Vor vier Jahren, als die Welt bereits unter einer unerwarteten Wirtschaftskrise ächzte, brachen im Norden des afrikanischen Kontinents Unruhen aus, die noch viel unerwarteter waren. Vorgeschichte und Verlauf dieser Unruhen werden in einem der zwei hier dokumentierten Gespräche mit ägyptischen Genossen geschildert. Es wurde 2011, ein paar Wochen nach der Absetzung des obersten Staatslenkers Hosni Mubarak, am Ort des Geschehens geführt, den eine revolutionstouristische Abordnung von uns aufgesucht hatte. Die Euphorie über die damals, so auch von uns im Titel der Erstveröffentlichung dieses Gesprächs, als »Revolution« bezeichneten Ereignisse war noch deutlich spürbar, aber es braute sich auch bereits erster Unmut über die von den Generälen besorgte Interimsregierung zusammen, die reihenweise unliebsame Zivilisten von Militärgerichten aburteilen ließ, während dem verhassten Ex-Staatschef kein Nachteil daraus entstand, dass seine Schergen während des Aufstands 800 Menschen getötet hatten. Dieser Unmut dürfte es vor allem gewesen sein, der 2012 der islamistischen Muslimbruderschaft bei den Präsidentschafts- wie Parlamentswahlen als vermeintlicher Alternative zum Ancien Régime einen klaren Sieg einbrachte. Als diese ebenfalls mit blutiger Repression nicht sparte, und die wirtschaftliche Misere des von Massenarmut gezeichneten Landes sich eher noch verschärfte, kam es im Sommer 2013 zu den größten Demonstrationen in der Geschichte Ägyptens, von denen flankiert erneut die Militärs die Macht an sich rissen.
Schien der nicht vorgesehene Eingriff der unteren Klassen in die Geschichte 2011 der Rede von einer Revolution eine gewisse Plausibilität zu geben, stellt sich die ganze Sache vier Jahre später als bittere Schmierenkomödie dar. Streng genommen hat das Militär zu keinem Zeitpunkt die Macht aufgegeben, sondern sie sich lediglich zeitweilig, vom Sommer 2012 bis zum Sommer 2013, mit den Islamisten geteilt. Vereint durch das oberste Interesse an Stabilität, verstanden sich bärtige Fundamentalisten und glattrasierte Generäle recht gut. Die Islamisten versuchten mit religiösem Klimbim das Volk bei der Stange zu halten und als Saubermänner das Ende der Ära von Korruption und Kleptokratie vorzugaukeln, die Militärs standen im Hintergrund Gewehr bei Fuß und bekamen von den neuen Staatslenkern zugesichert, ihre Macht, die sich nicht zuletzt auf ein riesiges Wirtschaftsimperium erstreckt, werde nicht angetastet. Dass ausgerechnet der vom Islamistenpräsidenten Mursi persönlich ernannte Obermilitär al-Sisi es dann war, der den ungeschriebenen Vertrag zerriss und Mursi abservierte, entbehrt nicht der Komik.
Wie im zweiten hier dokumentierten, 2014 geführten Gespräch angedeutet, gab es dafür zwei Gründe, die mit weltanschaulichen Unterschieden à la Säkularismus versus Islam oder Demokratie versus Autokratie nicht das Geringste zu tun haben. Zum einen waren die Muslimbrüder schlicht hoffnungslos damit überfordert, im Armenhaus Ägypten für Ruhe und Ordnung zu sorgen: die bereits vor dem Sturz Mubaraks eindrucksvollen und danach noch zunehmenden Streiks rissen nicht ab. Zum anderen waren es die Muslimbrüder selbst, die von Machtgier getrieben das Arrangement mit den Militärs aushöhlten. Weit mehr als ein beliebiges Beispiel stellt dabei ihre Ankündigung dar, im Verein mit Investoren aus Katar und unter Umgehung der Generäle den Suezkanal zu entwickeln: »Dies hätte den Zugriff des Militärs auf das Kronjuwel seines wirtschaftlichen Expansionsprojekts gebrochen und eine beträchtliche Verschiebung der ökonomischen Macht zugunsten der Muslimbruderschaft bewirkt, was es dieser vielleicht sogar erlaubt hätte, sich von der Einschränkung durch politische Deals mit dem Militär zu befreien. (…) Diese Episode hat zweifellos erheblich zum Eifer des obersten Militärrats bei der Absetzung Mursis sowie zu seiner Entscheidung beigetragen, die Muslimbrüderschaft sodann als lästigen Rivalen vollständig zu zerschlagen.«[fn]L.S., Continuing Business by Other Means: Egypt’s Military Economy (Mai 2014). Eine im Übrigen wärmstens empfohlene Darstellung der wirtschaftlichen Rolle des ägyptischen Militärs und ihrer Auswirkungen auf das dortige Geschehen.[/fn]
Welche Rolle der Machtkampf um die und zwischen den Institutionen spielte, ist eine Frage, die sicherlich weiterer Klärung bedarf. Die religiöse Azhar-Körperschaft etwa wurde in der von Muslimbrüdern und Salafisten Ende 2012 durchgepeitschten Verfassung von einer Institution des Staatsislam zum Wächter über den Gesetzgebungsprozess erhoben. Auch die Frage, wie und inwieweit die Islamisten zur desaströsen Lage der Frauen in Ägypten beigetragen haben, ist offen, ebenso, warum der Kampf dagegen auf so wenig Widerhall bei den Massendemonstrationen stieß. Sicherlich stimmt es, dass, wie im zweiten Gespräch ausgeführt wird, diese Lage ganz unabhängig vom jeweiligen Regime eine elende ist. Allerdings hob sich beispielsweise die empörte Weigerung der MB-Regierung im März 2013, eine UN-Deklaration gegen die Gewalt gegen Frauen zu unterzeichnen, weil dies den »letzten Schritt bei der geistigen und kulturellen Invasion islamischer Länder« bedeuten und »die moralische Besonderheit, die zum Zusammenhalt islamischer Gesellschaften beiträgt«, auslöschen würde, von dieser tristen Normalität nochmals ab. Nicht einschätzen können wir, welche Bedeutung solche Manöver für das Alltagsleben hatten.
Seit dem Coup vom Sommer 2013 regieren nun allerdings die Militärs das Land mit einem Ausmaß an Repression, wie es in Ägypten seit langem nicht mehr – auch nicht unter den Islamisten – gegeben war. Tatsächliche oder vermeintliche Anhänger der Muslimbruderschaft wurden zu Tausenden regelrecht massakriert und in die Gefängnisse verfrachtet, aber auch weniger unsympathische Kräfte hat die volle Härte des Repressionsapparates getroffen. Aktivisten wurden für die bloße Teilnahme an einer Demonstration zu fünfzehn Jahren Knast verurteilt, jede Opposition soll mundtot gemacht werden. Und während es die islamistische Konkurrenz abräumt, versucht das Militär zwecks Bedienen der dumpfesten Ressentiments im Volk zugleich »islamischer als die Islamisten« zu erscheinen, wie eine ägyptische Menschenrechtlerin anlässlich eines Polizeieinsatzes im vergangenen Dezember bemerkte, bei dem zwei Dutzend nackte Männer, der Homosexualität verdächtig, medial begleitet aus einem Hamam abgeführt wurden.[fn]»Der größte Sündenpfuhl für Gruppenperversion«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.12.2014.[/fn]
Dass al-Sisi das Land nun direkt als Präsident regiert, war vermutlich nicht die erste Wahl des Militärs, das gerne ungestört im Hintergrund seinen Geschäften nachgegangen wäre. Seine Repressionsexzesse drücken auch begründete Angst vor Aufruhr aus. Nach einem kurzen Rückgang infolge des Putsches haben die Streiks 2014 wieder an Schwung gewonnen und bereits im Februar des Jahres einen Rücktritt des zivilen Attrappen-Kabinetts bewirkt. Offenbar versucht das neue Regime, neben blanker Gewalt auch mit einem gewissen Anknüpfen an die arbeiterfreundliche Rhetorik der etatistischen Nasser-Ära für Befriedung zu sorgen. Welche Spielräume es dabei nach dem Ende des wirtschaftlichen Etatismus hat, scheint allerdings fraglich; um Subventionskürzungen im Geist der Austerität ist es jedenfalls nicht herumgekommen und hat den Unmut der pauperisierten Bevölkerungsmasse damit erheblich angefacht.
Doch wenn die anhaltenden Arbeiterstreiks auch der Alptraum der jeweils Herrschenden gewesen sind und dies bis auf weiteres bleiben dürften, eignen sie sich kaum als Nahrung für Revolutionshoffnungen. Wie in beiden Gesprächen deutlich wird, haben sich die Streiks während des gesamten Zeitraums weitgehend getrennt vom Geschehen auf der Straße abgespielt. Sie scheinen, so wichtig sie 2011 auch waren, kaum einen Bezugspunkt für die immer wieder aufflackernden Demonstrationen und Straßenkämpfe zu bieten, so wie umgekehrt die Bewegungen auf der Straße für die Streiks unerheblich geblieben sind, aber nicht etwa, weil man in schöner Einfachheit eine von der Mittelschicht getragene Demokratiebewegung einerseits, eine proletarische Streikbewegung andererseits vor sich hätte. Was immer der Gummibegriff Mittelschicht in Ägypten bezeichnen mag, die Masse derer, die 2011 und später auf die Straße gegangen sind, verfügt ebenfalls über kaum mehr als die eigene Arbeitskraft, verkauft sie allerdings nicht in Arbeitsverhältnissen, die Streiks und Gewerkschaftsgründungen überhaupt zulassen würde. Dieses »informelle Proletariat« (Mike Davis) kämpft vor allem gegen eine repressive Ordnung, die es seine Marginalität durch Polizeiwillkür spüren lässt, und findet sich periodisch zum Aufruhr zusammen, ohne feste Organisationsformen oder eine politische Programmatik herauszubilden.
Von Anfang an hatten die Unruhen in Ägypten postpolitische Züge und stellten sich als große Wirren dar. Es ging und geht weiterhin um Brot und Freiheit, aber keiner Kraft ist es gelungen, diesen Impuls in ein realistisches Programm zu überführen. Was sich vor diesem Hintergrund seit 2011 beobachten ließ, waren wiederholte Eingriffe der breiten Bevölkerungsmasse in das Geschehen, die einerseits ausschlaggebend waren, andererseits nie über die ebenso deutliche wie letztlich unbestimmte Bekundung hinausgegangen sind, dass es so, wie es ist, nicht bleiben darf, was schlussendlich jedes Mal zum Ergebnis hatte, dass wahlweise Militärs oder Islamisten ans Ruder kamen. Linksradikale mag dies insofern nicht kratzen, als sie weder in linke Reform- noch in vermeintlich revolutionäre Avantgardeparteien irgendeine Hoffnung setzen. Wie der Kairoer Genosse im zweiten Gespräch meint: »Ich bin nie für eine andere Regierung auf die Straße gegangen.«
So liegt Ägypten ganz im allgemeinen Trend zu Unruhen, die keinen positiven Entwurf mehr aufbieten und deshalb zunächst verpuffen. Viele Linke finden diesen zeitgenössischen Wirrwarr »spannend« o.ä., was er auch sein mag. Doch wem die Aussicht nicht schmeckt, sich immer nur an der Unvorhersehbarkeit der Revolte zu erfreuen, der könnte anlässlich des Jahrestags der ägyptischen Revolutionsfarce auch über das gegenwärtige Problem nachdenken, dass die Flaute des Reformismus und das Ende des Staatssozialismus keineswegs einem wirklichen Bruch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen den Weg gebahnt haben. In den endlosen Tumulten der letzten Jahre hat der Gedanke eines solchen Bruchs keine klareren Konturen gewonnen. Der Macht, Herrscher zu stürzen, entsprach durchweg eine vollständige Ohnmacht, eine neue gesellschaftliche Ordnung ins Auge zu fassen. Dabei darf es nicht bleiben, und zum Glück muss man kein Leninist sein, um von Spontaneität allein keine Wunder zu erwarten.
Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft, Januar 2015
Zur Revolution in Ägypten. Interview mit dem Kairoer Anarchosyndikalisten Jano Charbel (2011)
»Die nächste Schlacht wird viel gewaltsamer«. Interview mit Philip Rizk (2014)