Franz Katz
Erinnert sich noch jemand an die „Wissensgesellschaft“? Oder an die „gewichtslose Ökonomie“? Solches Gerede ist leiser geworden, seit 2001 mit den Aktienkurse auch manche Illusion und einige Propaganda zusammenbrach. Aber während in den Feuilletons heute seltener zu lesen ist, dass Wissen und Informationsverarbeitung mittlerweile „die entscheidende Produktivkraft“ seien und die große Industrie nur noch ein Anachronismus, hält eine linke Strömung unbeirrt daran fest. „Wissenskommunisten“ — Autoren wie Manuel Castells, Antonio Negri und Michael Hardt, Maurizio Lazzarato oder André Gorz — verbrämen diese Redeweisen mit vermeintlich radikaler Rhetorik. Ihr gemeinsamer theoretischer Kern dabei ist der Begriff der „immateriellen Arbeit“. Mit großem sozialphilosophischen Aufwand versuchen sie zu begründen, warum diese Art der Arbeit heute bestimmend sein soll und ignorieren nonchalant alles, was dagegen spricht. 1
„Immaterielle Arbeit“
Viele Wissenskommunisten sind auch unter dem Etikett „Postoperaisten“ bekannt. Sie vertreten keine in sich geschlossene Theorie und widersprechen einander in vielen Punkten krass. Außer ihrer politischen Vergangenheit teilen sie ein Bündel theoretischer Motive, zu denen auch die Hegemonie der „immateriellen Arbeit“ gehört (die sie allerdings ganz unterschiedlich definieren und wenn nötig auch neu bestimmen).
Der italienische Operaismus fand in den sechziger Jahren im „Massenarbeiter“ den wichtigsten Träger der Revolte. Die Arbeitsmigranten aus dem italienischen Süden waren kaum qualifiziert, wechselten häufig die Stellung, ihr Verhältnis zur Arbeit war feindlich. Als die Kämpfe der Massenarbeiter in den siebziger Jahren ihren Höhepunkt überschritten hatten, suchten die operaistischen Theoretiker nach einer neuen, ebenso zentralen Figur für die gesellschaftlichen Kämpfe der Zukunft. Antonio Negri entdeckte sie im „gesellschaftlichen“, ab 1991 im „immateriellen Arbeiter“. Die Fabrik habe sich in die ganze Gesellschaft ausgeweitet, die dadurch wiederum als ganzes produktiv geworden sei. Diese Argumentation hatte einen politischen Hintergrund, denn so konnten die Neuen Sozialen Bewegungen der Frauen und Jugendlichen in das Schema „Produktive Subjekte vs. Kapital“ eingegliedert werden.
Wie beschreiben die Wissenskommunisten die „immaterielle Arbeit“? „Die Tendenz zur fortschreitenden Abstraktion der Arbeit ist verschwunden“, schreibt Negri in seinen „Zwanzig Thesen zu Marx“2 Die Arbeiter setzen sich angeblich selbst miteinander in Verbindung, ihre „autonome Kooperation“ soll bereits auf den Kommunismus verweisen. „Der general intellect fällt mit der Kooperation zusammen, mit dem Konzert der lebendigen Arbeit, mit der kommunikativen Kompetenz der Individuen.“3 Die Wissenskommunisten benutzten notorisch künstlerische Tätigkeiten als Metaphern, um die angeblich neue Qualität der Arbeit zu beschreiben; Gorz vergleicht die immaterielle Produktion mit einer musikalischen Improvisationssession etc.
In welchem Verhältnis stehen sie zur Maschinerie? Die Kryptomacht des Proletariats in Gestalt der „immateriellen Arbeit“ wird mit einer heute existierenden „Massenintellektualität“ begründet, die darauf beruhe „dass heute die Arbeit wesentlich linguistisch (mental, kognitiv) geworden“ sei, sprich „dass mit der Sprache gearbeitet“4 wird. Die Produktionsmittel tragen die „immateriellen Arbeiter“ daher im Kopf und im Herzen, und niemand kann sie ihnen wegnehmen. „Der Zyklus der immateriellen Arbeit ist durch eine gesellschaftliche und autonome Arbeitskraft bestimmt, die ihre eigene Arbeit und ihre Beziehungen zum Betrieb selbst zu organisieren vermag. Kein ‚wissenschaftliches Management’ kann über dieses gesellschaftliche Vermögen und diese kreative Produktivität bestimmen.“5
Leben wir in einer „Dienstleistungsgesellschaft“?
Trotz eines ganz verschiedenen Erkenntnisinteresses und theoretischen Anspruchs gibt es zahlreiche Berührungspunkte zwischen der linksradikalen Rede von der immateriellen Arbeit und Teilen der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaft und Managementliteratur. Dem „Wissen als Produktivkraft“ entsprechen die „intangible assets“, den „Gemeingütern“ die „natürlichen Monopole“, den „immateriellen Arbeitern” die „Symbol-Analytiker“. Für beide ist die Gesellschaft nicht mehr durch industrielle Produktion, sondern durch „Dienstleistungen“ bestimmt.
Die Entdeckung der „Dienstleistungsgesellschaft“ ist alles andere als neu. Bereits in den sechziger Jahren gab es eine ausgedehnte Debatte über die sogenannte „Tertiärisierung“. Tertiärisierung findet statt, wenn der dritte wirtschaftliche Sektor (die „Dienstleistungen“) den primären (Landwirtschaft und Rohstoffgewinnung) und sekundären Sektor (Industrie) in der Menge der Arbeitenden beziehungsweise der Wertschöpfung übertrifft.6 Die „Dienstleistungsgesellschaft“ ist angeblich vor allem eines nicht mehr: eine Klassengesellschaft wie die „Industriegesellschaft“. Vom Internet-Futurismus abgesehen sind solche Theorien nicht neu. Vorläufer waren die akademischen Diskurse über die „Integration der Arbeiterklasse“ (Herbert Marcuse), die „Wohlstands-“ beziehungsweise „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky) oder in Großbritannien „white heat of technology“ (Harold Wilson), die bald die sozialen Unterschiede einschmelzen werde.
Die „Dienstleistungsgesellschaft“ ist angeblich vor allem eines nicht mehr: eine Klassengesellschaft
Wer „unsere Gesellschaft“ als Dienstleistungsgesellschaft bezeichnet, geht davon aus, dass der sogenannte dritte Sektor eine „bestimmende“ oder „überwiegende“ Rolle in ihr spielt. Die gängige Definition ist dabei rein quantitativ: lebt die Mehrheit der Beschäftigten in einem Land von Dienstleistungen, sprechen Soziologen und Journalisten von einer Dienstleistungsgesellschaft. Allerdings sind die Statistiken, die sie heranziehen, oft wenig aussagekräftig, weil ihre Abgrenzungskriterien vage sind. Dazu kommen Verzerrungen durch Outsourcing. Weltweit, also der tatsächlichen Produktion entsprechend, ist die industrielle Produktion gewachsen, nicht geschrumpft.
Der Schweizer Soziologe Werner Bätzing schlägt eine grundsätzliche Unterscheidung vor: Dienstleistungen sind entweder produktionsorientiert oder reproduktionsorientiert. Die einen sind „direkt auf den Produktionsprozess bezogen (Transport, Handel, Banken, Versicherungen, technische Wissenschaften, Verwaltung, Beratung, Werbung, Marketing)”, die anderen „indirekt (. .), indem sie die Rahmenbedingungen schaffen beziehungsweise wieder herstellen, damit Menschen produktiv arbeiten können (Hausarbeit, Kindererziehung, Bildungs- und Ausbildungswesen, Gesundheitswesen, Sozialarbeit, Freizeitindustrie) und damit ein Gemeinwesen produktive Arbeiten fördern kann“.7
Diese sinnvolle Unterscheidung nähert sich einer qualitativen Bestimmung der Sektoren untereinander an, aber für unsere Zwecke ist noch eine weitere nötig: Kann die Dienstleistung von einer Maschine ausgeführt werden oder müssen Menschen ihre Arbeitskraft einsetzen? Weil der „kreative Charakter” bestimmter Arbeiten unter Umständen einen gewissen Schutz vor Rationalisierung, Aufspaltung und Verdichtung bietet, ist entscheidend, ob die erbrachte „Dienstleistung” wenigstens potentiell automatisierbar ist. Das Verhältnis der Sektoren muss als qualitatives statt nur quantitatives begriffen werden. Nur die gestiegene Produktivität eines Sektors macht das Wachstum des nächsten möglich; erst die größere Produktivität der Landwirtschaft macht die industrielle Revolution möglich, erst die Produktivität der Industrie kann eine Dienstleistungsgesellschaft erhalten. Der Dienstleistungssektor ist für viele für ehemalige Industriearbeiter ein Auffangbecken, aber längst nicht für alle: nicht nur dieser Bereich wächst, sondern auch die Arbeitslosigkeit — auch in den sogenannten Schwellenländern.
Ob wir also in einer Dienstleistungsgesellschaft leben oder nicht, bestimmt leben wir in einem Kapitalismus, der erstens nach wie vor auf industrielle Produktion nicht verzichten und zweitens seine grundlegenden Widersprüche nicht lösen kann.
„Wissen als Produktionsfaktor“?
Aber angeblich leben wir nicht nur in einer Dienstleistungsgesellschaft, sondern mittlerweile sogar in einer „Wissensgesellschaft”. Die taucht bekanntlich in jeder dritten Politikerrede und jedem vierten Leitartikel auf. Wissen soll „immer wichtiger“ werden, zur „eigentlichen Produktivkraft“. Der Wissenskommunismus sekundiert: „Zum ersten Mal in der Geschichte ist der menschliche Verstand eine unmittelbare Produktivkraft und nicht nur ein entscheidendes Element im Produktionssystem.“8
Der Anteil von Wissen an einer bestimmten Arbeit ist grundsätzlich unmessbar; Arbeit ist in jedem Fall die „Verausgabung von Hirn und Hand“ (Marx). Kapital kauft nicht Wissen, sondern Arbeitskraft, die ihre Qualifikation, ihr Wissen und ihre Subjektivität mitbringt. Für das Kapital handelt es sich beim „Wissen“ um eine Externalität. Dasselbe gilt für jene ambivalente Subjektivität, die in den Stand versetzt, das eigene Leben als Lohnarbeit zu verausgaben. Im Bezug auf die Naturwissenschaft heißt es bei Karl Marx: „Wie mit den Naturkräften verhält es sich mit der Wissenschaft. Einmal entdeckt, kostet das Gesetz über die Abweichung der Magnetnadel im Wirkungskreise eines elektrischen Stroms oder über Erzeugung von Magnetismus im Eisen, um das ein elektrischer Strom kreist, keinen Deut.“9
Wissen ist so nötig für die Produktion von Stahl, wie von Kohle. Aber das nötige Wissen zur Stahlproduktion wird nicht in seiner Anwendung zerstört. Es kann nicht verbraucht werden, mehr noch, es wächst mit seiner Anwendung. Das Prinzip des Wissens ist anti-ökonomisch: Wer es teilt, vermehrt es. Der Soziologe Erving Goffman fand dafür einen passend paradoxen Ausdruck: „Von allen Dinge lässt sich Wissen am schwierigsten bewachen, denn es kann gestohlen werden, ohne dass es weggenommen wird.“
Das „lebendige Wissen“, von dem André Gorz spricht, ist an ein Subjekt gebunden, es ist kein Produktionsmittel, sondern Arbeitsvermögen. Wir nehmen verdinglichtes, kodifiziertes Wissen auf, wenden es an und „verflüssigen“ es. Diese Unterscheidung gerade nicht zu machen, charakterisiert den wissenskommunistischen Diskurs. In ihrer Diktion ist das Wissen der immateriellen Arbeiter Produktionsmittel und Produkt in einem.
Offensichtlich setzt sich das für die Arbeit nötige „Wissen“ aus normierten Fähigkeiten einerseits und Kulturtechniken und „implizit Gewusstem“ andererseits zusammen. Letztere sind ein wesentlicher Teil der Subjektivität, die kapitalistische Bildungsanstalten herstellen. Arbeitgeber interessieren Zeugnisse viel weniger als Beleg dafür, was der Bewerber tatsächlich gelernt hat, sondern als Beweis von Durchhaltevermögen, Unterordnungsbereitschaft und Ehrgeiz.
Das Verhältnis von inhaltlicher und formeller Qualifikation unterscheidet sich je nach Art der Arbeit. In den Schriften der Wissenskommunisten finden sich solche Unterscheidungen nicht. Sie betonen das Unmessbare, Kulturelle und Flüchtige, ohne weiter auf die verdinglichten Formen einzugehen.10 Dadurch scheint es, als produziere die Gesellschaft Wissen unabhängig von Staat und Kapital und übrigens auch allen materiellen Beschränkungen. In der Zirkulation von Wissen soll die freie Assoziation schon verwirklicht sein. Für sie hat das Kapital sich nicht nur die Gesellschaft untergeordnet, sondern es gibt nichts mehr außerhalb des Kapitals. „Der Verwertungsprozess (fällt) tendenziell mit dem Prozess (zusammen), in dem gesellschaftliche Kommunikation produziert wird“, schreibt Lazzarato, und: „Der Prozess der gesellschaftlichen Kommunikation ist mitsamt seinem Hauptinhalt, der Produktion von Subjektivität, unmittelbar produktiv geworden.“11 In Wirklichkeit muss sich die „immaterielle Arbeit“ in Waren oder Dienstleistungen verdinglichen und dann auf dem Markt realisiert werden (also Käufer finden), um für das Kapital interessant zu sein. Wenn Lazzarato oder Negri die Zirkulation von Wissen, Sprache und, „biopolitisch“, Leben mit der Zirkulation von Waren in eins setzen, treiben sie nicht nur den Fetischismus auf die Spitze , sondern ignorieren den entscheidenden letzten Akt.12
Tatsächlich haben Teile der kommunistischen Bewegung den Begriff der Produktivität moralisch aufgeladen
Das Mantra, Kommunikation oder Subjektivität seien „unmittelbar produktiv”, ist noch aus einem weiteren Grund missverständlich. Bekanntlich ist nicht jede Lohnarbeit auch produktiv im Sinne des Kapitals. „Produktive Arbeit ist bloß die, die Kapital produziert. Ist es nicht verrückt, (...) daß der Klaviermacher ein produktiver Arbeiter sein soll, aber der Klavierspieler nicht, obgleich doch ohne den Klavierspieler das Klavier ein Unding wäre? Aber so ist es exakt. Der Klaviermacher reproduziert Kapital; der Klavierspieler tauscht seine Arbeit nur gegen Revenue (= Mittel zum Lebensunterhalt/Privatkonsum) aus. Aber der Klavierspieler produziert Musik und befriedigt unseren Tonsinn, produziert ihn auch gewissermaßen? In der Tat so tut er: seine Arbeit produziert etwas; darum ist sie nicht produktive Arbeit im ökonomischen Sinne; so wenig als die Arbeit des Narren produktiv ist, der Hirngespinste produziert. Produktiv ist die Arbeit nur, indem sie ihr eigenes Gegenteil produziert.“13
Tatsächlich haben Teile der kommunistischen Bewegung den Begriff der Produktivität moralisch aufgeladen, als ob die entsprechende Arbeit „die eigentlich wichtige wäre“ und die andere, nicht entlohnte irgendwie zweitrangig. Das ist falsch, die gegenteilige Behauptung aber ebenso: viele Tätigkeiten sind für die Reproduktion der Gesellschaft unverzichtbar, für das Kapital aber uninteressant. Es handelt sich um einen analytischen, nicht um einen moralischen Begriff.
Für Wissenskommunisten wie Negri zersetzt die durch Mikroelektronik, Informatik und Biotechnologie gesteigerte Produktivität die klassischen Kategorien der marxistischen Kritik. Besonders irreführend ist, wie sie das Wertgesetz verabschieden oder „neu formulieren“ wollen. Bekanntlich besagt es, dass der Wert einer Ware sich letztlich nach der Menge der verausgabten „abstrakten Arbeitszeit“ bestimmt — wohlgemerkt in Bezug auf den „gesellschaftlichen Mittelwert“, der zu ihrer Herstellung nötig ist! Im viel zitierten „Maschinenfragment“ aus den „Grundrisse“ von Karl Marx heißt es: „Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muß aufhören die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der Tauschwert des Gebrauchswerts.“14 Diese mutmachende Prognose interpretiert Negri nicht als den Fortschritt von einer kapitalistischen zu einer nachkapitalistischen Gesellschaft, sondern als Beschreibung zweier historischer Phasen des Kapitalismus. Dabei nimmt Negri an, die Wertsubstanz abstrakte Arbeit sei einstmals unmittelbar quantifizierbar gewesen. Aber das Wertgesetz besagt nicht, dass sich der Preis einer einzelnen Ware nach der für ihre Herstellung verausgabten abstrakten Arbeit bemisst. Ob sie überhaupt Wert enthält und wie viel, stellt sich erst durch den Verkauf heraus. Das Wertgesetz macht sich geltend, „so wie das Gesetz der Schwere, wenn einem das Haus über dem Kopf zusammenpurzelt.“15 Daran ändern weder Biopolitik oder computergestützte Kommunikation etwas; die Kritik der Wissenskommunisten geht am Problem völlig vorbei.
Ausbeutung statt Selbstverwertung
Zum Analysieren gehört bekanntlich die Fähigkeit des Unterscheidens. Der sogenannte Postoperaismus unterscheidet nicht, er verwischt. Die Rede von der Selbstverwertung oder der autonomen Organisation der Arbeit ist angesichts des Arbeitsalltags der überwältigenden Mehrheit in den Metropolen wie der Peripherie zynisch. „Der Zwang, dem die scheinselbständigen Kreative oder der Heimarbeiter unterliegen — den Akkord zu verinnerlichen, beziehungsweise die — an der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit gemessen — zu niedrigen eigenen Produktivität durch die Ausweitung des Arbeitstages zu kompensieren, darf nicht mehr als vermittelte kapitalistische Ausbeutung ins Bewusstsein treten. Er wird stattdessen zum Vorschein des Kommunismus beziehungsweise im weiteren Verlauf zu jenem selbst verklärt.“16
Kein Zufall, dass der tatsächliche Arbeitsalltag im sozialphilosophischen Trommelfeuer der Wissenskommunisten kaum vorkommt. Der Fortschritt der Maschinerie bedingt nicht notwendigerweise eine anspruchsvollere Arbeit, ebenso wenig Dequalifizierung. Er tut beides: Tätigkeiten wie Wartung und Aufsicht werden komplexer und anspruchsvoller, die verbliebene Anwendung oft noch geistloser.17 Heute erleben wir die Taylorisierung der geistigen Arbeit, wo immer das möglich ist. Sie zeigt sich auch in der voranschreitenden Verbreitung von elektronischen Medien in allen Lebensbereichen. Nur durch elektronische Medien und Datennetze ist es möglich, die Produktion räumlich zu streuen und gleichzeitig die Kooperation und Kontrolle der Arbeiter zu gewährleisten. Die Arbeit wird kodifiziert, automatisiert, (international) aufgespalten, beschleunigt und verdichtet. „Keineswegs (macht) — wie das oft behauptet wird — die Aufspaltung und Dequalifizierung aller Tätigkeiten zu repetitiven Teilarbeiten das Zentrum des Taylorismus (aus); der Kern der Taylorschen Doktrin besteht vielmehr in der Trennung von Wissen (der Verfügung über die Erzeugung, die Manipulation und die Verwendung von Informationen) als Basis der Möglichkeit der Disposition (also von Herrschaft) einerseits, von Ausführung als abhängiger Tätigkeit, die dadurch zum Gegenstand eines Informationsprozesses und damit beherrschbar wird, andererseits.“18
In ihrer Untersuchung über Call Center spricht die deutsche Industriesoziologin Ursula Holtgrewe von „Informationsarbeit“, die im sogenannten Service und der Kundenbetreuung um sich greift. Damit meint sie „quasi-industrielle Produktion mit schematisierten Kommunikations- und Interaktionsabläufen“. „Weil ja die Verstehens- Interpretations- und Kommunikationsleistungen, die Empathie und Freundlichkeit der Beschäftigten unvermeidlich benötigt werden, werden diese in die Kontrolle und Rationalisierung ihrer Arbeit eingespannt. Diese Zugriffe auf Subjektivität wiederum lassen diese nicht unberührt, sondern formieren sie selbst.“19 Kreativität oder Originalität haben hier höchstens in klar umgrenzten Reservaten Platz, und die Subjektivität solcher immateriellen Arbeit ist durchaus zerbrechlich.
Um sich zu erhalten, muss auch die Subjektivität der vermeintlich immateriellen Arbeiter (sprich Dienstleistungsproleten) ein erträgliches Auskommen sichern. Das gilt längst nicht für alle. Hier müssen die Brüche kritisch aufgespürt und zugespitzt werden statt das Loblied der Kreativität anzustimmen. Dass „die Kontrolle in die Subjekte selbst verlagert“ (Lazzarato) wird, ist kein „diskursiver Effekt“, sondern an konkrete Organisationsformen gebunden und ruht auf einem dinglichen Fundament.
Typischerweise werden bestimmte Arbeitskontingente mit in einer Mindestzeit verbunden, dadurch erübrigt sich eine lückenlose Überwachung: am Ende sind die Patienten entweder versorgt, die Werbeprospekte verteilt, die Wände gestrichen — oder eben nicht. Oft kommt es dadurch zu einer Verlängerung des Arbeitstages. In der wissenskommunistischen und Managementliteratur wird diese Strategie als „Führen durch Ziele“ beschrieben. Sie findet aber keineswegs nur dort Anwendung, wo es sich um „kreative Arbeit“ handelt, bei der Kooperation eigenständig und diskursiv hergestellt wird. Wo „Führen durch Ziele“ nicht möglich ist, wird der Druck des Marktes durch „Steuersignale der Rentabilität” (Haug) unmittelbar an die Arbeiter weitergegeben, so wird versucht, Vorarbeiter und Aufsichtspersonal einzusparen.
Das gilt im Übrigen auch für die Kulturproduktion, der „immaterielle“ Sektor par excellence und Quelle unzähliger leerer Analogien in der wissenskommunistischen Literatur. Was ist ein Honorarvertrag anderes als Stücklohn? „Es ist ebenso das persönliche Interesse des Arbeiters, den Arbeitstag zu verlängern, weil damit sein Tages- oder Wochenlohn steigt“, schreibt Karl Marx.20 „Aber der größere Spielraum, den der Stücklohn der Individualität bietet, strebt einerseits dahin, die Individualität und damit Freiheitsgefühl, Selbständigkeit und Selbstkontrolle der Arbeiter zu entwickeln, andrerseits ihre Konkurrenz unter- und gegeneinander.“21
Solche einfachen Beobachtungen sind den Wissenskommunisten zu oberflächlich. Lieber „untersuchen“ sie mit Spinoza und Althusser die neusten Abenteuer der „Subjektivität“ von austauschbare Figuren wie dem „immateriellen Arbeiter“. Die philosophische Höhen erklimmen sie, indem sie allen empirischen Ballast abwerfen.
- 1. Ähnliche Kritiken finden sich bei Wolfgang Fritz Haug, „General Intellect“ und Massenintellektualität. In: High-Tech-Kapitalismus. Analysen zu Produktionsweise - Arbeit - Sexualität - Krieg und Hegemonie. Hamburg 2003, S. 183 — 203, Paul Thompson, Foundation and Empire: A Critique of Hardt and Negri. In: Capital and Class No. 86 / Summer 2005. 99 — 134, und in Aufheben # 14. 23 — 44. (2006) Keep on Smiling. Questions on Immaterial Labour, 2006, S. 23 — 44.
- 2. Hier zitiert nach Jürgen Ehbrecht, siehe www.ca-ira.net/res/negri-20thesen.pdf[/fn]. Auch wenn sie manuelle Tätigkeiten umfasst, produziert sie in erster Linie Gefühle undWissen, eben Geisteszustände. Kennzeichnend sei, dass die Kreativität und die Individualität der Arbeitenden in das „Produkt“ einfließe. Paolo Virno spricht in diesem Zusammenhang gar von „Virtuosität“.
Wo finden sich die „immateriellen Arbeiter“? Überall. Gingen Maurizio Lazzarato und Negri anfangs noch davon aus, dass die „immaterielle Arbeit“ Waren ohne dingliche Gestalt produziere (also den „Dienstleistungen entspräche) behaupteten sie später, die Immaterialität sei in der Produktion begründet, weil diese heute besonders viel Empathie, Kommunikation und Wissen verlange. Aufgrund der schwammigen Definitionen der Wissenskommunisten kann einmal die thailändische Köchin (die ja schließlich für das Wohlbefinden ihrer Chefs sorgt), ein anderes Mal der gut bezahlte Software-Entwickler als „immaterieller Arbeiter“ gelten.
In welchem Verhältnis stehen die „immateriellen Arbeiter“ untereinander? „Indem sie ihre eigenen schöpferischen Energien ausübt, setzt die immaterielle Arbeit das Potential für eine Art des spontanen und elementaren Kommunismus frei.“Antonio Negri/ Michael Hardt, Empire. Frankfurt am Main 2002, S. 37. - 3. Paolo Virno, Grammatik der Multitude: Untersuchungen zu gegenwärtigen Lebensformen. Berlin 2005, S. 64.
- 4. Immaterial Workers of the World, „Was soll ich dir raten?“.
- 5. Maurizio Lazarrato, zit. nach Max Henniger, Immaterielle Arbeit, Subjektivität und Territorialität, in Grundrisse 15/2005, S. 27 1997: 24.
- 6. Oft wird in der populären Darstellung nicht einmal diese Unterscheidung gemacht.
- 7. Werner Bätzing / Evelyn Hanzig-Bätzing, Entgrenzte Welten. Die Verdrängung des Menschen durch Globalisierung von Fortschritt und Freiheit. Zürich 2005, S. 57.
- 8. Manuel Castells, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Opladen 2001, S. 34.
- 9. Karl Marx, Das Kapital. Erster Band. MEW Bd. 23. Berlin 1972, S. 407.
- 10. André Gorz , Wissen, Wert, Kapital. Zürich 2004, S. 17.
- 11. Maurizio Lazarrato, Verwertung und Kommunikation: Der Zyklus immaterieller Produktion. In: Thomas Atzert (Hg) Umherschweifende Produzenten: Immaterielle Arbeit und Subversion. Berlin 1998, S. 53 bzw. S 58.
- 12. Vgl. Aufheben, a.a.O., S. 31.
- 13. Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Frankfurt am Main 1974, S. 212.
- 14. Ebd., S. 593.
- 15. Karl Marx, Das Kapital, a.a.O., S. 89.
- 16. Andreas Benl, Empire, die Multitude und die Biopolitik. In: Die Röteln (Hg.), Das Leben lebt nicht! Postmoderne Subjektivität und der Drang zur Biopolitik. Berlin 2006, S. 47 f.
- 17. Vgl. Aufheben, a.a.O., S. 36.
- 18. Rudi Schmiede, Informatisierung, Formalisierung und kapitalistische Produktionsweise. Entstehung der Informationstechnik und Wandel der gesellschaftlichen Arbeit. In: Thomas Malsch / Ulrich Mill (Hg.), ArBYTE. Modernisierung der Industriesoziologie? Berlin 1992, S. 53 — 86.
- 19. Ursula Holtgrewe, Organisationsdilemmata und Kommunikationsarbeit. Call Center als informatisierte Grenzstelle In: Ingo Matuschek / Annette Henninger / Frank Kleemann (Hg), Neue Medien im Arbeitsalltag. Empirische Befunde, Gestaltungskonzepte, theoretische Perspektiven. Wiesbaden 2001, S. 58.
- 20. Karl Marx, Das Kapital, a.a.O., S. 578.
- 21. Ebd., S. 579. In einer Fußnote dazu zitiert Marx den „Essai sur la Nature du Commerce en Général“ aus dem Jahr 1756, wo es über mit Stücklohn bezahlte Handwerksgesellen heißt, sie würden „arbeiten, so viel sie können, in ihrem eigenen Interesse, ohne weitere Beaufsichtigung”.
Dieser Artikel bezieht sich auf: