklavenarbeit und Umwerbung und Einbindung der 'Eigenen'. Der Export des Terrors wird aktuell bleiben, genauso wie die Abhängigkeit eines (Gegen-)Modells wie Rojava von äußerer Unterstützung durch vorherrschende Mächte. Für einen sozialrevolutionären Ausblick auf der Höhe der Zeit müssten wohl wo ganz anders Schneisen geschlagen werden, um die hemmenden Strukturen und Ideologien in den Peripherien des kapitalistischen Weltsystems wegzufegen.

 

Il Lato Cattivo, Die 'kurdische' Frage. ISIS, USA und vieles mehr

Becky, Ausgehend vom Zwangsmoment – Kanton Cizire, Rojava

Gilles Dauvé, Rojava: Realität und Rhetorik, in: Doc Sportello (Hg.), Rojava. Ist der Aufstand gekommen? Bahoe books Wien 2015

Tristan Leoni, Kalifat und Barbarei. Wie funktioniert der islamische Staat? Bahoe books Wien 2016

  • 1. Group Solidarity: Vietnam Superstar. Sieg für wen? Berlin 1975; online: https://libcom.org/library/vietnam-whose-victory-bob-potter und vor allem: Situationistische Internationale: Zwei lokale Kriege, in: Der Beginn einer Epoche, Texte der Situationisten, Hamburg 1995, S.205-214
  • 2. Beverly Silver, Forces of Labor. Arbeiterbewegung und Globalisierung seit 1870, Hamburg/Berlin 2005, S.120
  • 3. Meredith Tax, Auf einem unwägbaren Weg. Die Frauen im kurdischen Freiheitskampf, Münster 2017.
  • 4. Eine Kritik am „Anti-Neoliberalismus“ der EZLN in der Tradition linksradikaler Antiimperialismus-Kritik verfasste Richard Greeman: Brief an alle Freunde der Zapatisten oder: 'Gefährliche Abkürzungen', auf deutsch in: Wildcat-Zirkular Nr. 40/41 - Dezember 1997, S. 94-104. Er stellte darin die wichtige Frage, „ob unser Gebrauch des 'Anti-Neoliberalismus' als Ersatz für 'Antikapitalismus' zu einer weiteren gefährlichen Abkürzung“ wie derjenige des alten Antiimperialismus führen kann.
  • 5. Dies könnte man anzweifeln oder müsste es zumindest politisch und lokal eingrenzen, schließlich findet gerade in den alten Zentren des kapitalistischen Weltsystems eine Wiederkehr des Nationalismus von unten statt, in Referenz zu Standort-nationalistischen Eliten, wovon die „Populismus“-Diskurse, die diese Tendenzen begrifflich fassen wollen, zeugen.
  • 6. Darauf weist Meredith Tax in kritischer Absicht und unter Hinweisen auf Besuchsberichte in Rojava von 2015 hin: a.a.O., S. 146ff
  • 7. Vgl.: Lower Class Magazine, Hinter den Barrikaden. Eine Reise durch Nordkurdistan im Krieg, Münster 2016.
  • 8. Vgl. den informativen Rojava-Reader aus der Schriftenreihe der Anarchistischen Gruppe Mannheim vom April 2017; http://www.anarchie-mannheim.de/schriftenreihe/05_Rojava_Reader.pdf
  • 9. Tax, a.a.O., S.274
  • 10. Der Klassiker antikolonialer Befreiung, Frantz Fanon, wollte schließlich, dass das 'kolonisierte Ding' zum Menschen wird, indem es sich gewaltsam vom Kolonialherren befreit. Durch befreiende Gewalt sollte der ihm durch Kolonialismus und Imperialismus verwehrte Eintritt in die Geschichte erzwungen werden (als philosophische Widerspiegelung des Eintritts in eigene Staatlichkeit und ein selbstständiges Arbeitsregime). Hegelianisch gestimmt sollte die vom Kolonialismus und Imperialismus auf die abhängigen Kontinente getragene Gewalttätigkeit aufgehoben werden. Dahingegen wird postmodern-nihilistisch durch den IS das vorgefundene Gewaltkontinuum aufgegriffen, radikalisiert, beschleunigt und deterritorialisiert, jenseits eines Humanismus und einer befreienden Aufhebungsperspektive, die im Konzept des Psychoanalytikers und Antifaschisten Fanon immerhin nie verschütt gegangen ist. Den westlichen Kolonialismus affirmierende Autoren wie Egon Flaig müssen diese Unterschiede leugnen, um Fanon einen „faschistoiden Antikolonialismus“ vorzuwerfen: Vgl.: Egon Flaig, Die Niederlage der politischen Vernunft. Wie wir die Errungenschaften der Aufklärung verspielen, Lüneburg 2017, S. 103-137