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Editorial Heft 6

23. März 2022

Seit die Pandemie die Welt fest im Griff hat, ist der virale Schrecken zur Normalität geworden. Was den Alltag vor der Seuche noch aushaltbar machte, ist zwischenzeitlich dem Imperativ der Distanz zum Opfer gefallen. Fluchtpunkt der Impfkampagnen ist nur die Rückkehr zur gewohnten Tristesse. Die rapide Entwicklung der dafür nötigen Impfstoffe ist Ausdruck eines gigantischen Fortschritts der Produktivkräfte, der aber ständig unterlaufen wird durch die praktische Anwendung des Wissens über Naturprozesse unter den Maßgaben von Profit und nationalem Standort. Während in den Metropolen nach einem weiteren Winter mit beträchtlichen Sterbezahlen Hoffnung besteht, dass das Infektionsgeschehen unter Kontrolle gebracht werden kann, sieht es für die im Weltmarkt untergeordneten Nationalökonomien indes düster aus: Im Gerangel um Profite und Impfstoffe sind die Abgehängten angesichts der zügig voranschreitenden Durchseuchung weitgehend auf sich allein gestellt. Das ist selbst in der egoistischen Sicht der hochentwickelten Nationalökonomien fatal, zur Einsicht verhalf das bloß einer überschaubaren Anzahl der Staatenlenkerinnen.

So viel von den zu Popstars avancierten Virologen zu lernen ist, so sehr bleiben sie klassische Theoretikerinnen des parzellierten Wissens: Zwar wissen sie um den Einfluss von Klimaerwärmung, Agrarindustrie, Bevölkerungskonzentration und Flugverkehr auf die epidemiologische Entwicklung, die ökonomischen Triebkräfte dahinter bleiben ihnen aber gänzlich unklar. So sind ihre Ratschläge vor allem der Schadensbegrenzung verpflichtet, ohne das Ganze in den Blick zu bekommen. Unterlaufen werden ihre Empfehlungen vom politischen Personal. Dessen Krisenlösungskompetenz scheint nicht nur im konsequenten Ausblenden der ökonomischen Dynamik hinter der Pandemie zu liegen, sondern in deren aktiver Verschleierung: Wirbelten die Viren trotz widersprechender Evidenz im nächtlichen Park durch die Luft, machten sie im Schlachtbetrieb hingegen Schichtpause. Die Ausgangssperre konnte so als Gebot der Stunde verkauft werden, ohne dass die Produktion von Mehrwert in Mitleidenschaft gezogen wurde. Das ist schließlich Hauptgeschäftszweig der nationalen Politik, in der Einsichten in kompliziertere Zusammenhänge lediglich stören, weil sie sich nicht in werbewirksame Parolen verpacken lassen und Geldgeber verschrecken. Nachdem die vierte Welle schließlich offenbarte, dass durch niedrige Impfquoten der Kollaps der ramponierten Gesundheitsinfrastruktur und erneute staatliche Eingriffe in die Profitinteressen einzelner Kapitale drohten, wird die Verantwortung für das Debakel vollends den Atomisierten überantwortet: Wer sich der durchaus vernünftigen Einsicht in die Wirksamkeit der Impfung versperrt, darf vorläufig kaum mehr am gesellschaftlichen Leben teilhaben, riskiert sogar den Verlust des Arbeitsplatzes. Schon im Frühjahr 2020 zeigte sich, dass die Individualisierung von Verantwortung den allgemeinen Furor befeuert. Zwei Jahre später wird die Bereitschaft zur Impfung zur gesellschaftlichen Spaltungslinie stilisiert, an der das pandemische Unbehagen kollektiv abgewehrt werden kann. Das Gelärme um eine Impfpflicht gründet in nachvollziehbarer Angst und Besorgnis, aber auch im Versuch, das folgenschwere Staatshandeln zu kaschieren. Mit Zwang und Schuldzuweisung wird dem Unwillen überzeugter Impfgegner aber kaum beizukommen sein.

Die düstere Zukunftsaussicht unserer Zeit unterscheidet sich von den Grauen der Vergangenheit.

Die Bilder von Waldbränden, Dürren und Überschwemmungen, die in der trauten Wohnstube über den Bildschirm flimmern, kündigen die lange ausgeblendete Unkontrollierbarkeit der Natur schon seit geraumer Zeit an. Die Vorstellung, dass die Existenzgrundlage wegzubrechen droht und die Zeit für Reaktionen schwindet, setzt Ängste frei: Nicht nur der eigene Tod, der Tod der Gattung steht im Raum. Die düstere Zukunftsaussicht unserer Zeit unterscheidet sich aber von den Grauen der Vergangenheit. Der Klimawandel wirkt schleichend, die langfristigen Konsequenzen für das eigene Leben scheinen ungewiss: Hitzerekorde und Extremwetter deuten erst vage an, dass die Einschläge näherkommen. Die Rettung vor dem Unheil wird derweil im ordentlichen Verfahren der bürgerlichen Demokratie gesucht. Und so schien lange Zeit nicht nur eine grüne Kanzlerin möglich, auch andere politische Protagonisten, die bislang eher durch Lobbyismus für die Kohle- und Automobilindustrie auffielen, inszenierten sich ungeniert als Klimaaktivisten. Doch die Hoffnungen in einen »klimapolitischen Aufbruch« verflogen, noch bevor die neue Bundesregierung eine Amtshandlung tätigte. Passend dazu inszenierten die größten Industrienationen im vergangenen Herbst ihre Klimapolitik durch den kollektiven Münzwurf in den römischen Trevi-Brunnen als heiteres »Wünsch Dir was«, bevor sie an der UN-Klimakonferenz in Glasgow klarmachten, dass sie zu keinen auch nur ansatzweise ausreichenden Maßnahmen bereit sind.

Was am destruktiven gesellschaftlichen Naturverhältnis in den letzten Jahrzehnten notdürftig durch umweltpolitische Reformen gekittet wurde, bricht vor unseren Augen auseinander. Längst zeichnet sich ab, wohin die klimapolitische Reise unter den Sachwaltern des Kapitals geht: Eben noch palaverten sie über möglichst geringe Einschränkungen des Emissionswachstums, nun fällt ihnen nicht viel mehr ein, als die Kosten für ihre untauglichen Rezepte nach unten durchzureichen. Dagegen haben sich die radikaleren Teile der Klimabewegung organisiert. Sie haben erkannt, dass auch die Klimafrage in der Klassengesellschaft gestellt wird. Und es dämmert ihnen, dass ein menschenwürdiges Leben unter diesen Vorzeichen für die übergroße Mehrzahl nur durch universelle Emanzipation zu erreichen ist. Eine Linke aber, die wie Andreas Malm den bolschewistischen »Kriegskommunismus« als Bürgerschreck ins Feld führt, um damit am Ende doch nur links-sozialdemokratische Politik durchzusetzen, oder meint, den Staat gleich ganz ohne Transformation für Klimaziele instrumentalisieren zu können, erweist sich dafür als miserabler Bündnispartner.

Was notdürftig durch umweltpolitische Reformen gekittet wurde, bricht vor unseren Augen auseinander.

Etwas hoffnungsfroher könnten da die Wellen an sozialen Kämpfen stimmen, die seit über einem Jahrzehnt über die Erde schwappen: Seit dem Kriseneinbruch 2008 begleitet der vage Gedanke eines freien Gemeinwesens die Massenmobilisierungen von Kairo bis Minneapolis. Noch bleibt er unbestimmt, fehlen ihm die theoretischen Konturen wie auch die ersten Schritte zu seiner Verwirklichung. Die Wütenden, die gegen die Zumutungen einer Welt aufbegehren, die einen das Fürchten lehrt, organisieren sich im globalen Maßstab weniger um die Klassenfrage, als um die nach politischer Teilhabe, geschlechtlicher Identität oder Betroffenheit von rassistischer und sexueller Gewalt. Die Mobilisierungen oszillieren einerseits zwischen dem Kampf ums Überleben, Wut über Polizeigewalt und Verteidigung gegen brutalisierte Männlichkeit, andererseits aber auch zwischen autoritärer Aggression, Verschwörungswahn und konformistischer Rebellion. Die sozialen Proteste, die vor der Pandemie durch die Welt fegten, könnten im Zuge der absehbaren brutalen Aufräumarbeiten zur Bewältigung der ökologischen Krise erneut anrollen. Als der IWF kürzlich vor dem Verlust der »sozialen Kohäsion« warnte, dürfte er nicht nur den Sturm auf das Kapitol im Sinn gehabt haben, sondern auch die sozialen Revolten gegen die Zumutungen seiner Weltordnung.

Wo die Not aber nicht in tragfähige gegenseitige Hilfe und Feindschaft zu den Verhältnissen mündet, lässt sie die Einzelnen weiter verrohen: Aufgeheizt durch Demagogen, die bloß noch die bestehenden Spaltungen vertiefen, aber kein konsistentes Programm anbieten können, stellen sich ihre filmreifen Palaststürme als bizarres Schauspiel aufgebrachter Kleinbürgerinnen, Esoteriker und Bürgerkrieger mit Selfiestick heraus. Ließe man sie noch uneingeschränkter gewähren als dies ohnehin schon geschieht, könnten sie fraglos noch mehr Unheil anrichten, doch ihre Einheit ist so fragil, dass eine Konsolidierung zur Macht vorerst unwahrscheinlich ist. Die »Normalungetüme«, die als Querdenkerinnen und Trumpisten ihr Unwesen treiben, verraten als Ausgeburten des Normalen vielmehr eine unbehagliche Wahrheit über die objektive Unordnung, die sich im Subjekt niederschlägt.

Wo die Not nicht in tragfähige gegenseitige Hilfe und Feindschaft zu den Verhältnissen mündet, lässt sie die Einzelnen weiter verrohen.

Die nationalen Beschwörungsformeln und die expansive Fiskalpolitik der US-Regierung sollen dabei dem voranschreitenden politischen Legitimationsverlust entgegenwirken. Nach Jahrzehnten der Aufrüstung im Innern und der Mobilisierung der Ressentiments scheinen für kurze Zeit wieder Versprechen eines besseren Lebens die politischen Verlautbarungen zu bestimmen. Auch in der EU sind die wirtschaftspolitischen Dogmen angekratzt worden. Selbst in Berlin hat es sich offenbar herumgesprochen, dass die Eurozone und ihre Vorzüge für das Exportmodell nicht zum Nulltarif zu haben sind, und dass es gerade um mehr geht als um die üblichen demokratischen Machtspiele. Die Tauglichkeit der Maßnahmen wird sich an den Grenzen der ökonomischen Möglichkeiten erweisen müssen.

Ob wir eine historische Zäsur miterleben, wie es von den einen beklagt, von den anderen begrüßt wird, wird der Gang der Akkumulation bestimmen. Die wirtschaftspolitischen Frontverläufe verschieben sich in derart harten Einbrüchen rasch; fraglich bleibt, wie nachhaltig die Landnahme jeweils ist. Die beiden widerstreitenden Lager verbindet, dass ihnen die wiederkehrenden Krisen ein Mysterium bleiben. Während die Liberalen mit Flexibilisierung, Sozialkürzungen und Lohnsenkungen auf wirtschaftspolitische Körperverletzung schwören, glauben die Staatslinken an soziale Wohltaten zur Krisenüberwindung. Die Marktgläubigen liegen mit ihrer Vorstellung einer bereinigenden Krise aber näher an der Realität, sie verschweigen bloß die sozialen Verheerungen, während sie eilig ihre Portfolios diversifizieren und ihre Villen bewehren.

Die Wahl ist einstweilen eine zwischen Pest und Cholera: langanhaltende Hemmungen der Akkumulation oder Bereinigungscrash mit brutalen sozialen Folgen. Die pragmatischen Staatseingriffe zur Abwendung von letzterem zementieren die Überakkumulation, indem sie Zombieunternehmen am Leben erhalten. Die Zentralbanken pumpen weiter regelmäßig Beruhigungsmittel in von Panikattacken heimgesuchte Marktsegmente. Im Ergebnis stehen die Rettungssanitäter der Zentralbanken und das politische Personal, so emsig sie gerade Maßnahme auf Maßnahme beschließen, ziemlich ratlos da.

Die Machthaber bekunden mancherorts bereits Mühe, den Staatshaushalt zu kitten und zugleich die immer wieder auflodernden Proteste in Schach zu halten. Anhebung von Steuern auf Lebensmittel, Treibstoff, Telefonie oder höhere Fahrpreise im öffentlichen Verkehr scheiterten in den letzten Jahren vom Nahen Osten über Frankreich bis nach Kolumbien wieder und wieder an massiven Unruhen. In Indien, wo beinahe die Hälfte aller Erwerbstätigen in der Landwirtschaft arbeitet, scheiterte Narendra Modi mit seinen jüngsten Agrarreformen, die eine umfassende Privatisierungswelle ausgelöst und Millionen Bauern die Existenzgrundlage gekostet hätten, an monatelangen Massenprotesten: Nun gehen dem indischen Autokraten angesichts des politischen Drucks aus den Kornkammern des Landes, dem ökonomischen Zwang zum landwirtschaftlichen Industrialisierungsschub und der ausgewachsenen Gesundheits- und Hungerkrise immer mehr die wirtschaftspolitischen Rezepte aus. Wo das Elend nicht mehr regierbar ist, wird zu unverhohlener Gewalt gegriffen; »soziale Kohäsion« stellt das freilich nicht her.

Identität ist meist schlicht die erste Bezugsgröße, an der sich das Unbehagen in der klassenlosen Klassengesellschaft festmachen lässt.

Hoffnung keimte auch in den Protesten gegen die unverhüllte rassistische Brutalität auf. Initiiert durch schwarze Jugendliche fegte auf dem Höhepunkt der ersten Infektionswelle ein Aufstand unter dem doppeldeutigen Slogan »I can’t breathe« durch fast alle US-Städte. Die »George Floyd Rebellion« lässt sich nicht hinreichend mit dem Chauvinismus der Trump-Ära erklären. Eher schien sich eine lange aufgestaute, diffuse Wut zu entladen, nachdem das eklatante Regierungsversagen seinen traurigen Höhepunkt im Feilschen um Beatmungsgeräte fand, während sich in Kühllastern die Leichen stapelten. Die Tatsache, dass sich unter den mittlerweile rund 800.000 Todesopfern und über 50 Millionen Infizierten überproportional viele nicht-weiße Proletarisierte befinden, trug zur außergewöhnlichen Aufstandsdynamik bei, die unmittelbar die unteren Klassensegmente absorbierte und durch sie radikalisiert wurde. Zwar arbeitet sich Protest gerade eher an der Frage nach staatlicher Anerkennung ab – vor allem dort, wo die Klasse besonders zerfasert ist und die alten Zentren proletarischer Macht erodiert sind. Identität ist dabei meist schlicht die erste Bezugsgröße, an der sich das Unbehagen in der klassenlosen Klassengesellschaft festmachen lässt. Statt in den Chor Sahra Wagenknechts und anderer einzustimmen und einen national deformierten Begriff der Klasse gegen Anerkennungskämpfe auszuspielen, wäre vielmehr zu analysieren, wie spezifische Unterdrückung und Klasse ineinanderwirken – und wie sie im gemeinsamen Kampf aufzuheben wären.

Die Situation ist chaotisch und unübersichtlich, eine weltrevolutionäre Bewegung trotz aller Kämpfe weit und breit nicht zu sehen. Dass die Kämpfe fast durchweg scheitern und unverbunden bleiben, gibt schon seit Jahren traditionellen Organisationsvorstellungen einen gewissen Auftrieb: Die Partei soll es richten, sie stiftet Einheit und Kontinuität, bietet ein Programm und Führung. Vertrauen in die reine Spontaneität liegt uns fern, und selbstverständlich spricht nichts dagegen, dass Sozialrevolutionäre sich zusammenschließen, um für ihre Auffassungen zu streiten; im Gegenteil. In der Renaissance des Parteigedankens aber wird wie in den seligen Zeiten der alten Arbeiterbewegung die Organisation zum eigentlichen Subjekt der Revolution, an ihrem Wachstum soll sich ablesen lassen, wie es um die Klasse bestellt ist. Die Klasse erfährt eine äußerliche, politische Zusammenfassung, die spiegelbildlich zum existierenden Staat aufgebaut ist, mit dem sie es schließlich aufnehmen soll. Das ist weit entfernt vom Gedanken einer Selbstbefreiung der Lohnabhängigen, die sich im Zuge von Kämpfen, von Rückschlägen und Selbstkritik zu bewussten gesellschaftlichen Produzentinnen erziehen und dabei vom gegebenen, aber verkehrten materiellen Zusammenhang zwischen sich ausgehen. Andeutungen dessen waren in der Pandemie zu beobachten, wo immer Arbeiterinnen selbständig für Betriebsschließungen gestreikt oder gegenseitige Hilfe praktiziert haben. Doch solche Bewusstseinsbildung der Produzentinnen zeigt sich auch anderswo. In einer unlängst erschienenen Studie zum Klimabewusstsein von Automobilarbeitern wird deutlich, dass die Beschäftigten nicht nur die Angst um ihren Arbeitsplatz, sondern auch das ökologische Versagen ihrer Branche umtreibt. Längst dämmert es den Produzenten, dass sie Schund produzieren. Entscheidend ist weniger der gewerkschaftliche Organisationsgrad oder eine neue Massenorganisation, sondern wie sehr ein solches Bewusstsein über das eigene Tun vorhanden ist. Das zeigt sich gerade angesichts der verheerenden Gesundheitskrise auch im Arbeitskampf in Berliner Krankenhäusern. Liefen auf den Demonstrationen neben Pflegerinnen auch allerhand Leute mit, die Krankenhäuser nur als Patienten kennen, so ist das vermutlich Ausdruck eines Bewusstseins darüber, wie wichtig es wäre, diese Infrastruktur in gesellschaftlicher Hand zu haben. Diese untergründige Gärung, die auch dort stattfindet, wo Linke sie nicht vermuten würden, gilt es zu befördern.

Nur wenn die Commune eine denkbare Option wird, kann man auch unbekümmert für Tagesforderungen kämpfen.

Sozialrevolutionärinnen sollten sich von Reformlinken nicht dadurch unterscheiden, dass sie ständig bloß auf die Grenzen verweisen, die die jetzige Wirtschaftsordnung den Tageskämpfen setzt, und konkrete Forderungen ablehnen. Häufig dürften sich solche Forderungen als unterstützenswert erweisen, solange man seine Kräfte nicht einzig danach ausrichtet. In der Pandemie wären Dinge wie die Abschaffung der privaten Krankenversicherung oder die Rekommunalisierung von Krankenhäusern dringend geboten, mit Blick auf das ökonomische Desaster in ihrem Gefolge wird es notwendig sein, finanzielle Unterstützung für Arbeitslose oder die Streichung von Mietschulden durchzusetzen. Im Unterschied zur Reformlinken müssten Radikale aber dennoch deutlich machen, dass solche Dinge an reale, nicht bloß vorgeschobene Grenzen des Kapitals stoßen. Erfolgreiche Kämpfe von Lohnabhängigen verschärfen zumindest mittelfristig die Schieflage des Systems – und bringen es nicht durch die Erhöhung der Kaufkraft ins Lot. Insofern sind immanente Forderungen immer mit einem Widerspruch behaftet: Man schwächt Kapital und Staat, während man von ihnen etwas verlangt. Damit untergräbt man das Vermögen der Adressaten, die Forderungen auch zu erfüllen.

Dieser Widerspruch ist nicht zuzukleistern, sondern zu benennen. Übergangsforderungen, deren Erfüllung Schritt für Schritt aus dem Kapitalismus hinausführen soll, sind illusorisch; irgendwann prallen die in den Forderungen ausgedrückten Bedürfnisse der Lohnabhängigen und die Erfordernisse der Kapitalakkumulation schroff aufeinander. Dann knickt man entweder vor den sehr realen Sachzwängen der kapitalistischen Produktionsweise ein oder betreibt ihre Aufhebung. Das wäre der zweite Unterschied zu den Reformlinken: die Aussicht auf eine klassenlose Gesellschaft mit auf die Tagesordnung zu setzen und die Lohnabhängigen entsprechend nicht als Objekte staatlicher Fürsorge, sondern als potenzielle Subjekte der sozialen Emanzipation und Selbstorganisation anzusprechen. Wie begrenzt und kurzlebig die Andeutungen dessen in der Pandemie bislang auch waren, sozialrevolutionäre Kritik muss sie als Umrisse des einzig denkbaren Auswegs aus dem ganzen Schlamassel kenntlich machen. Nur wenn die Commune eine denkbare Option wird, kann man auch unbekümmert für Tagesforderungen kämpfen.

Die Maßnahmen gegen die Pandemie haben auf so breiter Front Klassenkämpfe zum Erliegen gebracht, dass man intuitiv fast den linken Gimpeln zustimmen könnte, die das Ganze für einen bösen Schwindel halten; bis Anfang 2020 kam es vom Irak bis nach Chile, von Frankreich bis in den Sudan weltweit zu Erschütterungen wie seit langem nicht mehr. Mit dem Nachlassen des viralen Schreckens dürften solche Unruhen wiederkehren, und die bestehende Ordnung ist unterdessen nicht stabiler geworden. Mehr arbeiten, das paukt die französische Bourgeoisie ihrem Proletariat schon seit Beginn der Pandemie ein, sei die einzig denkbare Antwort auf das exzessive Schuldenmachen, mit dem eine schwere Wirtschaftskrise vorerst abgewendet werden konnte. Wenn es stimmt, dass wir keinen dauerhaften Kurswechsel erleben, mit dem ein spendierfreudig-sozialdemokratischer Staat sein Comeback feiert, sondern irgendwann die Zeche gezahlt werden muss, dann könnten uns nach der Pandemie zünftige Auseinandersetzungen ins Haus stehen. Eine Gewähr ist das für nichts, aber die Bedingungen für subversives Wirken waren schon schlechter.

Kosmoprolet, Februar 2022