Über den kommenden Aufstand
»Die Ablehnung der Entfremdung in der Gesellschaft der christlichen Moral hat einige Menschen zum Respekt vor der völlig irrationalen Entfremdung der primitiven Gesellschaften gebracht – das ist alles. Wir müssen weitergehen und mehr Rationalität in die Welt bringen – das ist die Vorbedingung, um in ihr die Leidenschaft zu entzünden.«
Guy Debord, Rapport über die Konstruktion von Situationen
Anfang des Jahres 2011, als die Krise der Ökonomie in einzelnen Ländern bereits zu größeren und kleineren Unruhen geführt hatte, sorgte die deutsche Veröffentlichung der in Frankreich längst erschienenen Schrift Der kommende Aufstand unter hiesigen Radikalen, Intellektuellen und Journalisten für einige Aufregung.1
Das Buch genoss die zweifelhafte Ehre, im Feuilleton sämtlicher größerer Zeitungen besprochen zu werden. So angetan die verhinderten Kurzwarenhändler von dem delikaten Stil der Autoren im Allgemeinen auch waren, deren kaum wegzudeutende Gewaltverherrlichung verdarb so manchem dann allerdings doch ein wenig den Appetit. Besonders herausgefordert oder bedroht fühlten sich dabei in erster Linie Sozialdemokraten und linke Politiker, die sich nicht anders zu helfen wussten, als das Büchlein zu einem reaktionären, vor allem von Heidegger beeinflussten Machwerk zu deklarieren. Flugs wurden nach der Identifizierung der eigenen Studienschwerpunkte, die sie in dem Büchlein ausfindig zu machen glaubten, die Griffel gezückt, um sich mit der Abfassung lauter kleiner Verfassungsschutzberichte wieder zu beruhigen.
Auf der anderen Seite positionierten sich die jungen Konsumenten der Pseudokritik. Fasziniert von der nebulösen Aura des Komitees strömten sie zu Diskussionsveranstaltungen über das Buch, um jeden Esprit durch die Frage nach dem Einfluss Foucaults wieder auf das Niveau ihrer Uniseminare herunterzuquälen. Materialistische Kritiker des Pamphlets wurden mit Verweis auf den imaginären Fußnotenapparat (Agamben! Žižek!! Deleuze!!! Agamben!!!!) zurechtgewiesen, die Anmaßung einer Lektüre unter Aussparung von Meisterschwätzern entschieden bekämpft.
Sowohl jene, die das Büchlein mit einem Verweis auf seinen Heidegger erledigen wollten, als auch jene, die es mangels irgendeiner Ahnung von Poesie für ebendiese hielten, präsentierten sich als würdige Teilnehmer am demokratischen Diskurs der Herrschaft. Dem kann man im Einklang mit dem Komitee getrost antworten: »wir scheißen darauf«.2
Jenseits solcher deutschen Diskussionen hat das Buch aber auch eine internationale, revolutionäre Karriere vorzuweisen. Nur wenige maximalistische Bücher der letzten Jahre trafen in verschiedenen Ländern auf ein ähnlich starkes Interesse und sorgten in den rebellischen Milieus für vergleichbare Diskussionen. Zu den deutschen Aufständen in den Köpfen haben sich mittlerweile wirkliche Aufstände gegen die herrschenden Verhältnisse gesellt, vor denen sich die Phrasen des Aufstands beweisen müssen. Trotz der abschreckenden Ödnis hiesiger Debatten ist es also lohnenswert, den Text mit den Basisbanalitäten revolutionärer Vernunft zu konfrontieren.
Der in sieben Kreisen ausgemalten Diagnose des gegenwärtigen Elends als sozialer Katastrophe kann wohl jede intuitiv erst einmal folgen: Ausgehend vom atomisierten Ich, der psychotechnischen Anordnung ausgesetzt, »jemand zu sein«, bis hin zur Gesamtgesellschaft als einem Trümmerhaufen, dessen Aufrechterhaltung repressiv organisiert wird, mit solch einer Ordnung kann es keine Versöhnung geben. So wie die Herrschaft sich an allen Ecken und Enden selbst blamiert und Risse bekommt, so macht sich auch jede Initiative lächerlich, die diesen Verhältnissen noch ein Quäntchen »Nachhaltigkeit« auszupressen versucht. Mit einer selten gewordenen Schärfe denunzieren die Autorinnen die Reaktionäre der Bio-Ökonomie, die Asketen der décroissance und Prediger esoterischer Ökologiezufriedenheit, die »unter dem Vorwand, die Erde zu retten, nur das Fundament dessen rettet, was sie zu diesem trostlosen Gestirn gemacht hat«.
Die unversöhnliche Ablehnung, mit der das Komitee der Reformierung der Herrschaft und der politischen Beteiligung an ihrer Aufrechterhaltung gegenübersteht, radikalisiert sich zu einer Feier des »Zerfall(s) aller sozialen Formen« als »einmalige Gelegenheit«. Ganz nach Nietzsches Wort »Was fällt, das soll man auch noch stoßen!«, bestimmen die Autoren die revolutionäre Aktion als Angriff auf die ohnehin schon berstende Ordnung. Keine schlechte Idee, möchte man meinen, angesichts einer Welt, die überall in Flammen steht und in der ununterbrochen neue Revolten zu verzeichnen sind.
»Es herrscht große Unordnung unter dem Himmel, die Lage ist ausgezeichnet« – dieses maoistische Partisanenmotto schreibt den Plot für eine Geschichtsbetrachtung, die jenen den Triumph in Aussicht stellt, die sich von dem stinkenden Leichnam des Kapitalismus am konsequentesten verabschieden. Wer angesichts einer »Zivilisation im Zustand klinischen Todes« noch Bündnisse mit der alten Welt eingeht, dem ist einfach nicht mehr zu helfen. Zumal es bei dem tendenziellen Miteinander von Systemkataklysmus und revolutionärer Aktivität ausreicht, »das zu sagen, was man vor Augen hat, und die Schlussfolgerung nicht zu umgehen«. Ist es doch »das Privileg der radikalen Umstände, dass die Genauigkeit dort in guter Logik zur Revolution führt«.
Angestachelt vom Triumphgeschrei des »je schlimmer, desto besser« besaufen sich die Schreiber jedoch an dem Pathos, mit dem sie die den Untergang der Zivilisation beschwören. Das Buch ähnelt dabei einer Predigt, die die Hölle ausmalt, um die Schäflein dann ins Trockene der eigenen Doktrin zu treiben. Oder wie es das Komitee formuliert: um sie zur »Entscheidung« für oder gegen die Anarchie des Zusammenbruchs zu zwingen. Man muss nicht von jedem Pamphlet einen ausgebufften Theorieapparat verlangen, und doch muss man von der Schmach, die man noch schmachvoller machen will, einen Begriff haben, soll nicht alles in den Nebelschwaden von brennenden Barrikaden und Tränengas untergehen. Und genau ein solcher verschwindet in der martialischen Eindringlichkeit, die über die Ordnung und alle versuchten Angriffe auf sie einen mystischen Schleier breitet. Unfähig, die Widersprüche dieser Gesellschaft als Widersprüche der gesellschaftlichen Produktionsweise und ihrer Gegner zu reflektieren, lebt das Büchlein voll und ganz von der Beschwörung eines Untergangszenarios, eines baldigen Armageddon. So entpuppt sich die Parole, mit der Wirklichkeit Schritt zu halten, als falsches Versprechen, das in eine Sackgasse der Geschichte einlädt, die wiederum das mangelnde Verständnis der gegenwärtigen Situation spiegelt. In seiner Kompromisslosigkeit, mit der das Buch die Gesamtheit der gegenwärtigen Herrschaft aufs Korn zu nehmen versucht, liegt gerade seine größte Stärke, die zugleich seine größte Schwäche ist. Die Revoluzzerfibel hilft nicht weiter, wenn man verstehen will, worin einerseits die Krise der Verhältnisse und andererseits die Ohnmacht besteht, zu der die gegenwärtige Ordnung das Gros der Menschen verdammt. Nicht zuletzt die Schmähung der Bündnisse mit der alten Welt verkommt zur Phraseologie, wenn keinerlei Anstrengungen unternommen werden, ihr Fortdauern zu begreifen.
Diese Begriffslosigkeit beginnt bereits mit der anfangs erwähnten Vorstellung vom Ich. Wenn vom Subjekt die Rede ist, dann als »gesellschaftliches Atom« oder als »Individuum in Scherben«. Es scheint, als bestünde die Gesellschaft aus lauter beziehungslosen Monaden, die nur von äußerlichem Zwang zusammengehalten werden. So sehr dies der unmittelbaren Alltagswahrnehmung auch einleuchten mag, bildet dieses Subjekt (dessen Mündigkeit gerade Dreh- und Angelpunkt bürgerlicher Ideologie war) jedoch nur die eine Seite kapitalistischer Vergesellschaftung. In dem Maße, wie die sozialen Akteure nur noch als atomisierte, »feine paranoide Teilchen«, das soziale Gefüge nur noch in Form eines »Volkes von Fremden« erscheinen, verschwindet ihre grundlegende Gesellschaftlichkeit, die vom Standpunkt der Emanzipation aus betrachtet sowohl Elend als auch Potenziale verkörpert: »Die Vergesellschaftung durch das Kapital bleibt eine widersprüchliche, weil sie die Menschen durch das, was sie verbindet, ebenso trennt. (…) Die Arbeit ist gesellschaftlich, nämlich Produktion für andere, und zugleich ungesellschaftlich, nämlich in voneinander getrennten und gegeneinander produzierenden Betrieben verrichtete Arbeit, die ihre gesellschaftliche Gültigkeit erst im Austausch erfährt.«3
Ausgehend von der Selbsttäuschung über die gesellschaftliche Synthesis und ihr Movens ziehen sich über das Blickfeld des Komitees Schliere um Schliere, bis schließlich die ganze Perspektive verschwimmt: Der Trieb des Kapitals, seine Akkumulation quantitativ ins Unermessliche zu steigern, verschwindet hinter dem Selbstzweck der Aufrechterhaltung der »Zivilisation«, die »bestimmt, besetzt, kolonisiert«. Überall, wo brauchbare Erkenntnisse über die spätkapitalistische Herrschaft herausspringen könnten, wird jeder hilfreiche Gedanke von den Kampfparolen des Komitees verscheucht.
Am offensichtlichsten wird dieser Mangel an den Überlegungen zur Arbeit. Wie so häufig bleibt der umherschweifende Blick des Komitees an einem entscheidenden Phänomen unserer Epoche hängen: dem weltweit immer stärkeren Anwachsen der für den Produktionsprozess überzähligen Arbeitskraft, das mit einem immer intensiveren Zwang zur Arbeit einhergeht. Das Komitee fasst es als Paradox, dass die Arbeit »restlos über alle anderen Arten zu existieren triumphiert [hat], genau in der Zeit, als die Arbeiter überflüssig geworden sind«. Ebenso »heimtückisch (…) verschmolzen« scheint den Autorinnen der Zustand, dass »für das gute Funktionieren der Maschine« auf die »notwendigen« Arbeiter dennoch nicht verzichtet werden könne. Bei diesen Irritationspunkten hält sich das Komitee jedoch nicht lange auf, bald ist kurzerhand vom »physischen Verschwinden« der Arbeit die Rede, die historische Tendenz scheint zu ihrem Ende gekommen. Kaum wichtig, dass in Frankreich selbstverständlich noch Fließbänder laufen, kaum interessant, dass das Kapital zur Steigerung der Produktivität beständig seine organische Zusammensetzung erhöht und durch die damit verbundene relative Verringerung der lebendigen Arbeit die Springquellen des Profits untergräbt. Die Feinde der Kontrollgesellschaft halten sich nicht gerne bei solchen profanen Spitzfindigkeiten auf und sehen nur »die Entschlossenheit der herrschenden Mächte, die Herrschaft der Arbeit über ihr physisches Verschwinden hinaus aufrechtzuerhalten«. Denn aus Sicht des Komitees gilt: »Heute hängt Arbeiten weniger mit der ökonomischen Notwendigkeit, Waren zu produzieren, zusammen, als mit der politischen Notwendigkeit, Produzenten und Verbraucher zu produzieren, die Ordnung der Arbeit mit allen Mitteln zu retten.« Nicht Ausbeutung, sondern Dressur gilt ihnen als Zweck der Plackerei, denn man hat »bis heute keine bessere Disziplinierungsmethode als die Lohnarbeit gefunden«.
Schief ist dieser Begriff von Arbeit deswegen, weil die Notwendigkeit, mit der Produzenten und Konsumenten erzeugt werden, die es politisch zu verwalten gilt, nicht mit der Notwendigkeit des Verwertungsprozesses, also der Notwendigkeit Waren zu produzieren, zusammengedacht wird, sondern in der Wolke eines »weniger als« verschwindet. Dabei wird zum einen der unersättliche Heißhunger nach Mehrwert, der die Triebfeder der Ökonomie bildet, ausgeblendet, zum anderen die allseitige Abhängigkeit der Menschen voneinander, die durch diese Produktionsweise hergestellt wird.
Wo sich materialistische Beobachter der Verhältnisse über das immer weitere Anwachsen der Surplusbevölkerung, die weltweite Proletarisierung bei gleichzeitigem Ausbleiben der Absorbierung in die Produktion und den Niedergang der Profitraten den Kopf zerbrechen könnten, sieht das unsichtbare Komitee nur Monaden, die zur Sicherung der Ordnung zur ihnen äußerlichen Arbeit gepeitscht werden sollen – alles nur ein weiterer Beweis für die Zivilisation im Niedergang.
Wohl auch wegen der häufigen Bezugnahme auf die Aufständischen in den französischen Banlieues wurde das Pamphlet hierzulande irrigerweise als eine Art politisches Manifest der eigentlich sprachlos gebliebenen Revolten in den Vororten interpretiert. Auch wenn eine solche Anmaßung selbstverständlich zurückzuweisen ist, trifft die Identifikation der in Der kommende Aufstand vertretenen Perspektive mit der der Ghetto-Kids aber zumindest ihre gemeinsame Begrenztheit. Während das Komitee mit halbgaren Behauptungen zum Ende der Arbeit hausieren geht, sammelt sich in den Trabantenstädten tatsächlich ein Proletariat, das für die Verwertung dauerhaft überflüssig geworden ist und kaum mehr etwas zu hoffen hat. Es scheint, als spiegele das Komitee diesen – keineswegs verallgemeinerbaren – Zustand kapitalistischer Nutzlosigkeit totalisierend in sein Gesellschaftspanorama hinein. Da die Abgehängten von der Produktion ausgeschlossen, jeder Aussicht auf ihre Bemächtigung enteignet sind, verengt sich ihre Kampfperspektive auf ein zukunftsloses Gerangel mit dem Staat und den ihm angeschlossenen Apparaten um die Dominanz auf dem Territorium. Genau dieser jämmerliche Ausdruck der Machtlosigkeit wird – weil unverstanden – in der Perspektive des Komitees zum entscheidenden Dreh- und Angelpunkt des Aufruhrs: In den Scharmützeln zwischen Flics und Banlieue- Kids entdeckt es das Signum der Gegenwart, die von allen Agenturen der Macht, von der Intelligenzija bis zur Polizei, repressiv kontrolliert werden muss. Wie sehr der Weltenlauf in den Augen des Komitees durch den bloßen Selbstzweck der Aufrechterhaltung der Ordnung dominiert wird, lässt sich aus einer übergeschnappten Verlautbarung der ehemaligen Gefangenen von Tarnac 4 zu den Aufständen in der arabischen Welt folgern. Nachdem darin ein großer Bogen des Aufstands von Tunesien bis in die französischen Vorstädte gespannt wurde, kommt man auf die überall gleichermaßen präsenten »konterinsurrektionellen Doktrinen« zu sprechen, in deren Fokus man, wie könnte es anders sein, zuvorderst selbst steht: »So wie wir uns weigern, die Verkettung der Ereignisse, die von der Selbstentzündung von Mohamed Bouazizi zur Flucht von Ben Ali geführt haben, als Wunder anzusehen, weigern wir uns auf der anderen Seite, die verschämte Gleichgültigkeit als normal anzuerkennen, auf die die Verfolgung von Oppositionellen seit etlichen Jahren stößt. Was wir seit drei Jahren erleben, wir und eine gewisse politisierte Jugend, zeugt mit Sicherheit bis zu einem gewissen Grad davon. In den letzten drei Jahren sind in Frankreich mehr als zwanzig Genossen durch das Gefängnis gegangen, in den meisten Fällen unter dem Vorwand des Anti- Terrorismus und mit lächerlichen Begründungen – Pyrotechnik, Zukleben von Fahrscheinautomaten, ein verpatzter Versuch, ein Auto anzuzünden, Plakatieren von Postern oder auch wegen eines Fußtritts.«5 Der Aufstand gegen einen tunesischen Despoten und das Kleben von Plakaten in Paris – nach Abzug aller gesellschaftlichen Bestimmungen lässt sich auf dem Grund all dieser Phänomene ein gemeinsamer Nenner entdecken: Die Repression gegen die Freiheit durch die äußere Gewalt in Gestalt des Staates – und gegen den muss gekämpft werden.
Spätestens hier fällt den Autorinnen die beim ersten Lesen sympathisch erscheinende Verweigerung gegenüber jeder Versöhnung mit der Herrschaft auf die Füße. Eingeebnet in einen Interpretationsrahmen, der jede eigene Verstrickung in das gesellschaftliche Verhältnis ignoriert, scheint das Schweinesystem uns als eine rein äußerliche Gewalt gegenüberzutreten, und ausgehend von solch dichotomer Feindbestimmung bezieht auch die martialische Prosa der Kriegsführung ihr Pulver. Das unsichtbare Komitee gelangt so zur Betrachtung der Revolution unter militärischen Gesichtspunkten, auch wenn es scheinbar das Gegenteil schreibt: »Ein Aufstand triumphiert nur als politische Kraft«. Das subversive Geschehen dreht sich für die Insurrektionalisten in erster Linie um die Konfrontation mit dem Staat. »Wir leben unter Besatzung, unter polizeilicher Besatzung«, heißt es an einer Stelle, und die militante Antwort darauf lautet: »Die Kommune ist die elementare Einheit der Partisanenwirklichkeit.«Die existenzielle Entscheidung, auf die das unsichtbare Komitee drängt, ist die Entscheidung für die militanzfetischistische, klandestine Avantgarde-Gruppe und deren Kartoffelacker. Während sie alle Milieus mit vollem Recht als die Orte des Schlafs der revolutionären Vernunft denunzieren, fällt diese Pose gerade bei denjenigen auf fruchtbar-fauligen Boden, die daran arbeiten, selbst eines zu schaffen. Die Kritik der Milieus müsste diese als ein Produkt des Verfalls radikaler Bewegungen zu fassen bekommen, der in der schwammigen Selbstversicherung des »Wir-gegen-die« endet. Eine Identitätsbildung, an der das Komitee mit vollen Kräften mitarbeitet. Der Glaube an den Primat des Politischen, der sich an anderen Stellen des Textes, etwa wenn es heißt, dass in Frankreich »die industrielle Macht immer der staatlichen Macht unterworfen« sei, bereits andeutet, wird in der Revolte als Partisanenkriegsführung zu Ende gedacht. So verengt sich die Frage von Erfolg und Misserfolg auf den Fortschritt in der Anfechtung des staatlichen Gewaltmonopols und der Befreiung des Terrains von Polizei und Militär. Zwar gesteht das Komitee durchaus zu, dass man in der Auseinandersetzung militärisch nicht mit dem modernen Gewaltapparat konkurrieren kann. Jedoch kann die sicherheitspolitische Sicht auf die Krisenhaftigkeit der Weltläufe, in der der Staat als das »Gerüst der (…) Subjektivitäten« fungiert, keine weiteren Felder der Auseinandersetzung identifizieren. Über den Staat als Organisator der Reproduktionsbedingungen des Kapitals, das es zusammen mit ihm in die Zange zu nehmen gälte, erfahren wir dementsprechend wenig. Sei es als Position innerhalb der Gesellschaft, sei es als theoretische Konzeption, eine solche verkürzte Perspektive erzeugt allenfalls Kämpfer, die auf einem Auge blind sind. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass das Komitee die Banlieuesards als Vorbilder subversiver Praxis inthronisiert. Wenn die Slums als die, wenn auch tödlichsten, so doch »letzten lebenden, lebenswerten Orte« beschrieben werden, paart sich die Lobpreisung der sozialen Wärme in Komplizenschaften mit einer Romantisierung der Elendsviertel und bringt einen ebenso peinlichen wie realitätsfernen Kitsch hervor. Der dem französischen Bürger attestierte Neid auf »diese sogenannten ›Problemviertel‹« scheint vor allem für das Komitee selbst zuzutreffen. Wenn die Gesellschaft zuvor noch als in Auflösung begriffene beschrieben wurde, so wird das Bandenwesen als Zerfallsprodukt oder besser Spiegelbild des Zerfalls der bürgerlichen Gesellschaft nun plötzlich von dieser Feststellung ausgenommen. Stattdessen verklärt Der kommende Aufstand die gesellschaftlichen Ränder zu einem Hort solidarischer Gemeinschaft und erklärt die Gang zum Modell für den Widerstand, indem einer »auf ›Leben und Tod‹ verbundenen Bande von Brüdern und Schwestern« das Wort geredet wird.
Dass die Revolution nur mit Zerschlagung des Staates zu haben ist, steht außer Frage. Die entscheidende Veränderung des gesellschaftlichen Lebens kann jedoch nur von der Beschlagnahme und Umwandlung des produktiven Apparats ausgehen. Verfehlt wäre es – da ist der Stoßrichtung des Komitees zuzustimmen –, eine solche Unternehmung mit syndikalistischer Verlängerung der Warenproduktion in selbstverwalteten Betrieben oder einer unkritischen Haltung gegenüber der kapitalistischen Form der Produktivkräfte gleichzusetzen. Genauso falsch ist jedoch die völlige Ablehnung der im Schoße des Kapitalismus entwickelten Potenziale, wie sie in der plumpen Verteufelung einer vollends herrschaftsförmigen Zivilisation aufscheint und durch das Komitee wie auch von diversen anarcho-primitivistischen Gruppen vertreten wird. Die »Aneignung ist zuerst bedingt durch den anzueignenden Gegenstand – die zu einer Totalität entwickelten und nur innerhalb eines universellen Verkehrs existierenden Produktivkräfte. Diese Aneignung muss also schon von dieser Seite her einen den Produktivkräften und dem Verkehr entsprechenden universellen Charakter haben.«6 Und dies beinhaltet auch die strukturelle Vereinheitlichung der menschlichen Lebenslagen durch die globale Proletarisierung, die sich in diesem geschichtlichen Moment tendenziell weltweit durchsetzt. Durch sie ergibt sich erst die Möglichkeit, die Bezüge zwischen den einzelnen Kämpfen ins Bewusstsein zu heben, seien es die der Überflüssigen oder die noch so bornierten Kämpfe für mehr Lohn. Nur auf diesem Wege ist die Herausbildung von etwas, das man früher als Klassenbewusstsein bezeichnet hat, denkbar, als ein Schritt hin zu dem, was wir meistens »Selbstaufhebung des Proletariats« nennen und der wirkliche Ausnahmezustand wäre, auf den das Komitee ja hinaus will. Die Strategen der Insurrektion sind an den Auseinandersetzungen zwischen dem Kapital und seinen Lohnsklavinnen indessen desinteressiert, insofern die letztgenannten nicht als Akteure für den großen Knall in Betracht kommen.
Dass diese Ignoranz aus der Definition der Arbeit als purem Disziplinarinstrument ohne jede Potenz resultiert, lässt sich zwar nicht sicher sagen, ist aber zu vermuten. Im Hinblick auf die propagierte Praxis führt das Schweigen über das Klassenverhältnis aber zumindest zu der konsequent falschen Taktik, sich »jenseits und gegen die Arbeit« zu organisieren, eine ganz bewusste Abwandlung der Losung, sich in der Arbeit gegen die Arbeit zu organisieren. Falsch ist diese Selbstermächtigung aus der hohlen Hand, weil sie die Revolution letztlich zu einer Frage individueller Entscheidung im Angesicht des Weltuntergangs karikiert. In der Forderung einer individuellen Wahl zugunsten oder gegen die Lohnarbeit, die für die allermeisten Leute überhaupt nicht besteht, drückt sich gerade das Fortleben der bürgerlichen Ideologie aus, die sich über das Individuum und die Bedeutung seines freien Willens immer schon täuschen musste. In seiner unmittelbaren Anschauung wiederholt das Komitee theoretisch die gesellschaftliche Trennung von Produktionsmittel und Produzenten, die alle als beziehungslose Monaden in Konkurrenz zueinander setzt – um damit auf der einen Seite der Medaille kleben zu bleiben und die gemeinsame Klassenposition auszublenden. Der kommende Aufstand opfert die bestimmte Negation der Klassengesellschaft ihrer affektiven, verneint die materialistische Kritik, um sie als quasireligiöse zu verallgemeinern. Die revolutionäre Poesie, die darin bestünde, die konkrete Totalität zu erfassen, um die Möglichkeiten ihrer Veränderung sichtbar zu machen, schlägt um in den Jargon einer Predigt, die vor dem Hintergrund des drohenden Armageddon dem Subjekt das Bekenntnis abzuringen versucht, »zu wählen zwischen der Anarchie und der Angst vor der Anarchie«.
Anschließend an die schon benannte einseitige Fixierung auf den Staat und seine Repressionsorgane, entscheidet man sich hier tatsächlich für den Anarchismus. Genauer gesagt, für einen seiner Fehler, der schließlich im Terrorismus des 19. Jahrhunderts in einen Kult der Gewalt, der Verschwörung und der Kleingruppe mündete. Der militante Individualismus und der nihilistische Anarchismus missverstehen die Verfasstheit einer Gesellschaft, die die Klasse der Ausgebeuteten noch immer an die Herrschaft bindet. Zudem ist die Entscheidung, »gegen diese Welt zu sein«, die zum sofortigen Angriff auf die Symbole des Kapitals und des Staates treibt, selbst auf eine symbolische Handlung einer selbstherrlichen Monade reduziert. Die bürgerlichen Fälschungen des Bewusstseins wiederholen sich in Gestalt eines individualisierten Antisouveräns, der den Panik-Zustand des Subjekts mit der Entscheidung für den Ausnahmezustand beantwortet.
Das ist die Wahrheit der »Verschwörung gegen die Warengesellschaft«, die darauf hinausläuft, in Gestalt kleiner schlagkräftiger Kommandos lediglich ein neues Spezialistentum des Aufstands zu kultivieren. Mit dieser Pose rettet sich das Komitee über die jetzige Lage hinweg und bleibt jenseits von identitären Anfeindungen unfähig, das Elend linker Praxis zu kritisieren.
Die Unmittelbarkeit, mit der das Komitee auf die Welt schaut, gipfelt in seinen Vorschlägen, Theorie und Praxis in Gestalt der Kommune zu vereinigen. Da Produktivkräfte und Technik aber mit der verabscheuten Zivilisation auf den Müllhaufen der Geschichte zu gehören scheinen, ist an eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel als Herzstück der Kommune nicht zu denken; die Zeichen stehen eher auf heimelige Gemeinschaft. Daraus ergeben sich die antimodernen, regressiven Momente des Buches. Das Komitee schreibt zwar, in »der Geschichte gibt es keine Umkehr. Die Ermahnung, zur Vergangenheit zurückzukehren, drückt immer nur eine zeitgenössische Bewusstseinsform aus«. Andererseits lassen die Autorinnen, wenn sie »positiv werden«, ihren Mangel an modernem, auf der Höhe der Verhältnisse sich bewegendem Bewusstsein durchblicken. Trotz des erwähnten Satzes von der »einmaligen Gelegenheit« der gesellschaftlichen Zersetzung betrauern sie Entwurzelung und Verlust von Zugehörigkeit. Das führt in Zusammenhang mit der holzhammerbewehrten Zivilisationskritik nolens volens in den Dunstkreis einer Fetischisierung von Natur gegenüber der artifiziellen Zivilisation, deren denaturierten Gliedern jeglicher Sinn für ihre Umwelt verlorengegangen ist. In den Worten des Komitees: »Während die Touristen beim Nahen des letzten Tsunamis weiter in den Wellen herumtollten, hasteten die Jäger und Sammler der Inseln den Vögeln hinterher und flohen von den Küsten.«
Da auch in der Kommune radikalere Bedürfnisse existieren dürften, als durch Jagen und Sammeln zu befriedigen sind, stellt sich aber die Frage nach Produktion und Reproduktion. Beantwortet wird sie zum Beispiel in dem Dorf Tarnac, auf dem plateau de Millevaches, wo sich aus dem Dunstkreis des Komitees ein paar »kommunistische Bauern« organisieren, um dort ihren Täuschungen nachzugehen. Da diese Spezialisten der Entfremdungskritik wissen, dass Geld nur von Nutzen ist, »Fremde als Fremde zu verbinden«, »eine Verbindung zwischen denen herzustellen, die ohne Bindungen sind«, propagieren sie die Selbstversorgung, denn die Kommune muss »in ihrem Innern das Geld als lächerlich und geradezu unangebracht empfinden.« Gar nicht lächerlich und unangebracht fanden es »Freunde der Kommune von Tarnac«, die selbstverständlich nicht mit den Bewohnern der Kommune verwechselt werden dürfen, hingegen, in einem Spendenaufruf um bescheidene 180.000 Euro für den Ausbau der Scheunen zu bitten und sich dabei lapidar mit dem »Paradox der Epoche« herauszureden, man benötige eben Geld, um sich die Mittel zur Befreiung vom Geld zu beschaffen. 7 Schöner hätte sich der Unternehmer, der bei der Bank einen Kredit aufnimmt, um dann nach erfolgreicher Investition auf eigenen Beinen zu stehen, seine Unabhängigkeit auch nicht zurechtbiegen können. Das Spektakel ist die »Autonomie«, die einen solchen Akkumulationsgrad erreicht, dass sie zur obszönsten Schnorrerei wird.
Jenseits solcher offenkundigen Bankrotterklärungen sind nicht alle Vorschläge des Komitees schlecht. Wenn die Kommune sich nicht nur als Beschafferin von Gütern für das materielle Wohl versteht, sondern auch die Aufgabe übernehmen will, das »seelische Überleben jedes Einzelnen ihrer Mitglieder und aller Verirrten in ihrer Umgebung zu organisieren«, dann klingt das als Ausdruck einer humanen Logik eigentlich ganz sympathisch, lässt man die Einwände gegen ein paternalistisches Seelsorgesanatorium mal beiseite. Die Nischen des Systems nutzen, Wissen für den sozialen Krieg sammeln, sich vor der Arbeit drücken – das ist alles schön und gut. Aber das Komitee stellt nicht die Frage nach den Grenzen solcher Praktiken, beziehungsweise nach ihrer Verallgemeinerbarkeit zur Aufhebung der Klassen und Staaten. Ohne ein Verständnis des Kapitals als gesellschaftlichem Verhältnis verkommt das Projekt der Abschaffung zur Entscheidung einiger Verdammter der Zivilisation. Nur als Angriff der Lohnabhängigen auf ihre Existenz als Proletarier, als praktische Kritik der alltäglichen Passivität kann diese Abschaffung erfolgen und nicht als Lebensreform einiger Existenzialisten.
Beide Momente, der Irrationalismus der Anschauung sowie die Konfusion über die revolutionäre Tätigkeit, bilden derzeit den Mangel, der sich sowohl in der Praxis als auch in der Theorie spiegelt. Sieht man sich die Kämpfe, Unruhen, ja regelrechten Aufstände der letzten Jahre an, dann entdeckt man Spontaneität, sehr häufig das Fehlen von Parteien und Gewerkschaftsorganisationen, eine starke Bereitschaft zur Gewalt. Man sieht aber auch eine vollständige Ratlosigkeit, wenn es sich darum handelt, über die anvisierte Blockade der Ökonomie hinauszugehen; es fehlt eine praktische Vorstellung von der Überwindung der alten Welt. An diesem Punkt scheinen aber auch die Vorschläge des Komitees niemanden hinter dem Ofen hervorgelockt zu haben – aus gutem Grund.
Das Büchlein und seine Rezeption sollten als ein doppeltes Symptom gelesen werden. Seine erstaunlich freundliche Aufnahme in den bürgerlichen Medien rührt daher, dass letztlich auch die Armleuchter des Feuilletons wissen, wie trübe es um die Welt bestellt ist. Letztlich glaubt kein Mensch, dass die Gentechnik das Hungerproblem löst, die weltweite Massenarbeitslosigkeit überwunden werden kann oder die nächste Militärintervention dann doch für Demokratie und Menschenrechte sorgt. Jedes Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft wird durch die Herrschaft des Kapitals selbst permanent disqualifiziert. Das tritt immer offensichtlicher hervor, auch wenn man es sich nicht eingestehen will und kann – und so »gilt es nicht mehr das Glück, es gilt nur noch die Trümmerhaufen, die Reste, den Schein zu retten« (Ibsen). Anders als der Großteil der gegenwärtigen linken Literatur verbreitet Der kommende Aufstand keine Illusionen über eine grundsätzliche Veränderbarkeit der Missstände innerhalb dieser Gesellschaft und wartet nicht mit halbgaren Reformvorschlägen auf. Die Brüchigkeit der Verhältnisse liegt offen zutage. Der Aufstand ist keine Sache der Zukunft; die Aufstände sind längst da und werden immer häufiger.
Ein Symptom ist das Buch allerdings auch in einer zweiten Hinsicht: Es drückt die Grenzen der praktischen Bewegung aus, nur auf unfreiwillige, bewusstlose Weise, und deshalb leistet es auch keinen Beitrag dazu, sie zu überschreiten. Vielmehr kehrt in der Schrift der existenzialistische Kult der Entscheidung wieder, in dem sich die allgemeine Verdinglichung spiegelt: »Das verdinglichte Bewusstsein muss in den beiden Extremen des rohen Empirismus und des abstrakten Utopismus gleichmäßig und gleich hoffnungslos befangen bleiben. Das Bewusstsein wird somit entweder zum völlig passiven Zuschauer einer gesetzmäßigen Bewegung der Dinge, in die es unter keinen Umständen eingreifen kann, oder betrachtet sich als eine Macht, die nach eigenem – subjektiven – Belieben die an sich sinnlose Bewegung der Dinge zu meistern vermag.«8
Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft
- 1. Unsichtbares Komitee, Der kommende Aufstand, Hamburg 2010. Nicht anders gekennzeichnete Zitate im Text stammen aus diesem Buch.
- 2. Unsichtbares Komitee, Verwaltet weiter, verschweigt! Eine Intervention (Dezember 2010), linksunten.indymedia.org/node/30926.
- 3. Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft, 28 Thesen zur Klassengesellschaft, Kosmoprolet 1 (2007).
- 4. In Tarnac, einem Dorf in Zentralfrankreich, gründeten einige Autonome eine Landkommune. Auch wenn die Bewohner mit dem unsichtbaren Komitee, wie sie sagen, nicht identisch sind, so gehören sie – ebenso wie das Zeitschriftenprojekt Tiqqun – in jedem Fall zum selben Milieu. Bekannt wurde die Kommune, als die Bewohner 2008 wegen vorgeblicher Sabotageakte gegen das Eisenbahnnetz festgenommen und des Terrorismus beschuldigt wurden. Die aufsehenerregende Verhaftung ließ nicht nur die Verkaufszahlen des hier besprochenen Büchleins in die Höhe schnellen, sondern machte die Angeklagten auch zu ultralinken Stars, die seitdem immer wieder mit politischen Statements an die Öffentlichkeit treten.
- 5. Paris-Texas, une proposition politique des mis en examen de Tarnac (Februar 2011), auf www.soutien11novembre.org.
- 6. Karl Marx/Friedrich Engels: Die Deutsche Ideologie, Marx-Engels-Werke, Band 3, Berlin 1969, 67.
- 7. Vgl. den Spendenaufruf der »Amis de la commune de Tarnac« (Dezember 2010) auf juralibertaire.over-blog.com und die Antwort einiger »zorniger Antiautoritärer«, es sei zwar schön und gut, wenn die Freunde von Tarnac »Kühe melken, um vor dem sozialen Krieg zu fliehen«, sie sollten dafür aber nicht Leute anbetteln, »die in ihrer großen Mehrheit in der Prekarität leben und kämpfen«. Les fauxamis de la commune de Tarnac, auf nantes.indymedia.org.
- 8. Georg Lukács: Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats (1923), in: Geschichte und Klassenbewusstsein, Neuwied/ Berlin 1968, 164.