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Zwischen Willensnation und Waschplan: Eine Beschimpfung der Schweiz und ihrer Insassen

18. Mai 2017
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«Der Kampf der Urschweizer gegen Österreich, der glorreiche Eid auf dem Grütli, der heldenmütige Schuss Tells, der ewig denkwürdige Sieg von Morgarten, alles das war der Kampf störrischer Hirten gegen den Andrang der geschichtlichen Entwicklung.» (Friedrich Engels)

Als Friedrich Engels im 19. Jahrhundert die Urschweizer mit dem ihnen gebührenden Spott überzog, hatten sich diese als Mietsoldaten mit der Niederschlagung manch eines Aufstands längst einen soliden Ruf erworben. Einiges hat sich mittlerweile geändert. Die Fremdenlegion ist dem Schweizer verboten. Heutzutage überlässt man das Morden fein den Brüdern im Geiste und liefert lediglich das Totschlagwerkzeug. Auch Melkmaschine und Farbfernseher haben Einzug gehalten in einigen düsteren Alpentälern. Dem Vernehmen nach soll es auch ausserhalb der wenigen Städte die eine oder andere Kneipe geben, in der man nicht den Lynchmob auf den Plan ruft, wenn man aus dem spiessbürgerlichen Rahmen fällt. Doch nach wie vor gilt hierzulande Engels' Befund: «wenig Gehirn, aber viel Wade». Nach wie vor bildet sich die Bürgerin gehörig was ein auf die vom Kommunisten verspottete «Wiege der Freiheit» und erst recht auf ihre Demokratie. Nach wie vor ist die nationale Bornierung von besonderer Zähigkeit. Heute wird sie zudem durch eine gesellschaftliche Totenstille ergänzt, die wie ein bleierner Teppich über dem engen Land liegt.

Die Neutralität gegen Aussen wird im Innern als allseitige Anpassung pflichtschuldig und streng umgesetzt.

Während es im Nachbarland der sozialdemokratisch flankierten Konterrevolution und des Nationalsozialismus bedurfte, um mit der organisierten Arbeiterbewegung recht gründlich aufzuräumen, war es in der Schweiz insbesondere die freiwillige Unterordnung grosser Teile der Arbeiterbewegung unter das Wohl der Nation, die zum nachhaltigen Verschwinden gesellschaftlich relevanter Opposition führen sollte. Nicht, dass es keine Gewalt gebraucht hätte, aber die freiwillige Unterordnung war und ist in der Schweiz ein besonders prägnantes Moment der gesellschaftlichen Konformität. Hier ist jeder zugleich Gefangener und Gefängniswärter, wie einer der letzten hiesigen Dissidenten feststellte. Das staatliche Konkordanz- und Konsensungetüm, das jede noch so zaghaft abweichende Regung unter sich begräbt, ist nur die folgerichtige politische Einrichtung einer Nation, deren Insassen, Vordenkerinnen und Vollstrecker die Einhaltung der Friedhofsruhe zum obersten Gebot erhoben haben. Die Neutralität gegen Aussen wird im Innern als allseitige Anpassung pflichtschuldig und streng umgesetzt. Bis heute konkurriert die Schweiz mit dem Nachbarn Österreich um den ominösen Ruhm, die wenigsten Streiktage zu zählen. Bis heute wird jede öffentliche Diskussion mit besonderer Rücksicht auf das nationale Wohl und den zerbrechlichen Seelenfrieden der Beteiligten geführt. Wenn öffentlich gepoltert wird, dann vornehmlich von den rechten Berufsdemagogen, die hoffen, jenen urschweizerischen Hass auf alles Nichtkonforme zu mobilisieren, der unter der ruhigen Oberfläche lauert.

Dialektik der Widerspruchslosigkeit

Unfähig einen Widerspruch zu ertragen, bleibt der Schweizer gerne unter seinesgleichen und vermeidet jeden Gedanken und jeden Aus- und Anspruch, der über den so innig geliebten gesunden Menschenverstand hinausweisen könnte. Eine Besonderheit des nationalen Eigensinns hierzulande: Bloss nicht zu sehr über eine Sache nachdenken, dann wird schon nichts passieren. Wer es trotzdem tut, ist verdächtig und wird rhetorisch in den Elfenbeinturm verbannt. In radikaleren linken Kreisen tarnt sich dieses Ressentiment gemeinhin als legitime Kritik am akademischen Betrieb. Doch auch wenn das einige zum Liberalismus bekehrte Ex-Radikale partout nicht einsehen wollen: In diese antiintellektuelle Schieflage sind die Radikalen nicht gekommen, weil sie radikal sind, sondern weil sie Teil der eidgenössischen Gesellschaft sind. Der Schweizer Alltagsverstand, so unterschiedliche Facetten er auch aufweisen mag, ist letztlich so einfach zu fassen, wie er funktioniert: kleinteilig pragmatisches Dahinwursteln unter der Prämisse der Genügsamkeit.

Wenn eine Deutsche kein Interesse formulieren kann, ohne daraus eine Weltanschauung zu machen, dann ist ein Schweizer gar nicht fähig, ein irgendwie kohärentes – geschweige denn kritisches – Gedankengebäude zu entwickeln. Es ist uns trotz jahrelanger teilnehmender Beobachtung unklar: Resultiert diese Unfähigkeit aus der Selbstbeschränkung angesichts eingebildeter Unterlegenheit? Oder aber daraus, dass man jeden Gedanken immer schon unter etwas Übergeordnetes wie den nationalen Standort, die sogenannte Praxis oder die lebenserfüllende Arbeit zwängt? Letzteres Phänomen zeigt sich in aller Deutlichkeit nicht nur in Abstimmungen über nationalökonomisch relevante Themen, sondern auch in politischen Verlautbarungen oder den vollständig auf den Arbeitsmarkt ausgerichteten Bildungsinstitutionen, die jeden Humanisten das Fürchten lehren müssten. Wenn es denn noch welche gäbe. Egal ob das Stimmvolk mit grosser Mehrheit zusätzliche Ferien und Mindestlohn bachab schickt oder Gewerkschaft und Sozialdemokratie ihre wirtschaftspolitischen Irrläufer mit ökonomischer Nützlichkeit begründen. Alles muss fürs Ganze anwendbar und förderlich sein. Jeder muss produktiv und nützlich sein. Sei es am Arbeitsplatz, an politischen Manifestationen oder in der Schule. Am härtesten werden unentschuldigte Absenzen und Querulantentum geahndet. Als strafverschärfend gilt, wenn die Täterin ihr Vergehen auch noch vernünftig zu begründen vermag.

Wenn eine Deutsche kein Interesse formulieren kann, ohne daraus eine Weltanschauung zu machen, dann ist ein Schweizer gar nicht fähig, ein irgendwie kohärentes – geschweige denn kritisches – Gedankengebäude zu entwickeln.

Bundespräsidentin Doris Leuthard verpackte in ihrer Neujahrsansprache diesen Umstand in die warmen Worte der nationalen Konkordanz: «Unsere Gesellschaft ist stark, weil wir erprobt sind im Versöhnen von Ansprüchen». Nur seine Bedürfnisse nicht entgleisen lassen! Nur nicht nachdenken, dann geschieht schon nichts! Genau diese Mahnung unterstreicht der Linke Daniel Binswanger, wenn er im «Magazin» – im Gegensatz zum bundesrätlichen Optimismus – im Abstimmungskampf um die Steuerreform für Unternehmen das Fehlen des «helvetisch austarierten Pragmatismus» bemängelt. Jedes Land hat eben die Politiker und Berufsdenkerinnen, die es verdient.

Demokratie und Kleingarten

Mit dem weit verbreiteten intellektuellen Unterlegenheitsgefühl, das mit der beschriebenen Selbstbeschränkung einhergeht, korrespondiert die Vorstellung einer praktischen und moralischen Überlegenheit über den Rest des Weltenpöbels. Eine absonderlich blindwirkende Dialektik muss sich unter des Schweizers Zipfelmütze abspielen. Bestätigung findet der Überlegenheitsdünkel zwar in der etwas besseren Situation der meisten Schweizer Lohnabhängigen im Vergleich zu ihren migrantischen Kolleginnen und Konkurrentinnen. Da in den untersten Etagen des helvetischen Arbeitshauses vor allem nicht-schweizerische Arbeitskräfte schuften, die man im Krisenfall immer mal wieder exportiert hat, ist den meisten Schweizer Lohnabhängigen ein Leben in den Bürostockwerken vergönnt. Ergänzt durch die einigermassen komfortable Position der Schweiz auf dem Weltmarkt und das entsprechende Lohnniveau hat der Wohlstandschauvinismus tatsächlich so etwas wie ein materielles Fundament. Hieraus speist sich auch die ungeheuer beharrliche Illusion einer Gesellschaft des Mittelstands. Aber das bisschen mehr Kohle kann die überschiessende Selbstüberschätzung nie und nimmer hinreichend erklären. Es ist das Selbstbild des fleissigen und bescheidenen Kleingartenbesitzers und Handarbeiters – in der Schweiz arbeiten auch die Kopfarbeiter vornehmlich mit der Hand – das in des Schweizers Vorstellung das erste Glied der Kausalkette zum ökonomischen Erfolg und zur moralischen Überlegenheit bildet. Während also das Geld noch der letzten Diktatoren und Schurken der Weltgeschichte in Tresoren am Zürcher Paradeplatz lagert, weiss sich der einfache Mann im Einklang mit sich selbst und den grossen moralischen Werten – zumindest, solange alles seinen gewohnten Gang geht, sprich der Waschplan strikt eingehalten wird. Fleiss, Bescheidenheit und Konformismus sind und bleiben die heilige Trinität des helvetischen Insassen; seine Kirche ist die Nation.

Eine absonderlich blindwirkende Dialektik muss sich unter des Schweizers Zipfelmütze abspielen.

Auf seine Demokratie hält der stolze Schweizer grosse Stücke. Seit das Bundesgericht 1990 das Frauenstimmrecht im letzten Kanton gegen den Widerstand der Männer durchgesetzt hat, gilt die Demokratie auch tatsächlich für alle Schweizer Bürgerinnen. Natürlich ist der unermüdliche Einsatz der Schweizerischen Volkspartei für den Ausbau der direkten Demokratie vor allem ihrem Wissen um die Beschaffenheit des Wählerhirns geschuldet. Seit Ende des 19. Jahrhunderts das Komitee «Kantonale Tierschutzvereine von Bern und Aargau sowie Antisemiten» mittels der ersten Volksinitiative das Verbot des «Schlachtens von Tieren ohne Betäubung» durchgesetzt hat, hat an der Urne zuverlässig das Ressentiment gesiegt. Das Plebiszit ist unter Schweizer Verhältnissen nicht das, was sich manch linke Basisdemokratin erträumen mag. Auch wenn es das «Denknetz» anlässlich seines grossen Demokratiekongresses zur «wichtigen demokratischen Errungenschaft» hochschreibt, die die Linke «uneingeschränkt zu verteidigen» habe. Das kann nur eine Linke fordern, die nicht nur den offenen Widerstand endgültig durch die integrativen Verfahren der Demokratie ersetzt hat, sondern sich zugleich dermassen in diese Formen vergafft hat, dass sie der gesellschaftlichen Realität nicht mehr ins Auge zu blicken vermag. Das Verfahren des Volksentscheids ist schlicht der momentan adäquate politische Modus autoritärer gesellschaftlicher Formierung; zumindest solange, bis aus der so furchtbar zivilisierten Totenstille ihre barbarische Kehrseite offen hervortritt – oder aber sich alles ändert und im Prozess der Veränderung der Schweizer kein Schweizer mehr sein will.

PS: Wer sich im Text wiedererkennt und/oder sich betroffen fühlt, ist selbstverständlich mitgemeint. Gekränkte, geht nicht den Chronistinnen und Maulwürfen an die Gurgel, sondern den Zuständen, die euch beleidigen!

Eiszeit, Februar 2017