Die Frage einer Übergangsgesellschaft und die »Muttermale« der alten Ordnung

13. Mai 2019

Auch wenn das freie, klassenlose Gemeinwesen, das wir wollen, nicht über Nacht herzustellen sein wird, haben wir uns in »Umrisse der Weltcommune« (KOSMOPROLET 5) zu der Überzeugung bekannt, dass eine sozialistische Übergangsgesellschaft, wie Marx sie im 19. Jahrhundert vor Augen hatte, heute hinfällig geworden ist. Für ziemlich blauäugig hält das, neben etlichen anderen, Robert Schlosser, wie er in der folgenden Kritik ausführt. Auch auf sie werden wir noch ausführlich antworten.

Fürs Erste sei nur festgehalten, dass wir an etlichen Stellen gerade zu verdeutlichen versucht haben, wie immens die Herausforderungen sind, die eine Umwälzung der Gesellschaft mit sich bringen würde – von der Abschaffung des Staates, dessen heutige Funktionen nicht allesamt überflüssig würden und folglich anderweitig geregelt werden müssten, über den Umbau des Maschinenparks, der Städte, der Energieversorgung und vielem mehr bis hin zur Revolution der Geschlechterverhältnisse. Keineswegs leugnen wir also die Mühen der Emanzipation, die sich mal sprunghaft, dann aber wieder nur Schritt für Schritt vollziehen wird, wenn überhaupt. Aber zwischen Übergang und Übergangsgesellschaft zu unterscheiden ist insoweit keine Haarspalterei, wie die Übergangsgesellschaft nach überlieferten Auffassungen – Marx sagt es ganz ausdrücklich – noch auf Prinzipien beruhen soll, die solche der alten bürgerlichen Welt sind. Dagegen meinen wir, dass die Kommunardinnen von dieser alten Welt zwar gewiss deprimierend viele Probleme erben werden, bei deren Bewältigung sich aber von Anfang an nur an die Prinzipien der neuen Gesellschaft halten sollten.

Mit Blick auf die Geschlechtermisere ist außerdem noch festzuhalten, dass wir uns anders als von Schlosser behauptet ganz und gar nicht damit »arrangieren […] können, dass auf längere Zeit alles mögliche weiterhin an den Frauen hängen bleibt«. Wir haben nur die alte feministische Banalität wiederholt, dass mit der Abschaffung der jetzigen Eigentums- und Produktionsverhältnisse die Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen und viel anderer Dreck der bisherigen Geschlechterordnung noch lange nicht aus der Welt geschafft sind, was folglich gesonderte Anstrengungen erfordert.

F. K. (Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft)

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I.

Ihr schreibt in »Umrisse der Weltcommune«:

Viele aktuelle Entwürfe einer nachkapitalistischen Gesellschaft frieren die soziale Phantasie auf dem Niveau des Jahres 1875 ein, als zwar schon ein paar Eisenbahnen durch die Welt tuckerten und die Arbeiterbewegung in Europa eine gewisse Stärke erreicht hatte, die Produktivkräfte aus heutiger Sicht aber noch zwergenhaft waren und im Gros der Welt die moderne Klasse der Lohnabhängigen praktisch nicht existierte; selbst Europa war weitgehend von Bauern bevölkert, Analphabetismus verbreitet. Dass Marx damals in seiner Kritik des Gothaer Programms den Kommunismus in zwei Phasen unterteilte, in deren erster die geleisteten Arbeitsstunden den Anteil des Einzelnen am gesellschaftlichen Reichtum bestimmen sollten, während das Prinzip »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen« ebenso wie das Ende des Staates der zweiten, von viel weiter entwickelten Produktivkräften gekennzeichneten, vorbehalten blieb, mag man angesichts dessen für nachvollziehbar halten oder auch nicht; dass eine »erste Phase« auch heute noch notwendig und erstrebenswert sein soll, wäre angesichts der gewaltigen Veränderungen seit 1875 jedoch zu überprüfen. Am Prinzip der Verteilung nach Arbeitsstunden halten nicht nur die Waisen des Sowjetmarxismus hartnäckig fest, sondern auch viele antiautoritäre Linke. Und selbst in betont modernen Szenarien, in denen Räte schick als Hubs firmieren, wird jeder Kommunardin selbstverständlich ein »Arbeitszeitkonto« verpasst. (Meine Hervorhebung)

Die Annahme, heute könne es auch ohne Übergangsgesellschaft gehen, begründet ihr damit, dass die Produktivkraftentwicklung inzwischen viel weiter vorangeschritten und die Klasse der Lohnarbeiter*innen gewaltig angewachsen sei. Auf die konkrete Argumentation von Marx lasst ihr euch damit aber überhaupt nicht ein. Der schrieb:

Womit wir es hier zu tun haben, ist eine kommunistische Gesellschaft, nicht wie sie sich auf ihrer eignen Grundlage entwickelt hat, sondern umgekehrt, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht, also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt. Demgemäß erhält der einzelne Produzent - nach den Abzügen - exakt zurück, was er ihr gibt. (MEW 19, S. 20, meine Hervorhebung)

Auf die »Abzüge« vor Verteilung an die Individuen komme ich gleich zurück. Hier geht es erstmal um die Muttermale der alten Gesellschaft allgemein – »in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig«. Damit begründet Marx eine Übergangsgesellschaft. Und diese Muttermale – mit denen wir zu rechnen haben – haben mit Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft nicht ab-, sondern eher zugenommen. Die Kommunard*innen hätten einen riesigen Berg abzutragen, umzuwälzen. Die Entwicklung der Arbeitsproduktivität macht diesen Berg nicht kleiner, sondern erleichtert lediglich die Lösung der Probleme. (1) Aus meiner Sicht gibt es daher heute noch mehr Gründe für eine Übergangsgesellschaft als 1875! Mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft entwickeln sich nicht nur die Produktivkräfte, sondern gleichfalls eine satte Zahl an Übeln, wie beispielsweise Kriminalität allgemein, Gewaltverbrechen, Bandenwesen, Prostitution usw. Die Knäste sind voll, Drogenabhängigkeit weit verbreitet… Das entwickeltste kapitalistische Land, die USA, legt ein besonders eindrückliches Zeugnis davon ab. Man wird damit – und mit den »sittlichen und geistigen« Eigenheiten von Menschen, die in solchen Milieus gelebt haben – umgehen müssen; anders als heute, aber auch mit Methoden, die man eigentlich ablehnt und die in einer entwickelten, auf ihren eigenen Grundlagen funktionierenden kommunistischen Gesellschaft eher nichts verloren haben. Ohne Repression wird es nicht gehen, aber Repression allein löst keines der Probleme wirklich.

 

II.

Was soll es heißen, dass wir es »in jeder Beziehung« mit den Muttermalen der alten Gesellschaft zu tun hätten? Dazu nur einige zentrale Gesichtspunkte. Ökonomisch springen die großen gesellschaftlichen Arbeitsteilungen mit ihrer sozial prägende Kraft ins Auge, die das Kapital schon vorgefunden und weiterentwickelt hat: zwischen Stadt und Land, zwischen den Geschlechtern und zwischen Hand- und Kopfarbeit (2). Hinzu gekommen ist die internationale Arbeitsteilung, wie wir sie heute kennen, als ein besonderes Produkt der kapitalistischen Produktionsweise. Auch die hat ihre sozialen Auswirkungen.

Ein wesentliches Muttermal der alten Gesellschaft wäre aber auch die Art des heutigen Konsums, mit welchen Gebrauchswerten welche Bedürfnisse befriedigt werden. Es ist eine Tendenz der kapitalistischen Produktionsweise, möglichst alle menschlichen Bedürfnisse durch die Produktion spezieller »Angebote« für individuellen – nicht gemeinschaftlichen! – Konsum zu befriedigen. Das führt auch zu der Produktion von Gebrauchswerten, deren Konsum individuell geschieht.

Ihr sprecht diesen Punkt aus meiner Sicht zunächst richtig an:

Ohne sich auf die Frage nach »richtigen« und »falschen« Bedürfnissen einzulassen und fernab von Genussfeindschaft im grünen Gewand müsste eine sozialrevolutionäre Bewegung in den Metropolen einen anderen Reichtum anvisieren als den heutigen. Während dieser als eine »ungeheure Warensammlung« erscheint, weniger ein gesellschaftlicher ist als die Addition individuellen, sehr ungleich verteilten Besitzes, müsste die Commune nicht nur in der Produktion, sondern auch in der Sphäre von Nutzung und Verbrauch auf maximale Vergesellschaftung setzen. Das »Recht auf Einsamkeit« (Marcuse) und auf Rückzug ins Private wäre für sie entgegen jedem Gemeinschaftskult unantastbar, aber anders als in der auf Massenabsatz und letztlich Verschleiß geeichten Profitwirtschaft wäre dieses Private nicht mehr primär der Raum, der einen beständig wachsenden Warenstrom verschlingen muss, damit die Maschine weiterläuft. Wo es Kantinen und Waschsalons gibt, die über ihre schnöde Funktion hinaus Orte einer zwanglosen Begegnung sein könnten, muss nicht mehr jede Wohnung mit Spül- und Waschmaschine ausgestattet sein. (Meine Hervorhebung)

Aber dann heißt es weiter:

Schon durch wenige Sofortmaßnahmen könnte die Commune im Handstreich Probleme lösen, an denen sich die Technokraten heute die Zähne ausbeißen und weiter ausbeißen werden. Anstatt zum Beispiel die gemeingefährliche Idee der »E-Mobilität« weiterzuverfolgen – Elektroautos erfordern genauso viel Arbeit, Ressourcen, Straßen und Platz in den Städten wie solche mit Benzinmotor, den entfallenden Abgasen steht eine hochgiftige Batterieproduktion gegenüber –, würde sie einfach ein paar Tramschienen verlegen (wo die Blechkolonnen verschwunden sind, muss man auch nicht mehr mit irrwitzigem Aufwand Tunnel in die Erde graben). Auch den Flugverkehr könnte man, um den Planeten buchstäblich wieder zu Atem kommen zu lassen, drastisch einschränken, weil es keine gehetzten Manager und Touristen mehr gibt. (Meine Hervorhebung)

Probleme im Handstreich lösen, mal eben ein paar Schienen verlegen… Mit der Zeitrechnung habt ihr es wirklich nicht.

Bevor Marx überhaupt auf die Verteilung an die Individuen zu sprechen kommt, hält er erst einmal fest, was bereits vorher alles vom »gesellschaftlichen Gesamtprodukt« abgezogen wird. Nämlich zunächst für die Produktion ein Teil zum Ersatz der verbrauchten Produktionsmittel, ein weiterer für ihre Ausdehnung sowie ein Reservefonds zur Absicherungen gegen »Störungen durch Naturereignisse« etc. Marx beschreibt diese Abzüge als »eine ökonomische Notwendigkeit«, deren Größe »in keiner Weise aus der Gerechtigkeit kalkulierbar« sei. Von dem anderen Teil des Gesamtprodukts, der als Konsumtionsmittel dienen soll, seien abzuziehen »die allgemeinen, nicht direkt zur Produktion gehörigen Verwaltungskosten«, die »von vornherein aufs bedeutendste beschränkt« würden im Vergleich zur heutigen Gesellschaft, ein »Fonds für Arbeitsunfähige etc.« sowie schließlich all das, »was zur gemeinschaftlichen Befriedigung von Bedürfnissen bestimmt ist, wie Schulen, Gesundheitsvorrichtungen etc. Dieser Teil wächst von vornherein bedeutend im Vergleich zur jetzigen Gesellschaft und nimmt im selben Maß zu, wie die neue Gesellschaft sich entwickelt.« Marx bemerkt: »Erst jetzt kommen wir zu der Verteilung, die das Programm, unter Lassalleschem Einfluß, bornierterweise allein ins Auge faßt, nämlich an den Teil der Konsumtionsmittel, der unter die individuellen Produzenten der Genossenschaft verteilt wird.« (MEW 19, S. 18f., meine Hervorhebungen)

Bei Marx also stellt sich die ganze Frage der Verteilung von Konsumtionsmitteln »unter die individuellen Produzenten der Genossenschaft« überhaupt erst nach Abzug eines großen Teil des gesellschaftlichen Gesamtprodukts. Und in der »neuen Gesellschaft« wächst der Teil »zur gemeinschaftlichen Befriedigung von Bedürfnissen« von vornherein. In einer funktionierenden Übergangsgesellschaft würde demnach die Bedeutung der – oft so hitzig diskutierten – Frage, wie die Verteilung zur individuellen Konsumtion denn bewerkstelligt werden kann, deutlich abnehmen. Auf jeden Fall gilt die Marxsche Arbeitszeitrechnung – die Verteilung entsprechend der individuellen Arbeitszeit, die der oder die Einzelne für die Gesellschaft leistet – überhaupt nur für einen Teil des Konsums und keineswegs generell. Marx lehnte es ab, die Frage der Verteilung »bornierterweise« allein auf diese Verteilungsfrage zu beschränken.

Bei der Verteilung nach der individuellen Arbeitsleistung schießt Marx allerdings, wenn ich ihn richtig verstanden habe, ein Eigentor. Jeder soll exakt das an Gebrauchswerten erhalten, was er der Gesellschaft an Arbeit gibt. Wie soll das gehen? Das, was die Leute an Arbeit geben, schafft ja nicht nur das, was sie individuell an Gebrauchswerten nehmen. Diese Arbeit oder die Summe dieser Arbeiten schafft auch all das, was zur »gemeinsamen Befriedigung von Bedürfnissen« benötigt wird; also den ominösen »Abzug«, bevor es an die individuelle Verteilung geht. Wenn das so ist, dann kann der oder die Einzelne aber nicht exakt für individuellen Konsum erhalten, was an Arbeit gegeben wurde. Man kann die Sachen jedenfalls nicht zweimal verteilen. Nach welchen Kriterien man diese Verteilung organisieren sollte, dazu habe ich mir bis heute keine Meinung gebildet. Man wird das übergangsweise aber auf jeden Fall lösen müssen. Dass jeder und jede sich einfach nimmt, was er oder sich gerade nehmen möchte, wird nicht funktionieren.

Die von Marx anvisierte Ausdehnung der »gemeinsamen Befriedigung von Bedürfnissen« auf Kosten auch der rein individuellen Konsumtion bedeutet aus meiner Sicht eine soziale Revolution erheblicher Tragweite, die überhaupt nicht über Nacht zu erledigen ist. Heute hat »jeder« sein Auto, seinen Fernseher, seine Bohrmaschine, seinen Herd, seine Geschirrspülmaschine etc. etc., und das ist der Inbegriff und die materielle Basis von individueller Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Freiheit entwickelt das Kapital, denn sie ist zugleich wesentliche Bedingung seiner sich ausdehnenden Verwertung. Wenn Kommunismus bedeuten soll, dass diese Freiheit sich weiter entwickelt, dann ist er zum Scheitern verurteilt. Kommunismus kann nur dadurch glänzen, dass er die Überlegenheit gemeinsamen Konsums in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens beweist. Der Staatssozialismus ist auch daran gescheitert.

Aber was heißt »maximale Vergesellschaftung« der Konsumtion bei euch, zumal ihr ja das »Recht auf Einsamkeit« wahren wollt? Das Maximum wäre schließlich, dass alle Bedürfnisse gemeinschaftlich befriedigt werden. Aus meiner Sicht geht es nicht um das Maximum, sondern um das vernünftige Maß, worüber vor allem die subjektive Zufriedenheit bei der Bedürfnisbefriedigung entscheidet. Wenn die gemeinsame Nutzung durch Mangel gekennzeichnet ist und die individuelle Freiheit dabei insgesamt zum Teufel geht, dann hat der Kommunismus verloren und keine Chance. In der Übergangsgesellschaft geht es darum, solche gemeinschaftliche Bedürfnisbefriedigung peu à peu auszudehnen, und zwar unbedingt auf freiwilliger Basis durch gemeinsame Beratung und Entscheidung. Auch das wäre ein »langwieriger kulturrevolutionärer Prozess«, wie ihr ihn an anderer Stelle anvisiert. In der Praxis und durch die Praxis muss der Vorteil erfahrbar sein! Tritt das nicht ein, hat Kommunismus keine Chance.

In einigen Bereichen mag der Übergang zu »gemeinschaftlicher Nutzung« entsprechender Gebrauchswerte relativ schnell geschehen und lassen sich die Vorteile schnell erleben. Aber allein die flächendeckende Umstellung von der Dominanz des Individualverkehrs auf gemeinsame Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel zum Beispiel wird wieder dauern, und bis dahin würde vermutlich noch viel Auto gefahren. Viele Gebrauchswerte für den individuellen Konsum, die unsere »Lebensqualität« heute ausmachen – das fängt beim Auto an und hört bei der Bohrmaschine im Keller nicht auf –, stehen oder liegen oft millionenfach ungenutzt herum. Sie verkörpern eine ungeheure Verschwendung an Arbeitszeit und materiellen Ressourcen. Ein merkwürdiger »Luxus«! Es handelt sich mehr um Besitz und jederzeitige individuelle Verfügbarkeit als um tatsächliche Nutzung. Vergeudete Arbeitszeit ist es aber nicht für das Kapital, solange die entsprechenden Waren ihren Absatz finden. Die Vergeudung kommt erst dann zum Vorschein, wenn man aus Sicht der Lohnarbeit – Produzent wie Konsument – eine Aufwand-Nutzen-Bilanz aufmacht. Eine solche Bilanz ist nur möglich bei Kenntnis und im Bewusstsein der gesellschaftlichen Zusammenhänge der Produktion.

Wir sind es alle gewohnt, aus einer ungeheuren Warenfülle auszuwählen – das gab es zu Lebzeiten von Marx in dieser Form nicht und dabei auf den Preis zu schauen. Man ist mit dem Preis konfrontiert und nicht mit der nur zu oft extrem beschissenen Arbeit, die diese Ware erzeugt hat. Wir sind alle den individuellen Besitz und die individuelle Verfügbarkeit gewohnt. Bei uns kommt eben nicht nur der Strom aus der Steckdose, sondern alle Waren begegnen uns nur fein sortiert im Supermarkt. Es geht ausschließlich ums Kaufen, die Produktion liegt hinter einer dicken Nebelwand verborgen. Die gemeinsame Benutzung/Verwaltung von allen möglichen Geräten sind wir nicht gewohnt. Ohne dass das Verlangen danach sich breit macht, wird es sicher keinen Kommunismus geben. Aber eine solche gemeinsame Benutzung verlangt Kommunikation, Abstimmung etc. und muss gelernt werden, die Gewohnheiten müssen sich ändern. Es kostet Zeit und funktioniert nicht auf Knopfdruck. In einigen Bereichen der kommunistischen Übergangsgesellschaft müsste »kompromisslos« möglichst schnell umgestellt werden, in anderen wäre behutsam mit langem Atem zu operieren. Das alles aber setzt vor allem eins voraus, den Willen dazu, das Bedürfnis danach! Beides lässt sich nicht erzwingen und hier haben wir es mit Sicherheit mit erheblichen, ganz modernen Muttermalen der alten kapitalistischen Gesellschaft zu tun … »sittlich, geistig«. Fehler und Rückschläge, Misserfolge sind in der Praxis ebenfalls einzukalkulieren.

Es gibt einiges, mit dem man übergangsweise wird leben müssen, etwa sehr ungleiche Wohnlagen und -qualitäten, die man nicht einfach »umverteilen« kann, die leidige Geldfrage etc. etc. In der Übergangsgesellschaft aber hätten die Kommunard*innen alle Hände voll damit zu tun, erstmal das Nötigste zu erledigen, sich in Selbstverwaltung zu üben, das Neue auf alter Grundlage in Gang zu bringen und zu halten, die Planung zu entwickeln, auch in den Betrieben für eine Produktion zu sorgen, die dem »Stand der Technik« in Sachen Arbeits-, Gesundheits- und Umweltschutz entspricht, wo das noch nicht der Fall ist (da gibt es viel zu tun). Die Liste ist lang.

 

III.

Ihr schreibt:

Vorstellbar ist der Übergang in die Commune daher nur als wilde Bewegung der Besetzungen, die sich allem bemächtigt, was für sie von Nutzen ist – Wohnraum, öffentliche Gebäude, Betriebe, Ländereien, Transportmittel –, oder aber blockiert und sabotiert, was stillgelegt werden muss. Entscheidend wäre, das Eroberte sofort zur Ausweitung der Bewegung zu nutzen, ohne die alles wieder in sich zusammenfallen würde. Güter müssten einfach verteilt, Dienste wie medizinische Versorgung und öffentlicher Verkehr ebenfalls kostenlos bereitstehen; das Geld würde nicht wie im sowjetischen Kriegskommunismus per Dekret »abgeschafft«, sondern überflüssig, zumal es in einer schweren sozialen Krise vermutlich ohnehin entwertet wäre. (Meine Hervorhebung)

Nur als wilde Bewegung? Was muss denn »blockiert und sabotiert« werden in dieser »wilden Bewegung der Besetzungen«? Was ist für die Commune »von Nutzen«?

Zum Einstieg ein ganz einfaches Beispiel: Frankreichs Energiebedarf wird zu 80 Prozent aus Atomstrom gedeckt. Vermutlich sind wir uns einig, dass die Atomkraftwerke abgeschaltet werden müssen. Würden sie aber in einer »wilden Bewegung der Besetzungen« einfach abgeschaltet, käme ganz Frankreich zum Stillstand. Die Wiederaufnahme oder Weiterführung der Produktion wäre dann nicht nur eine »kaum zu überschätzende Herausforderung«, wie ihr schreibt, sondern unmöglich.

Das ist nur ein Extrembeispiel. Richtig kompliziert wird es, wenn man sich eine ganze Reihe von Produkten mit ihren jeweiligen Vorprodukten vornimmt, etwa solchen aus der chemischen Industrie. In der wäre allerhand »abzustellen« nach heutigem »Stand der Technik«, nämlich dem Stand der Kenntnis darüber, welche Gefahren davon ausgehen. Diese Produkte der Chemie gehen aber in allerhand Gebrauchswerte ein, deren Produktion es keineswegs abzustellen gilt, bei denen es nur um Ersatz eines bestimmten Werkstoffes ginge. Wenn man auf diese Gebrauchswerte nicht verzichten will oder gar kann, muss man übergangsweise mit den gefährlichen Substanzen leben.

In einer »wilden Bewegung von Besetzungen« aber hat niemand die Übersicht über die Verteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, und anstatt zu blockieren und zu sabotieren, um stillzulegen, was stillgelegt werden muss, sollte man sich besser darauf konzentrieren, die Produktionsstätten, so wie sie sind, in Betrieb zu halten oder zu setzen. Das wird das Problem der Besetzer*innen sein! Das Stilllegen sollte besser nach reiflicher Überlegung erfolgen, nicht wild.

Die »Kontrolle sozialer Produktion durch soziale Ein- und Vorsicht« (Marx) ist ein Wesenszug kommunistischer Gesellschaft. Die Kontrolle lässt sich der Form nach vergleichsweise leicht in einer politischen Revolution herstellen – als Gemeineigentum in Selbstverwaltung, wie immer die konkret aussehen mag. Mit der Berücksichtigung und Durchsetzung der sozialen Ein- und Vorsicht ist das nicht so einfach. Es ist eine Sache, das Privateigentum durch Gemeineigentum zu ersetzen und Organe der Selbstverwaltung zu schaffen, und es ist eine andere, die dadurch ermöglichte Kontrolle sozialer Produktion im Sinne »sozialer Ein- und Vorsicht« zu bewerkstelligen. Das zweite ist keineswegs ein automatisches Resultat des ersten, sondern bleibt umkämpft, besonders in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft. Ich habe den Eindruck, dass ihr solche Fragen eher im Handstreich beantworten wollt.

 

IV.

In eurem Text wird die Notwendigkeit einer Übergangsgesellschaft eigentlich nur in einem Punkt deutlich und in gewissem Sinne anerkannt:

Grundsätzlich würde eine soziale Revolution der Emanzipation aus den heutigen Geschlechterverhältnissen insoweit entgegenkommen, wie diese noch immer mit einer bestimmten Polarität von Lohn- und Hausarbeit inklusive Kinderbetreuung amalgamiert sind. Eine Gewähr für irgendeinen Fortschritt wäre sie für sich genommen nicht. Auch die vernünftig-gesellschaftlich geregelte Kinderbetreuung zum Beispiel könnte an den Frauen hängen bleiben und noch weniger würde all das an den Geschlechterverhältnissen von allein verschwinden, was nicht in einer bestimmten Arbeitsteilung aufgeht. So sehr den klassischen, in den spätkapitalistisch-liberalen Ländern bereits verflüssigten, aber durchaus noch existierenden Geschlechtscharakteren ihr historischer Zusammenhang mit der Spaltung des gesellschaftlichen Lebensprozesses in Marktökonomie und private Reproduktion ins Gesicht geschrieben steht – sorgend-subaltern die einen, aktiv, durchsetzungsfähig, abgehärtet die anderen –, so sehr haben sie sich bis in die letzten Winkel des Seelenlebens eingenistet und treiben bis heute als Identifikationsangebote ihr Unwesen. Schon weil sie weithin unbewusst ausgebildet und gelebt werden, wird ihre vollständige Auflösung Zeit in Anspruch nehmen: »Während sich besonders die Zerschlagung der Staatsmaschinerie als ein konzentriertes ›Umwerfen‹ derselben vorstellen lässt, lässt sich die notwendige Veränderung und Selbstveränderung der (eigenen) geschlechtlichen Subjektivität und des Geschlechterverhältnisses kaum anders denken denn als ein langwieriger, kulturrevolutionärer Prozess, der sich von Zeit zu Zeit auch eruptiv, insgesamt aber eher peu à peu in den zwischenmenschlichen Beziehungen des Alltagslebens und einer neuartigen kulturellen Produktion vollziehen wird.« (Lux et al.)

Was mich hier sehr verwundert hat, ist eure Auffassung, die »existierenden Geschlechtscharaktere« würden »weithin unbewusst […] gelebt«. Ist es wirklich euer Ernst, dass Männer »weithin« ihre Interessen nicht bewusst durchsetzen, dass sie Gewalt unbewusst ausüben etc.? Und ihr scheint euch damit arrangieren zu können, dass auf längere Zeit alles mögliche weiterhin an den Frauen hängen bleibt. Das fällt auf, da ihr in anderen Fragen weit weniger »tolerant« seid. Zu meiner Freude aber klingt an dieser Stelle immerhin der Unterschied zwischen politischer und sozialer Revolution an. Hinweisen wollte ich darauf, dass es allerhand gesellschaftliche Probleme gibt, die sich nur in solchen »langwierigen, kulturrevolutionären Prozessen« lösen lassen.

 

V.

Marx schreibt über die neue Gesellschaft:

Ökonomie der Zeit sowohl wie planmäßige Verteilung der Arbeitszeit auf die verschiednen Zweige der Produktion bleibt also erstes ökonomisches Gesetz auf Grundlage der gemeinschaftlichen Produktion. Es wird sogar in viel höherem Grade Gesetz. Dies ist jedoch wesentlich verschieden vom Messen der Tauschwerte (Arbeiten oder Arbeitsprodukte) durch die Arbeitszeit. (MEW 42, S. 105, meine Hervorhebung)

Diesen wesentlichen Unterschied in der »Ökonomie der Zeit« bemerkt auch Hermann Lueer in seiner Kritik am Weltcommune-Text nicht. Er schreibt in seiner Begründung für eine Arbeitszeitrechnung im Kommunismus:

Diese ökonomische Grundlage — so die vorweggenommene These — ist die Berechnung der Zeit, die nötig ist, um die verschiedenen Produkte und Dienstleistungen den Gesellschaftsmitgliedern zur Verfügung zu stellen. Die gesellschaftlich durchschnittliche Arbeitszeit, die in der Konkurrenz der Warenproduktion hinter dem Rücken der Menschen als Sachzwang herrscht, wird hier zum bewusst angewandten Maßstab im Rahmen der gemeinschaftlichen Planung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. »Die Nutzeffekte der verschiedenen Gebrauchsgegenstände, abgewogen untereinander und gegenüber den zu ihrer Herstellung nötigen Arbeitszeiten, bestimmen diese ökonomische Planung.« Die Arbeitszeit spielt dabei eine doppelte Rolle. »Ihre gesellschaftlich planmäßige Verteilung regelt die richtige Proportion der verschiedenen Arbeitsfunktionen zu den verschiedenen Bedürfnissen. Andererseits dient die Arbeitszeit zugleich als Maß des individuellen Anteils des Produzenten an der Gemeinschaftsarbeit und daher auch an dem individuellen verzehrbaren Teil des Gemeinschaftsproduktes. Die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen zu ihren Arbeiten und ihren Arbeitsprodukten bleiben hier durchsichtig einfach in der Produktion sowohl als in der Verteilung.« (http://neoprene.blogsport.de/2018/09/25/grundprinzipien-kommunistischer-produktion-und-verteilung/, meine Hervorhebung; die Zitate im Zitat stammen von Marx)

Lueer geht zu Recht davon aus, dass auch im Kommunismus mit unterschiedlicher Produktivität produziert wird. Andernfalls könnte es so etwas wie eine »gesellschaftliche durchschnittliche Arbeitszeit« schließlich gar nicht geben. Diese Arbeitszeit, »die in der Konkurrenz der Warenproduktion hinter dem Rücken der Menschen als Sachzwang herrscht«, soll nun »zum bewusst angewandten Maßstab« werden. Dazu muss man sie aber berechnen. Doch was heißt das eigentlich und wozu sollte das gut sein?

Bei Marx ist das Zeit von einfacher Durchschnittsarbeit, ohne besondere Qualifikation, mit durchschnittlicher Intensität ausgeführt. Allein das zu berechnen, würde verlangen, dass jede qualifizierte Arbeit, die ja nichts ist als ein mehrfaches der einfachen Arbeit, erst einmal mit einem bestimmten Faktor umgerechnet werden müsste. Also etwa 1 Stunde Schlosserarbeit entspricht 3 Stunden einfacher Durchschnittsarbeit, 1 Stunde Technikerarbeit entspricht 4 Stunden einfacher Durchschnittsarbeit usw. Allein solche Berechnungen wären bei all den unterschiedlichen Qualifikationen, die es gibt, ein Heidenaufwand, damit man überhaupt eine Grundlage bekommt für den gesellschaftlichen Durchschnitt. Wie will man diesen Umrechnungsfaktor für die jeweilige Qualifikation festlegen? Viel Vergnügen.

Die wichtigere Frage ist aber: Wozu braucht man diese Durchschnittsarbeitszeit im Kommunismus?

Auch in der allgemeinen Warenproduktion ist das ja keine feste Größe, sondern gibt nur an, wohin die Ausgleichsbewegung tendiert. Beherrscht wird diese Ausgleichsbewegung in der allgemeinen Warenproduktion konkret vom Diktat, das die produktivere Arbeit über die unproduktivere ausübt. Will man dieses Diktat im Kommunismus übernehmen, indem man auch da auf jeden Fall alle Produktion stilllegt, die nicht wenigstens mit durchschnittlicher Produktivität erfolgt?

Nehmen wir an, in Hamburg, Köln und München gibt es die Fertigung eines gleichen Gebrauchsgegenstandes zur Befriedigung der entsprechenden Bedürfnisse auf dem Gebiet des heutigen Deutschland. In Hamburg ist die Arbeitsproduktivität am geringsten, in München am höchsten. Auch im Kommunismus werden die Bedürfnisse schwanken, und nehmen wir weiter an, von dem erwähnten Gebrauchsgegenstand werde weniger benötigt, sodass Überkapazitäten bestehen. Wird das automatisch dazu führen, dass Produktion in Hamburg stillgelegt wird, weil sie am wenigsten produktiv ist? Könnte es nicht andere Erwägungen geben, die dazu führen, an allen drei Standorten die Produktion zu verringern? Vielleicht wollen sogar die Hamburger einfach gern ihre Produktion – wenn auch in geringerem Umfang – behalten, womöglich sogar, weil sie ihnen Spaß macht? Vielleicht freuen die Münchener sich sogar darauf, einen Teil ihrer Produktion stilllegen zu können, aus anderen Gründen. Entscheiden im Kommunismus die Menschen oder die errechnete Durchschnittsarbeitszeit darüber?

Die im gesellschaftlichen Durchschnitt benötigte Arbeitszeit, von der Marx spricht, lässt sich meines Erachtens nicht berechnen, und man braucht sie auch für nichts! Was man braucht, ist eine Rechnung mit der tatsächlich konkret benötigten Arbeitszeit.

Aus meiner Sicht ist die Position von Marx richtig. Ihr seht das anders. Für notwendig haltet ihr lediglich »grobe Vorstellungen darüber, wieviel Arbeitsaufwand etwas erfordert«, und es gelingt euch nicht, den Unterschied zwischen einer kommunistischen Arbeitszeitrechnung und dem »Messen der Tauschwerte […] durch die Arbeitszeit« (Marx) zu fassen. Tatsächlich verwischt ihr ihn. Ihr erklärt es ausdrücklich für unmöglich, festzustellen, »wieviel Arbeitszeit in jedem einzelnen Produkt steckt«, und seht bereits in dem Versuch eine »schlechte Imitation des kapitalistischen Marktes«. Ein »engmaschiges Netz der Zeiterfassung und -kalkulation«, dass über die Gesellschaft gelegt würde, müsste nach eurer Meinung scheitern.

An anderer Stelle aber lobt ihr in Form eines allgemeinen Bekenntnisses zu den neuen Technologien die Möglichkeiten, »mittels Computer und Netz« zu planen. Demnach

eröffnen sich mit der Informationstechnik völlig neue Möglichkeiten, die Produktion ohne zentrale Planungsbehörde zu koordinieren und auf die Bedürfnisse abzustimmen. Was gebraucht wird, dürfte sich mittels Computer und Netz viel einfacher ermitteln lassen als per Post und Kommissar; wo Not am Mann, der Frau oder anderen Menschen ist, ebenfalls. […] Alle Vorgänge wären für jeden, den es interessiert, einsehbar; die Transparenz des Ganzen, die sich Pannekoek von der Abschaffung des Einzelbetriebs versprach – »Jetzt liegt die Struktur des gesellschaftlichen Prozesses wie ein offenes Buch vor den Augen der Menschen« –, würde in einem Maß wahr, von dem er 1947 noch nichts ahnen konnte. (Meine Hervorhebungen)

Bleibt zu hoffen, dass es genug Interessierte gibt! Hier haltet ihr jedenfalls ein über die Gesellschaft gelegtes Netz der Datenerfassung nicht für illusorisch und zum Scheitern verurteilt. Denn woher sollte sonst die Transparenz kommen? Es wäre interessant zu wissen, was konkret damit gemeint ist, dass der gesellschaftliche Prozess »wie ein offenes Buch vor den Augen der Menschen liegt«. Welche Informationen wären dazu nötig?

Während ihr munter euren utopischen Gedankenspielen nachgeht, schreibt ihr:

Weil einem die Soziologen heute mit Modewörtern wie »Kommunikation«, »Netzwerk«, »Wissensgesellschaft« etc. pp. in den Ohren liegen, schämt man sich solcher Gedankenspiele fast. Sie drängen sich aber auf, und an den vielfältigen Möglichkeiten, die die digitale Technik einem freien Gemeinwesen bietet, lässt sich die Borniertheit derjenigen ermessen, für die sie nur die endlich entdeckte Form einer perfektionierten Arbeitszeitmessung darstellt. (Meine Hervorhebungen)

Ja, sie drängen sich auf, aber man sollte sie doch eher lassen. Der »Bannfluch« der Borniertheit trifft ohne Zweifel auf mich zu … und ich will im Folgenden wenigstens kurz andeuten – ohne detaillierte Ausarbeitung unter Berufung auf die ärgerliche und störende Empirie –, worauf diese »Borniertheit« beruht. Doch der Reihe nach.

 

VI.

Wenn man den Wert berechnen wollte, nämlich die »gewichtete« Arbeitszeit (gewichtet nach im gesellschaftlichen Durchschnitt benötigter Zeit einfacher Arbeit, die ohne besondere Qualifikation jeder ausführen kann – eben abstrakte Arbeit oder Arbeit schlechthin), dann wäre das ein Ding der Unmöglichkeit. Allein die Reduzierung qualifizierter Arbeit auf einfache Durchschnittsarbeit ist, wie oben in der Kritik an Hermann Lueer bemerkt, nicht berechenbar und ich kann mir das nicht anders vorstellen als einen wildwüchsigen, gewaltsamen Prozess, der eben auch nur der Tendenz nach die Äquivalenz im Tausch herstellt. (Eine tatsächliche Äquivalenz zu jedem beliebigen Zeitpunkt gibt es sowieso nicht).

Diese Gewichtung ist Resultat eines Prozesses, der hinter dem Rücken der Akteure abläuft und nicht durch Rechnung zu erfassen ist. Wenn man den Wert – als die Zeit, die solche abstrakte Arbeit dauert – berechnen wollte, dann wäre das in der Tat der vergebliche Versuch einer »schlechten Imitation des kapitalistischen Marktes«. Für Planung im Kommunismus braucht man das sicher nicht. Den tatsächlichen Aufwand an konkreter Arbeit aber muss man schon möglichst genau kennen, sonst ist jede Planung hohle Brosche, im Einzelbetrieb, wie auf gesellschaftlicher Stufenleiter.

Das ist besonders wichtig etwa für eine Betrachtung des Verhältnisses von Nutzen und Aufwand, einer Abwägung, die auf gesellschaftlicher Ebene heute überhaupt nicht stattfindet. Man kann sich also im Kommunismus fragen: Wollen wir für diesen Gebrauchswert mit beschränktem oder gar zweifelhaftem Nutzen einen solchen Arbeitsaufwand betreiben oder lassen wir das lieber? Im Kapitalismus geht es nur darum, welche (Privat-)Produktion profitabel ist, also Lohnarbeitsplätze schafft, die erfolgreiche Kapitalverwertung ermöglichen. (»Sozial ist, was Arbeit schafft«.) Im Kommunismus geht es auch, wie Marx sagt, um die »Reduktion von Arbeit überhaupt«.

 

VII.

Für die Frage der Möglichkeit und Notwendigkeit einer Arbeitszeitrechnung gilt wie für andere Fragen einer kommunistischen Alternative: Alle unsere Überlegungen sollten ausgehen von dem, was ist – und gerade daran hapert es allenthalben in der radikalen Linken. Es ist zum Beispiel nicht der Fall, dass die Belegschaften die konkreten Abläufe in ihrem Unternehmen kennen, wie ihr schreibt. Damit macht man sich etwas vor und unterschätzt die Wirkungen der Arbeitsteilung, der die Leute unterworfen sind. Für die einzelnen LohnarbeiterInnen ist das Ganze überhaupt nicht transparent. Man weiß in der Regel nicht, was in einer anderen Abteilung passiert, welche Belastungen die Arbeiten dort mit sich bringen usw. Man weiß aber immer sehr genau, wer unfähig, faul etc. ist (»Sesselpupser«) und welche Arbeiten überhaupt überflüssig wären. Das habe ich immer wieder erfahren und bin auf Grund meiner Erfahrungen und Kenntnisse dagegen angegangen.

Um beurteilen zu können, was da an Arbeitszeitrechnung geht und was nicht, sollte man mindestens die heutige betriebswirtschaftliche Praxis einigermaßen kennen. Zu den heute in jedem Betrieb gehüteten Betriebsgeheimnissen gehört auch die Kalkulation im »magischen Dreieck« von »Kosten-Zeit-Qualität«. Eine gesellschaftliche Transparenz existiert nicht. Die mittlerweile praktizierte Datensammlungs- und verknüpfungswut wird bestimmt durch Interessen des Privateigentums (Woraus lässt sich Profit machen?) – und bricht sich auch daran (Wie lässt es sich vermeiden, dass auch andere Privateigentümer Profit daraus machen?). (3)

Wenn man in der Lage ist, die Kosten für ein Produkt ziemlich genau zu errechnen, dann gilt das genauso für die Arbeitszeit; die Kosten für das Endprodukt entstehen ja auch einfach durch Aufsummierung, der Kostpreis auf jeder Stufe der Fertigung geht in den der nächsten Stufe ein. Dazu müsste einfach jeder Lieferant die bei seiner Fertigung benötigte Arbeitszeit bei Lieferung des Produkts als Information mitliefern. Für die Zeitrechnung selbst hat man sogar »Industriestunden« und »Industrieminuten« (ein Hundertstel einer Industriestunde) erfunden, um vereinfacht und sehr genau mit Dezimalwerten rechnen zu können. Die Industriezeit wird dann am Schluss wieder umgerechnet in normale Stunden und Minuten.

Die tatsächlich benötigte Zeit für unterschiedlich qualifizierte Arbeiten zu ermitteln, ist kein Hexenwerk, kein »aberwitziger Aufwand«, wie ihr behauptet. In jedem halbwegs nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen geführten Industrieunternehmen liegen die Daten vor, werden erfasst für die Kalkulation im »magischen Dreieck« von »Kosten, Zeit und Qualität«. Das gilt von allen Stufen der industriellen Fertigung, angefangen bei der Rohstoffgewinnung im Bergbau, der Werkstofferzeugung etwa in der Stahl- und Chemieindustrie, der weiterverarbeitenden, formgebenden Industrie (etwa Metallverarbeitung) bis hin zur Fertigung von Endprodukten. Der »aberwitzige Aufwand« bestünde allein darin, in allen Betrieben eine Datenbank mit gleichem Design einzusetzen, auf die man dann via Netz mit Abfragen zugreifen kann. Ein Statistikamt der »Weltcommune« müsste dann – je nach Bedarf – die Auswertungen fahren, um Grundlagen für gesellschaftliche Planung bereitzustellen. Eine solche zentrale Datenerfassung wäre nötig auch ohne »zentrale Planungsbehörde«. Mit heutigen Rechnern, Servern und Netzwerken wäre das kein Problem, zumal die Serverkapazitäten im Kapitalismus mit einem unglaublichen Mist zugemüllt werden.

 

VIII.

Das Problem eurer Behandlung des Themas liegt schon darin, dass ihr die Frage einer Arbeitszeitrechnung im Grunde ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Verteilung diskutiert: Sollte die Arbeitsleistung der Individuen Maßstab für die Zuteilung von Gebrauchwerten sein oder nicht? Das ist aber, wie oben ausgeführt, allenfalls ein untergeordneter Teilaspekt der Frage nach Sinn und Notwendigkeit einer Arbeits- und Produktionszeitrechnung. Leider sind die Kommunist*innen von heute echte »Überflieger«, was Kenntnisse über Produktion anbetrifft. Das ist eine denkbar schlechte Grundlage, um überhaupt über eine andere Produktionsweise nachzudenken, und endet regelmäßig in zweifelhaftem Utopismus – sei er sympathisch, wie bei euch, oder unsympathisch wie bei den Staatssozialisten.

In euren sympathischen utopischen Ausflügen sehe ich vor allem einen Verteilungskommunismus. Die Verteilungsfrage steht absolut im Vordergrund. Das beginnt bei der Arbeitszeitrechnung und endet bei euren Vorstellung zum Übergang. So schreibt ihr über den Prozess der Revolution:

Entscheidend wäre, das Eroberte sofort zur Ausweitung der Bewegung zu nutzen, ohne die alles wieder in sich zusammenfallen würde. Güter müssten einfach verteilt, Dienste wie medizinische Versorgung und öffentlicher Verkehr ebenfalls kostenlos bereitstehen; das Geld würde nicht wie im sowjetischen Kriegskommunismus per Dekret »abgeschafft«, sondern überflüssig, zumal es in einer schweren sozialen Krise vermutlich ohnehin entwertet wäre. (Meine Hervorhebung)

Dann heißt es weiter:

Die kaum zu überschätzende Herausforderung besteht jedoch darin, über Beschlagnahmung und Verteilung von Gütern hinaus die Produktion auf neuer Grundlage wieder in Gang zu setzen. Wie der eigene Betrieb funktioniert, das wissen noch am ehesten die dort Beschäftigten, ohne deren Kooperation auch im Hightech-Zeitalter gar nichts läuft; mit Unterstützung aller daran Interessierten könnten sie sofort damit beginnen, die Abläufe ihren Bedürfnissen anzupassen, die Produktion sofern nötig auf die Erfordernisse der Bewegung umzustellen und ihre Erzeugnisse der embryonalen Commune zu schenken. (Meine Hervorhebung)

Ja, wenn die leidige Produktion nicht wär‘, dann gäbe es eigentlich keine große Herausforderung für die kommunistische Verteilung. Aber selbst die »kaum zu überschätzende Herausforderung [], die Produktion auf neuer Grundlage wieder in Gang zu setzen«, endet prompt in einer Schenkung an die Commune.

Das Dumme ist nur, dass die Produktion eben auf alter »Grundlage« wieder in Gang gesetzt werden muss. Eine andere existiert nämlich noch nicht. Die alte Grundlage, das sind eben die vorhandenen Produktionsstätten mit all dem Scheiß, der damit produziert wird, und es sind die Menschen mit ihren in der alten Gesellschaft erworbenen Kenntnissen und Fertigkeiten – beziehungsweise mit einem Mangel daran. Euer Verweis darauf, dass die »Beschäftigten« noch am ehesten wissen »wie der eigene Betrieb funktioniert«, soll euch aus der Patsche helfen. Tut er aber nicht. Die wissen das nämlich nicht! Es ist allein die Summe ihrer Kenntnisse und Fertigkeiten, in denen sich das Funktionieren »ihres Betriebes« niederschlägt. Im übrigen sind alle Beschäftigten »Fachidioten«, die kaum über ihren sehr begrenzten Arbeitsbereich hinaus über Kenntnisse verfügen. Alle Kooperation, die nötig ist, ist aufgezwungen im Kapitalismus. Jetzt, im Kommunismus, wollen sie freiwillig und bewusst kooperieren, aber das alte Erlernte erschwert dies ungemein.

Die Abläufe sollten den Bedürfnissen der Produzenten angepasst werden, schreibt ihr. Welche Bedürfnisse zum Beispiel nach Rotation und vor allem welche Fähigkeiten dazu sind denn schon vorhanden? Will der Ingenieur oder Facharbeiter denn auch die notwendigen einfachen Arbeiten verrichten? Kann derjenige, der nur einfache Arbeiten gemacht hat, jetzt plötzlich auf die Position des Facharbeiters oder Ingenieurs wechseln? Welche Kenntnisse über die Gesamtabläufe sind denn bei wem vorhanden? Vor allem aber: Welche Bedürfnisse verbinden sich mit diesen unterschiedlichen Tätigkeiten. Egal, wie und wo, wir stoßen überall auf die alten Grundlagen, die nur sehr allmählich, über Generationen verändert werden können.

 

Robert Schlosser

März 2019

 

 

(1) Gleichzeitig versteigt ihr euch in dem Text zu der These, »der Zweck der Mehrwertproduktion« sei »der Maschinerie nicht äußerlich, sondern durchformt sie und den gesamten Arbeitsprozess«. Stimmte das, wären die Muttermale noch größer!

(2) Ihr schreibt dazu: »Die möglichst rasche Auflösung der Trennung von Hand- und Kopfarbeit hätte deshalb von vornherein richtungsweisend für die sozialrevolutionäre Bewegung zu sein«. Was meint ihr denn, wie lange »möglichst rasch« so grob dauert? Das ist aus meiner Sicht wenig mehr als ein frommer Wunsch. Es wird lange dauern und man hat also lange mit der bestehenden Trennung von »Konzeption und Ausführung« (Braverman) zu arbeiten und zu leben.
Dann heißt es: »Die Kommunarden müssten nicht nur eine neue Energieversorgung erfinden, sondern wären vermutlich lange Zeit mit dem Rückbau solcher Nichtorte und der Sanierung von Slums im globalen Süden, mit der Umgestaltung der Landwirtschaft und der Renaturierung zerstörter Gegenden beschäftigt, ohne dabei auf nennenswerte Hilfe von Robotern zählen zu können.« Aber auch diese lange Zeit
ist für euch offenbar kein Grund, von einer Übergangsgesellschaft zu sprechen.

(3) »Es vergeht kein Tag, an dem nicht jemand die Öffnung existierender Daten für weitere Zwecke oder die Verknüpfung bisher getrennter Daten fordert", sagte Ulrich Kelber, der neue Bundesbeauftragte für Datenschutz dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). "Andere Daten werden teilweise jahrzehntelang nicht gelöscht. Es gibt eine wahnsinnige Datensammelwut." https://www.heise.de/newsticker/meldung/Datenschutzbeauftragter-sieht-wahnsinnige-Datensammelwut-des-Staates-4322247.html