Kritische Anmerkungen zu Arabischer Frühling im Herbst des Kapitals

11. Dezember 2012

Die britische Zeitschrift »Aufheben« hat den Text »Arabischer Frühling im Herbst des Kapitals« (Kosmoprolet 3) veröffentlicht und ihm einige kurze Anmerkungen vorangestellt, die wir hier dokumentieren, ebenso wie ein Postskriptum, das auf Wunsch von »Aufheben« im Sommer 2012 verfasst wurde.

Wir veröffentlichen diesen Text, weil er unseres Erachtens eine aufschlussreiche und stellenweise prägnante Analyse dessen bietet, was inzwischen als ›arabischer Frühling‹ bekannt ist. Er widerspricht den begeisterten Darstellungen sowohl von Liberalen, die den arabischen Frühling als eine Serie von bürgerlichen Revolutionen verstehen, die zu parlamentarischer Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Privateigentum führen werden, als auch von Autonomen1 und Linken, die die Aufstände in der arabischen Welt als Ausdruck einer entstehenden amorphen globalen und antikapitalistischen Bewegung deuten.

Allerdings haben wir, wie sich vermutlich von selbst versteht, einige Vorbehalte. Im Folgenden ein paar Beispiele.

Erstens – auf die Gefahr hin, den Krieg zu erwähnen2 – ist es für Leser außerhalb Deutschlands erstaunlich, dass die Autoren der ›antideutschen deutschen Linken‹ ihren Respekt zollen. Das zwingt sie offenbar dazu, eine proisraelische Haltung einzunehmen – vermutlich aus Angst davor, als antisemitisch denunziert zu werden. En passant wird uns so das Bild eines tapferen kleinen Israel präsentiert, das es immer wieder mit einem Goliath in Gestalt mächtiger arabischer Staaten aufnimmt und ihn besiegt. Der Versuch, eine »kommunistische Kritik« des Zionismus, verstanden als bloße Ideologie nationaler Befreiung, von der »notwendig antisemitischen Kritik«3 des Zionismus zu unterscheiden, wie die Linke sie vertritt, scheint uns zu einfach, wenn nicht gar schwach zu sein. Allerdings ist die Frage Israels und des Zionismus für die wesentliche Argumentation des Textes eher nebensächlich. Sie ändert sicherlich nichts an der wichtigen Beobachtung der Autoren, dass die Palästinafrage – zur Überraschung und Bestürzung großer Teile der Linken – für die Bewegungen des arabischen Frühling bislang kaum ein Thema gewesen ist.

Zweitens scheint uns, dass sie in ihrer Analyse der Klassenzusammensetzung der arabischen Welt die Bedeutung des Kleinbürgertums übergehen, zumal in der Form, wie es im Bazaar organisiert ist. Unseres Erachtens ist das Kleinbürgertum, insbesondere in seinem Verhältnis zur proletarisierten Überschussbevölkerung, in der Geschichte des Nahen Ostens von entscheidender Bedeutung gewesen – etwa für den Sieg des Islamismus in der iranischen Revolution von 1979 und für die baathistischen Revolutionen der 1950er Jahre. Es dürfte auch für die Entwicklung des arabischen Frühling eine starke Determinante sein.

Der dritte, vielleicht wichtigere Punkt ist die Vorstellung eines Niedergangs des Kapitalismus
(oder des Kapitalverhältnisses, wie die Autoren formulieren), die den Rahmen des Textes bildet. Am deutlichsten wird dies im Titel – »Arabischer Frühling im Herbst des Kapitals« – und am Ende des Postskriptums, aber implizit durchzieht diese Vorstellung den gesamten Text. Sie scheint sich auf die Tatsache einer umfassenden Proletarisierung und Erzeugung von Überschussbevölkerung sowohl im Nahen Osten wie weltweit zu stützen. Aus Sicht der »Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft« hat dies offenbar die Voraussetzungen für weltweiten Kommunismus geschaffen. Auch wenn hier nicht der Ort für eine eingehende Auseinandersetzung mit dieser Frage ist – und wir offen gestanden auch nicht wissen, welche Theorie ihrer Annahme eines Niedergangs zugrundeliegt –, wollen wir anmerken, dass selbst dann, wenn eine solche Proletarisierung und Erzeugung von Überschussbevölkerung eine notwendige Voraussetzung für das Ende des »Kapitalverhältnisses« sein sollte, sie gewiss keine hinreichende ist.

An scholastischen Beweisen für die Existenz Gottes oder die abstrakte Möglichkeit des Kommunismus, wie sie in dem üblich geworden sind, was heute als Linksradikalismus gilt, haben wir in der Tat kein Interesse – zumal in einer Zeit, in der ein universales Kalifat weitaus wahrscheinlicher ist als weltweiter Kommunismus. Was uns an diesem Text vielmehr interessant schien, ist der Versuch einer ernsthaften Analyse der konkreten Situation im Nahen Osten, aus der das Phänomen des arabischen Frühling entstanden ist. Einen guten Ausgangspunkt für die Debatte bietet er allemal.

Aufheben (Brighton), Juli 2012

  • 1. Anm. d. Ü.: »Autonomists« sind nicht wirklich dasselbe wie die deutschen »Autonomen«; gemeint ist eine eher subjektivistische, das Verhalten des Proletariats betonende Spielart des Marxismus, die sich vor allem aus dem italienischen Operaismus entwickelt hat.
  • 2. Anm. d. Ü.: Anspielung auf eine legendäre Folge der Fernsehserie Fawlty Towers, in der der Hotelinhaber (John Cleese) verzweifelt bemüht ist, gegenüber seinen deutschen Gästen nicht den Krieg zu erwähnen, es aber trotzdem zum Eklat kommt. Don’t mention the war ist in England zu einem geflügelten Wort geworden.
  • 3. Anm. d. Ü.: Dies ist kein Zitat aus dem hier diskutierten Text.