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Wider den Rassismus und die abstrakte Gleichheit der Menschen

16. März 2015
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Eiszeit hat an einer antirassistischen Kundgebung in Zürich folgende Flugschrift über den Zusammenhang von Rassismus und der Ideologie seiner üblichen Gegner verteilt

Die Biologisierung oder Kulturalisierung gesellschaftlich produzierter Phänomene und Differenzen ist ideologischer und höchst gefährlicher Unsinn. Egal ob man die Ungleichheit pseudowissenschaftlich direkt mit der Natur oder aber, etwas moderner, die bestimmte Kultur zu etwas Unveränderlichem erklärt, beides ist die ideologische Legitimierung und Verdopplung gesellschaftlich hergestellter Differenzen und Praktiken. Dieses Denken steckt auch hinter den momentan landesweit anzutreffenden sozialchauvinistischen Aufwallungen. Wen auch immer je nach Konjunktur des Ressentiments der Hass der Aufgebrachten trifft – also auch wenn gegen die einheimische Unterschicht geschossen wird – von der Logik her ist das Denken mit dem rassistischen Vorurteil eng verwandt. Die gesellschaftlichen Phänomene werden biologistisch oder kulturalistisch verklärt. Man ist sich hier wohl einig: Der Rassismus – auch in seiner moderneren kulturalistischen Variante oder in seiner Abwandlung als Sozialchauvinismus – ist immer wieder tödlich und gehört auf den berühmten Müllhaufen der Geschichte. Einig ist man sich allerdings nicht, wie sich dies bewerkstelligen liesse. Die Organisierenden der heutigen Demonstration, die JUSO, wollen, dass «rechte oder sogar rechtsextreme Organisationen» den Leuten keinen Unsinn über Einwandererinnen mehr «einpflanzen» dürfen und dass alle Menschen «gleich viel wert» sind. Um dies zu erreichen, würden «die einen auf der Strasse, die anderen in den Parlamenten» kämpfen. Eine Kritik an der Konsequenz des Antirassismus der JUSO und ihrer Mutterpartei ist recht günstig zu haben. Vorerst reicht nur schon ein Blick auf die Geschichte der sozialdemokratischen Partei und ihre Rolle bei der Entwicklung der Migrations- und Ausländerpolitik und der Verschärfung des öffentlichen Diskurses durch einige ihrer prominenten Exponenten. Und da gibt’s wahrlich einiges zu finden, gerade wenn man den Begriff des Rassismus wie eingangs beschrieben etwas breiter fasst. Ergänzen kann man das Unterfangen durch die Analyse dessen, wie im Räderwerk der Parlamente politische Fragen verhandelt werden. Mit der Abschaffung jener Umstände, die den Rassismus notwendig hervorbringen, hat das nichts zu tun. Die antirassistische Verlautbarung der jungen Sozialdemokraten blamiert sich schon an der Praxis ihrer Mutterpartei. Aber bei diesen recht banalen Einsichten stehen zu bleiben, hiesse den Kern des Problems nicht mal zu streifen.

Den Rassismus «einpflanzen». Zur Reproduktion rassistischer Ideologie im Kapitalismus.

Der erste antirassistische Trugschluss ist, wie der Rassismus überhaupt in die Köpfe der Menschen kommt und dort massenhaft praktisch wirksam werden kann. Es sind – das wissen die Mitglieder der JUSO eigentlich auch – nicht rechte und rechtsextreme Organisationen, die den Rassismus den Menschen «einpflanzen». Auch nicht das politische Personal, das den Rassismus tatsächlich immer wieder als Spaltungsinstrument einsetzt. Es sind noch nicht mal die Massenmedien, die den besonders dreisten Fall des «Sozialbetrügers» verhundertfachen und sachgerecht mit dem nationalen Prädikat versehen oder bei der vielbeschworenen «Ausländerkriminalität» auch immer die neuste ganz schlimme Statistik zu publizieren wissen. Natürlich setzen die Medien bei der Jagd nach Auflage genauso wie die rechtsextremen Organisationen an einem rassistischen Bewusstsein an, aber – und das ist entscheidend – sie erschaffen es genauso wenig wie die politischen Hetzer der Schweizerischen Volkspartei.

Rassismus entspringt nicht aus einem Mangel an Informationen oder daraus, dass die falschen Informationen verbreitet würden. Vielmehr ist er zentral für die Durchsetzung der Zwänge und Normen des kapitalistischen Produktionsprozess‘ und der bürgerlichen Gesellschaft. Im Kapitalismus wird dem Einzelnen eine strenge (Arbeits-)Disziplin aufgezwungen, die er sich einverleiben muss, um in der allgegenwärtigen Konkurrenz bestehen zu können. Das weiss jeder, der in diesem recht tristen Land lebt und die täglichen Anforderungen – nicht nur in der Arbeitswelt – an sich selber durchsetzen muss. In der täglichen Konkurrenz wird jede gegen jeden geworfen und muss sich beständig gegen die anderen behaupten, im Wettkampf weiter dem Verwertungsbedürfnis des Kapitals entsprechen zu können. Bedürfnisse, die dem widersprechen, dürfen nicht eingestanden werden und werden häufig auf vorgestellte Kollektive projiziert. Man kennt das alles: «faule» und «kriminelle» «Sozialschmarotzer». Es ist für die Logik dieses sozialchauvinistischen Denkens nicht erheblich, welche konkrete Gruppe davon getroffen wird. Menschen, die dem Verwertungsimperativ des Kapitals aus welchen Gründen auch immer nicht entsprechen können, werden im rassistischen Denken abqualifiziert. Zudem ist gerade in Krisenzeiten die mit dem täglichen Kampf verbundene Angst vor dem sozialen Abstieg gross und das klassische Treten nach unten wird intensiviert. Der materielle Kern dieser Angst ist ja auch nicht ganz von der Hand zu weisen: In Krisen, die der Kapitalismus notwendig immer wieder produziert, treibt tatsächlich manche Menschen die schiere Existenzsorge um. Die vom Abstieg Bedrohten schauen mit Angst und Abscheu auf jene, die diese Gesellschaft noch unter ihnen einsortiert hat; auf jene, die bei der Segregation der Gesellschaft ein noch mieseres Los gezogen haben und deren Situation die eigene Zukunft darstellen könnte.

Die Spaltung der Gesellschaft – und der Klasse – wird vom Rassismus nicht geschafften, im Gegenteil: Er zieht daraus seine Kraft, sie sind seine materielle Basis. Das Bewusstsein der Rassisten kann sich nur entlang und aus der hierarchisierenden Spaltung entwickeln. Es ist nur aus der kapitalistischen Gesellschaft mit ihren Anforderungen und Parzellierungen selbst zu erklären1, so wie die Fixierung auf ein bestimmtes Objekt aus der gesellschaftlichen Lage der Betroffenen zu erklären ist. Darum ist das rassistische Bewusstsein auch nicht erfolgreich mit antirassistischen Kampagnen zu bekämpfen. Die rassistischen Spaltungslinien werden nur aufgeweicht im Kampf gegen die materiellen, realen Differenzen in der Zusammensetzung der Klasse. Ein Antirassismus als blosse Beanspruchung des Rechts auf abstrakte Gleichheit wird folgenlos bleiben. Mehr noch: Er ist der blosse Reflex des Ideals der bürgerlichen Gesellschaft, das sich in ihrem krisenhaften Realvollzug nie verwirklichen lässt. Und damit wären wir beim zweiten und etwas verwickelteren gängigen antirassistischen Missverständnis.

Jeder Mensch ist «gleich viel wert». Über ein Ideal der bürgerlichen Gesellschaft.

Eines ist klar: Der Staat ist im praktischen politischen Schalten und Walten ein gar schlechter Adressat für die antirassistischen Forderungen. Schliesslich ist er es, der die verschiedenen gesellschaftlichen Kategorien wie Ausländerin, Bürger oder Asylbewerberin politisch überhaupt ins Recht setzt. Er ist es, der erkennbare – auch vermeintliche – Nicht-Bürgerinnen auf seinem Hoheitsgebiet unter polizeiliche Überwachung stellt und sie immer wieder schikanieren lässt, sowie die nur bedingte Durchlässigkeit der nationalen Grenzen für Nicht-Bürgerinnen organisiert.2 Und er ist es auch, der in der Geschichte immer wieder darauf bauen musste, dass seine Bürger sich gegen die Bürger anderer Staaten in die Schlacht warfen – und sei es aktuell auch meist nur auf wirtschaftlichem Gebiet.

Der Staat macht aber auch etwas Anderes, Grundsätzlicheres: Er garantiert als Gewaltmonopolist die Gleichheit der Bürger als Rechtssubjekte. Die Gleichheit, die sich die bürgerlichen Revolutionärinnen einst auf die Fahnen schrieben, ist als juristische Gleichheit der Bürger verwirklicht. Das ist gerade eine Bedingung für das Funktionieren der regulären kapitalistischen Wirtschaft. Damit der freie Warentausch stattfinden kann, müssen sich rechtlich Gleiche gegenübertreten, die sich nicht gewaltsam aneignen, was sie verlangen; dass sich gerade dadurch die Ausbeutung vollzieht und auf der Ebene der Produktionssphäre die Gleichheit ein reines Gerücht ist, das steht auf einem anderen Blatt. Im praktischen Vollzug des Rechts gibt es natürlich immer wieder auch systematische Abweichungen, aber grundsätzlich ist die Rechtsgleichheit der Modus nach dem der kapitalistische Staat zumindest in seiner liberalen Verfassung operiert. Er garantiert als dritte Instanz – also nicht als direkter Partner im Warentausch – das Funktionieren des freien Tauschverkehrs zwischen rechtlich Gleichen. Der bürgerliche Staat erzwingt den Tauschverkehr nicht (er zwingt niemanden, seine Arbeitskraft oder sein Warenkapital zu verkaufen), sondern vermittelt den gesellschaftlich produzierten gemeinsamen Willen zum Tausch, indem er den Rahmen herstellt und über dessen Einhaltung wacht, sowie das Geld als Tauschmittel stiftet. Es ist gerade jene Neutralität gegenüber den Rechtssubjekten, die die Klassengesellschaft und den «stummen Zwang der Verhältnisse» (auch zum ewigen Verkauf der Arbeitskraft) garantiert. Und es ist auch jene Neutralität, die die Zwangsgewalt des Staates zur Instanz der freien und gleichen Warenbesitzer macht, deren Verfasstheit dem bürgerlichen Bewusstsein als naturgegeben erscheint. Die Organisatorinnen dieser Demonstration sind also gar nicht so weit vom Staat entfernt – das wollten sie auch nie sein – wenn sie einfordern, dass jeder Mensch «gleich viel wert» sei. Marxologen würden einen Kurzschluss von Warenform und Rechtsform monieren, aber so streng wollen wir mit der JUSO nicht sein. Sie fordern nur das ein, was der bürgerliche Staat seinen Bürgerinnen ohnehin zu garantieren tendiert. In der aktuellen Bundesverfassung ist unter Artikel acht zur Rechtsgleichheit zu lesen: «Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung.» Es ist klar, dass diese Garantie immer wieder brüchig wird und vom Staat im täglichen Vollzug immer mal wieder grosszügig übergangen wird, aber es stellt nicht weniger dar, als das Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft und die Geschäftsbedingungen eines im Liberalmodus funktionierenden Kapitalismus. Pfiffige Antirassistinnen sind rasch auf den Gedanken gekommen, dass der Staat diese Gleichheit – von der der Rassismus eine krasse Abweichung darstellt – immer nur seinen paar Bürgern garantiert und damit auch immer Ausschluss und Hierarchien organisiert. Darum ist dort, wo von Mitteln gegen den Rassismus die Rede ist auch schnell das Menschenrecht zur Hand. Dieses soll schliesslich die Gleichheit aller garantieren. Darum verbietet der zweite Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte die Diskriminierung aufgrund von «Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.» Denkbar wäre so etwas natürlich nur unter dem Diktat eines Weltstaates, denn wo kein Gewaltmonopolist das Recht mit Waffengewalt sanktioniert, bleibt es – als ein faktisches Durchsetzen des Stärkeren im Zweifelsfall – eine Ideologie weltvergessener Liberaler und damit ihre so innig geliebte Gleichheit eine hohle Phrase. Die Gleichheit ist schlicht ohne einen Staat nicht zu haben.

Die klassenlose Gesellschaft. Oder die Versöhnung der Differenz.

Die Menschen sind faktisch nicht gleich. Die Gleichmachung der Menschen erfolgt über die gedankliche und praktische Abstraktion von ihren konkreten Eigenschaften, die ihre Entsprechung im Warentausch der kapitalistischen Gesellschaft und der staatlich-juristischen Ausschaltung der Differenzen hat. Und diese Abstraktion von den besonderen Qualitäten der Menschen ermöglicht schliesslich erst ihre geistige Einsortierung in recht furchtbaren Kategorien durch die Rassistin: Was soll eine 20jährige linke Studentin aus Genf, die gerne Jazz hört mit einem SVP-Stammtischbauern aus dem Rheintal gemein haben, für den die samstägliche Jass-Runde das Grösste ist? Richtig: Nebst ihrer politischen Einsortierung als gleiche Staatsbürgerinnen sind sie für den Nationalisten erst mal Schweizer und Schweizerin. Was soll der halbherzig schiitische Proletarier, der sich mehr schlecht als recht in Teheran oder Berlin durchschlägt, mit Abu Bakr al-Baghdadi, dem Führer der salafistischen Mordbrenner vom IS, gemeinsam haben? Klar: Für die besorgten PEGIDA-Bürgerinnen sind beides Moslems. Dass die geistige Gleichsetzung durch politische Organisation, Sprache und Tradition eins ums andere Mal unterfüttert wird, ändert nichts an ihrer Dürftigkeit und daran, dass sie – wie der kapitalistische Tausch – von den besonderen Qualitäten des Betroffenen absieht. Die abstrakte Gleichheit erweist sich bei näherer Betrachtung gerade nicht als Gegenteil rassistischen Denkens, sondern als sein Komplement, das die kapitalistische Gesellschaft hervorbringt.

Die Abschaffung des Rassismus wäre eben gerade nicht die Verwirklichung jener abstrakten Gleichheit, die die Grundlage einer Gesellschaft darstellt, die den Rassismus notwendig reproduziert. Es ginge, um einen bei den meisten Kommunisten etwas in Verruf geratenen Professor zu zitieren, um «die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen». Und da soll man nochmals den Kommunistinnen vorwerfen, sie wollten alle gleich machen. Auch nicht sozial gleich – wie das verdrehte Verteidigerinnen der bürgerlichen Gesellschaft gerne illusorisch fordern und worauf sie sich angesichts der verwirklichten abstrakten Gleichheit herausreden werden, obwohl diese Vorstellung nur auf dem Boden der abstrakten Gleichheit gedeihen kann – es ginge gerade darum, dass in einer klassenlosen Gesellschaft jeder in seiner entwickelten Individualität nach Bedürfnis und Fähigkeit leben könnte, ohne als Individuum das schroffe Gegenteil von Gesellschaft zu sein.

Eiszeit

  • 1. Damit soll keine historische Erklärung des Rassismus geliefert werden. Diese wäre nur über eine Analyse der Kolonialpolitik und ihre rassistische Legitimation zu leisten. Und es soll auch nicht beweisen, dass kollektive Identitäten und Abwertung erst im Kapitalismus entstanden. Es ist lediglich ein Hinweis darauf, dass sich die rassistische Logik im Kapitalismus notwendig reproduziert.
  • 2. Um Missverständnissen vorzubeugen: Wenn Flüchtlinge für eine Anerkennung als Flüchtlinge oder das Bürgerrecht kämpfen, so ist das als Kampf um ein besseres Leben selbstverständlich zu unterstützen. Im Folgenden soll es aber um ein grundsätzliches Missverständnis des Antirassismus gehen.