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Editorial Heft 4

13. Dezember 2015

«Die Mauer, an der alles abprallt, ist die allseitige Abhängigkeit aller Einzelnen voneinander, und damit vom bestehenden System, das dieser Abhängigkeit, wie ungenügend und krisenhaft auch immer, die einzige bislang bekannte Form gibt. Gerät das System aus den Fugen, wagt niemand den Schritt ins Freie, sondern alle heften sich ans Gegebene. Kämpfe werden viel seltener niedergeschlagen, als sie vor dieser Mauer von sich aus kehrtmachen. Schon weil sie nicht wissen, was danach kommt, haben die Proletarier heute genauso viel Angst vorm Zusammenbruch wie die Herrschenden.»

Das Jahr 2011, in dem die Leute an vielen Orten in Scharen auf die Straße und manchmal auf die Barrikaden gingen, wurde oft mit 1968 verglichen. Kommentatoren, denen Revolutionsromantik fern liegt, stellten verblüfft fest, dass weltweit sogar erheblich mehr Menschen in Bewegung geraten waren als im legendären Jahr der Revolte. Seitdem hat sich die Lage bekanntlich je nach Land eingetrübt oder pechschwarz verfinstert. Wo 2011 Plätze besetzt wurden, wie in Europa, herrscht wieder der bekannte Alltagstrott, ohne dass sich an den Gründen zum Aufbegehren etwas geändert hätte. Wo Diktaturen gestürzt oder wenigstens ins Wanken gebracht wurden, wie in der arabischen Welt, herrscht heute fast ausnahmslos das Militär oder ein Bürgerkrieg unter reger Beteiligung von Djihadisten. Aus dem großen Aufbruch ist nichts geworden, zumindest nichts Gutes. Fast scheint die Regel zu gelten, dass die Misere umso größer ist, je weiter die Rebellierenden gegangen sind. Stillhalten wird zwar nicht belohnt, aber wenigstens auch nicht bestraft.

Trotzdem plagt die Sachwalter der Ordnung weiter das Gespenst der Revolte. »Die Situation erinnert mich an 1968«, unkte ein hohes Tier des europäischen Staatenkonglomerats, als die Griechen neulich dem Spardiktat mehrheitlich ein Oxi entgegenhielten. »Es gibt in Europa eine weitverbreitete Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen, die schnell in eine revolutionäre Stimmung umschlagen kann. Es wird die Illusion erweckt, es gebe eine Alternative zu unserem Wirtschaftssystem, ohne Sparpolitik und Einschränkungen. Das ist die größte Gefahr, die von Griechenland ausgeht.«1

Selten hat sich die Linke an der Macht schneller und gründlicher blamiert als diesen Sommer in Athen.

Der Befund stimmt nur zur Hälfte und darin liegt das Problem. An der weitverbreiteten Unzufriedenheit besteht kein Zweifel, zumindest für Griechenland kommt das Wort sogar einer gewaltigen Beschönigung gleich, schließlich hat dort in den letzten Jahren angesichts massenhaften Elends schiere Verzweiflung um sich gegriffen. Dass bereits die bescheidene Hoffnung, wenigstens nicht noch weiter zu verarmen, in der politischen Klasse die Alarmglocken schrillen lässt, sagt einiges. Eine Alternative zum existierenden Wirtschaftssystem aber hat anders als 1968 niemand aufgeworfen, die Protestierenden von 2011 so wenig wie die Athener Linksregierung von 2015. Beide eint vielmehr der Glaube, die drastischen Einschnitte ließen sich prinzipiell innerhalb der jetzigen Ordnung vermeiden, und ein Absehen von weiteren Kürzungen bei Renten, Löhnen, Staatsjobs wäre für diese Ordnung – Stichwort Massenkaufkraft – sogar von Vorteil. Insofern ist Syriza tatsächlich die Fortsetzung der Proteste mit anderen Mitteln; eine Fortsetzung ihrer Illusionen, mit Mitteln, die all das abschneiden, was an ihnen trotz dieser Illusionen vorwärtsweisend war: Selbstorganisation, Missachtung der Gesetze, direkte Aneignung, Konfrontation mit der Staatsmacht.

Selten hat sich die Linke an der Macht schneller und gründlicher blamiert als diesen Sommer in Athen. Allerdings in einer Weise, die den Traum von einer Krisenbewältigung mit menschlichem Antlitz nicht zwangsläufig platzen lässt. Denn das Programm der Linken kam gar nicht erst zum Zuge, der Crashtest in den Mühlen des Weltmarkts ist ihm erspart geblieben. Die Gläubiger, allen voran der deutsche Staat, haben die griechische Regierung mit so unerbittlicher Härte zur Kapitulation gezwungen, dass die Linken auf einen Schuldigen zeigen können. Gäbe es Wolfgang Schäuble nicht, der ungerührt den Blockwart der europäischen Staatsfinanzen macht, die Linke müsste ihn erfinden: ein herzloser Technokrat und ein Deutscher noch dazu. Und es stimmt ja, dass jeder minimale Verhandlungserfolg vom Team Tsipras die miserable Lage der griechischen Bevölkerung, wenigstens kurzfristig, etwas gelindert hätte; und schon seit einer Weile halten nicht nur Linke, sondern selbst stramme Marktliberale die federführend von Deutschland durchgeboxte Sparpolitik in Europa für fragwürdig. Ironischerweise bekommt die griechische Regierung im Drängen auf einen Schuldenschnitt ausgerechnet vom IWF Rückendeckung; jedes Kind weiß, dass der griechische Schuldenberg niemals abzutragen sein wird, und seit Beginn der Troika-Programme ist er gewachsen, nicht geschrumpft.

Aber gerade dass der linke Realismus in dieser konkreten Frage ausnahmsweise tatsächlich realistisch ist, die griechische Nationalökonomie also ohne Atempause kaum auf die Beine kommen wird, verdeckt, dass er es grundsätzlich keineswegs ist. Natürlich wirken Kürzungen der Staatsausgaben zumindest kurzfristig krisenverschärfend, gerade in einem Land wie Griechenland, wo der öffentliche Sektor größeres Gewicht hat. Die Alternative der kreditfinanzierten Staatsprogramme bietet auf Dauer aber auch keine Lösung und mehr haben Syriza & Co. nicht im Angebot. Natürlich ist es Ideologie, dass Lohnsenkungen zwangsläufig die Konjunktur wieder ankurbeln, denn möglicherweise besteht auch an einer billigeren Arbeitskraft schlicht kein Interesse – wovon zig Millionen Menschen auf der Welt ein Lied singen können. Aber Lohnerhöhungen zu empfehlen, da sie doch die Nachfrage stärken, ist erst recht Humbug, denn wenn das Kapital die Nachfrage nach seinen Waren quasi selbst bezahlen muss, könnte es sie auch gleich verschenken.

Trotzdem liegt in einer autonomen Versammlung selbst nur einiger Dutzend klarsichtiger Proletarier eher ein Versprechen von Emanzipation als in einer Linkspartei mit Millionen Wählern.

Dass selbst staatskritische Genossinnen nach dem Wahlsieg von Syriza jubiliert haben, endlich könne man wieder über Kapitalismuskritik in Europa sprechen, obwohl ein Varoufakis unzweideutig erklärt hatte, angesichts der faschistischen Gefahr gelte es den Kapitalismus vor sich selbst zu retten, ist skurril – und die nun einsetzende Debatte darüber, ob ein Grexit nicht das kleinere Übel wäre, ist es allemal. Während Linke in Deutschland unter immer größeren Verrenkungen am Bündnis von Staat und Bewegungen, von »regierender und kämpfender Linker« festhalten, rufen in Athen Leute zu »Versammlungen von Arbeitern und Arbeitslosen« gegen die Regierung auf, um über Streiks und sonstige Gegenwehr zu beratschlagen. Der »regierenden Linken« wird über kurz oder lang wenig übrig bleiben, als der »kämpfenden« eins auf den Deckel zu geben, denn Ruhe und Ordnung sind gerade in der derzeitigen Situation oberstes Gebot. Momentan steht eher nicht zu erwarten, dass ein neuer Aufschwung der Kämpfe gerade von Griechenland ausgehen wird; die Leute dort sind aus offenkundigen Gründen erschöpft. Trotzdem liegt in einer autonomen Versammlung selbst nur einiger Dutzend klarsichtiger Proletarier eher ein Versprechen von Emanzipation als in einer Linkspartei mit Millionen Wählern. Denn in dem auf Dauer furchtbar langweiligen Streit zwischen Neoliberalen und Keynesianern haben Radikale nichts zu gewinnen. Er bewegt sich durchweg auf dem Boden der gegebenen Verhältnisse, das heißt er betrifft allein die Frage, wie man den Laden wieder flott machen kann – ein Streit um Mittel, nicht um Zwecke.

Wie wir schon öfter bemerkt haben, kennzeichnet kaum etwas die heutige Situation so sehr wie die Tatsache, »dass die Flaute des Reformismus und das Ende des Staatssozialismus keineswegs einem wirklichen Bruch mit den Verhältnissen den Weg gebahnt haben«; es besteht »eine vollständige Ohnmacht, eine neue gesellschaftliche Ordnung ins Auge zu fassen2, weshalb die Sachwalter der jetzigen, wenn sie eine »revolutionäre Stimmung« befürchten, leider daneben zu liegen scheinen. Selbst 2011 war eine solche allenfalls dort gegeben, wo in Gestalt kleptokratischer Diktatoren eine konkrete Zielscheibe existierte. Die Mauer, an der alles abprallt, ist die allseitige Abhängigkeit aller Einzelnen voneinander und damit vom bestehenden System, das dieser Abhängigkeit, wie ungenügend und krisenhaft auch immer, die einzige bislang bekannte Form gibt. Gerät das System aus den Fugen, wagt niemand den Schritt ins Freie, sondern heften sich alle ans Gegebene. Kämpfe werden heute viel seltener niedergeschlagen, als sie vor dieser Mauer von sich aus kehrtmachen. Wenn die griechische Bevölkerung weitere Sparmaßnahmen in einer Volksabstimmung ablehnt, um kurz darauf ein noch drastischeres Paket zu schlucken, illustriert sie dies genauso wie die pauperisierten Massen in Ägypten, die 2011 unter Einsatz ihres Lebens Mubarak zum Teufel gejagt haben, nur um zweieinhalb Jahre später den Staatsstreich seiner Militärkumpanen zu bejubeln. Schon weil sie nicht wissen, was danach kommt, haben die Proletarier heute genauso viel Angst vorm Zusammenbruch wie die Herrschenden, die nicht wirklich herrschen, sondern nur noch das aus ihrer scheinrationalen Ordnung erwachsende Chaos einzudämmen versuchen. Diese Angst scheint früher oder später alle zur Räson zu bringen.

Kämpfe werden heute viel seltener niedergeschlagen, als sie vor dieser Mauer von sich aus kehrtmachen.

Leichtes Spiel haben in dieser Situation diejenigen, die dem Kapitalismus zwar auch nicht entfliehen können, aber doch mit dem Heiligenschein einer ganz anderen Ordnung auftreten und nicht mal vor dem Tod Angst haben, also die militanten Islamisten. Waren wir blauäugig, als wir 2011 mit Blick auf den arabischen Frühling schrieben, es werde wohl kaum »am Ende wie 1979 im Iran ein klerikales Terrorregime stehen«, denn die »Masse der Jugendlichen, der Schrittmacher der Bewegung, interessiert sich (…) weniger für islamische Moral als für Freiheit und Reichtum«?3 Ja und nein. Weder in Tunesien noch in Ägypten konnten sich die mit moderatem Anstrich auftretenden Islamisten an der Macht halten. Ob dies nun ihrem der islamischen Moral entspringenden Drang, Freiheiten einzuschränken, oder ihrer Unfähigkeit, an der wirtschaftlichen Misere auch nur ein Jota zu ändern, geschuldet war, sei dahingestellt. Und auch ihr türkisches Vorbild hat im Gefolge der Taksimplatz-Bewegung an Zuspruch verloren. Triumphiert hat der Islamismus in den vergangenen Jahren nicht als soziale Massenbewegung, sondern in Gestalt terroristischer Rackets, als Djihad. Es sind einige Tausend aus vieler Herren Länder, die sich als Schlächter in den Dienst des neuen Kalifats stellen, aber nicht Millionen. Ob das so bleibt, wissen wir nicht, und es ist ja so schon schlimm genug; erst recht nicht setzen wir irgendein Vertrauen in die Geschichte, mit dem bereits die Linke in den 1930er Jahren gegenüber dem Nationalsozialismus versagt hat. Optimismus ist schon deshalb fehl am Platz, weil die Djihadisten überall dort Aufwind bekommen, wo die Ordnung implodiert, und das Chaos gerade im Nahen Osten sich eher ausbreiten dürfte. Die Stabilität, die die Staatslenker immer weniger herstellen können, interessiert sie unter den gegebenen Umständen gar nicht, anders als zum Beispiel die konservativen Muslimbrüder. Solche Staatsislamisten zu analysieren, bereitet einem nicht unbedingt Kopfzerbrechen: Ein Teil des Bürgertums versucht den Klassenkampf durch die Beschwörung der Gemeinschaft der Gläubigen zu exorzieren, denunziert den westlichen Materialismus, bekämpft die Massenarbeitslosigkeit vornehmlich durch Verdrängung der Frauen an den Herd, macht ein bisschen Armenfürsorge und stiftet Einheit durch Gepolter gegen Israel; ein stockreaktionäres Programm, dessen Herrschaftsrationalität aber unschwer zu entziffern ist, ja auf der Hand liegt. Wie aber verhält es sich mit den Djihadisten? Sicherlich zielen sie – zumindest teilweise – ebenfalls auf eine stabile Ordnung, wie sie im Herrschaftsgebiet des Islamischen Staates auch durchgesetzt wird. Aber der heilige Krieg ist für sie nicht nur Mittel zum Zweck, sondern geradezu ihr Lebenselixier, und was man über ihre Freiwilligen oder auch die Pariser Attentäter lesen kann, entspricht dem Klischee des armen Würstchens, das seinen großen Auftritt notfalls eben als Suicide Bomber hat, aber auch bei den Hell’s Angels hätte landen können, wie ein reuiger Syrienheimkehrer kürzlich bekannte. Vielleicht ist die ganze Ideologie hier nur fadenscheinige Rationalisierung blanker Mordlust und anderer niederer Bedürfnisse und statt Marx müsste man eher Freud konsultieren, zumal die Selbstermächtigung der Djihadisten zuallererst eine über den Frauenkörper ist (womit sie in Kriegssituationen freilich nicht alleine stehen). Die materialistische Analyse des heutigen Islamismus ist noch zu schreiben. Ein interessanter älterer Versuch, den wir für einen Abdruck in Betracht gezogen hatten, ist Lafif Lakhdar, Warum der Rückfall in den islamischen Archaismus? (1981). Er findet sich, zusammen mit einigen Kommentaren, in deutscher Erstübersetzung auf unserer Webseite.

Es fehlt ein Plan, der mehr ist als eine bloße Absichtserklärung.

Als der Krisenschlamassel einsetzte, hatten wir an dieser Stelle die Bildung eines »sozialrevolutionären Pols« ins Auge gefasst. Auch daraus ist nichts geworden. Zwar steht man in der hiesigen Linken nicht mehr sofort als der Klassenclown da, wenn man auf der antagonistischen Verfasstheit der Gesellschaft besteht und in Streiks mehr erkennt als ein belangloses Gerangel zwischen »Warensubjekten« oder ähnliches. Es sind auch hier und da neue Zirkel aufgetaucht, die abseits von ML-Gerümpel über Klassenkämpfe und Selbstaufhebung des Proletariats diskutieren. 4 Die Debatten der Linken sind überhaupt etwas weniger weltabgewandt-gespenstisch als vor der Krise. Aber es klemmt weiter vor allem bei dem, was traditionell Praxis heißt. Dass uns die großen Mobilisierungen zu Aktionstagen, auf dass es wenigstens mal wieder scheppere, die riesige Mühe nicht wert zu sein scheinen, haben wir schon öfter bekundet, und die mehr oder weniger linksradikalen Organisationen, die seit einiger Zeit mit Eifer aufgebaut werden, suchen offenbar vor allem in solchen Mobilisierungen ihre Daseinsberechtigung. Darauf herumzuhacken ist aber langweilig und verdeckt oft nur die eigene Ratlosigkeit. Es fehlt ein Plan, der mehr ist als eine bloße Absichtserklärung.

Eiszeit, Schweiz
Freundinnen und Freunde
der klassenlosen Gesellschaft, Berlin
La Banda Vaga, Freiburg
www.kosmoprolet.org

August 2015

  • 1. Donald Tusk, EU-Ratspräsident, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.7.2015.
  • 2. «Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft, Die Ordnung herrscht in Kairo, in: dies. (Hg.), Vier Jahre Wirren in Ägypten, Berlin 2015, 5.
  • 3. Dies., Arabischer Frühling im Herbst des Kapitals, Kosmoprolet 3 (2011), 17.
  • 4. Zum Beispiel Translib Leipzig sowie der Surplus Club und die Antifa Kritik & Klassenkampf in Frankfurt am Main.